Zusammenfassung
Der Aufsatz versucht darzustellen, wie sich in der Abfolge des ärztlichen Richtspruchs „Es ist ein Junge/Mädchen“, des gesellschaftlichen Zuspruches „Du bist ein& und des davon abgeleiteten Anspruches „Ich bin ein Mann / eine Frau“ sexuelle Identität herausbildet und beschreibt diese Herausbildung als Zusammenspiel von kulturellem Gedächtnis und individueller Erinnerung. Er konfrontiert diese Hervorbringung „ontologisch solider“ (Gesa Lindemann) Geschlechtsidentitäten mit transsexuellen Lebensläufen (vor allem am literarischen Beispiel von Virginia Woolfs Orlando), um an deren vermeintlicher „ontologischen Unsolidität“ die rhetorische Hervorgebrachtheit aller Geschlechtsidentitäten (und sexuellen Orientierungen) zu erweisen.
Abstract
The article tries to show how sexual identity is formed in the succession of the first sentence a human being is confronted with (“It’s a boy/girl“), the social demand “You are a &“, and the resulting claim “I am a man/woman“. It describes this formation as a co-operation of cultural memory and subjective recollection. The formation of gender identities, taken for ontological givens, is read against the background of transsexual biographies (as for example in Virginia Woolfs Orlando), and it can thus be shown, that gender identities (and sexual preferences) are mere rhetorical constructs.
Lieterature
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Daß personale Identität eine Folge des Erinnerns darstellt, beschreibt Woolf u. a. mit der Formulierung, daß das unser Inneres „ausmachende Sammelsurium nur lose von einem einzigen Faden zusamengeheftet“ sei: „Die Erinnerung ist die Näherin, und eine kapriziöse noch dazu“ (Virginia Woolf, Orlando. Eine Biographie, hrsg. Klaus Reichert, übers. Brigitte Walitzek, Fischer Taschenbuch 11331, Frankfurt a.M. 1992, 55); gleich anschließend wird die Erinnerung „unerklärlich“ (56) genannt und als Hure tituliert: „die Hure Erinnerung und ihr ganzes Gelumpe und Gesindel“ (56).
Jacques Derrida, Marx ‘Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Fischer Taschenbuch (Reihe: Zeitschriften) 12380, Frankfurt a.M. 1995, 27.
Marjorie Garber, Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frank¬furt a.M. 1993, 12.
Vgl. dazu Thomas Laqueur, Auf den Leih geschrieben. Die Inszenierung der Ge-schlechter von der Antike bis Freud, dtv-Taschenbuch 4696, München 1996, 143.
Vgl. Robert Stoller, Sex and Gender, 2 Bde., New York 1968, I: The Development of Masculinity and Feminitiy.
Vgl. Charles Socarides, „The Desire for Sexual Transformation: A Psychiatric Evaluation of Transsexualism“, American Journal of Psychiatry 125 (1969), 1419–1425.
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein, Fischer Taschenbuch 2116, Frankfurt a.M. 1981, 85.
In dieser Vorlesungsreihe äußert sich Woolf zum ihr gestellten Thema „Frauen und Fiction“ wie folgt: „Der Titel,Frauen und Fiction ‘konnte bedeuten... Frauen und wie sie sind; oder er könnte bedeuten, Frauen und die Fiction, die sie schreiben; und er könnte bedeuten, Frauen und die Fiction, die über sie geschrieben wird; oder er könnte bedeuten, daß alle diese Fragen irgendwie unentwirrbar miteinander verbunden sind“ (7). Die Vorlesungen entfalten den angedeuteten Zusammenhang. Die radikalste ihrer Thesen stellt Woolf jedoch unscheinbar an den Anfang ihrer Trias: „Frauen und Fiction“ konnte bedeuten „Frauen und wie sie sind“; m.a. W.: Frauen sind Fiction. Nun ließe sich solche Fiktionalität darauf beziehen, daß die Kategorie „Frau“ eben eine Kategorie ist, die Männer als ihr anderes geschaffen und mit allen möglichen Fiktionen ausgestattet haben; mit Silvia Bovenschen zu reden: ausgestattet mit einer immer nur „imaginierten Weiblichkeit“ (vgl. Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen Fräsentationsformen des Weiblichen, edition suhrkamp 921, Frankfurt a.M. 1979). Spätestens mit dem Orlando rückt jedoch die mögliche Fiktionalität jeglicher Geschlechtsidentität in den Blick.
Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 16 f.
Jacques le Goff hat von den Juden einmal als dem „Volk der Erinnerung par excellence“ (Jacques le Goff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a.M., New York 1992, 104) gesprochen. Ich kann hier nur kurz darauf verweisen, daß die jüdische Bar-Mizwah einen klar definierten Übergang vom Jungen, vom Knaben zum Mann benennt und im Vorlesen bzw. freien Vortragen aus der Torah die Gedächtniskraft des Jungen prüft (vgl. David D. Gilmore, Mythos Mann. Wie Männer gemacht werden. Rollen. Rituale, Leitbilder, dtv-Taschenbuch 30354, München 1993, 139 ff.).
Dazu gehört, daß in der jüdischen Tradition das Erinnern männlich, das Vergessen weiblich konnotiert ist; Jacob Taubes schreibt dazu: „Das Gedächtnis ist das positive Prinzip, ihm steht das Vergessen als negatives Prinzip gegenüber. Das Gedächtnis ist in Israel dem männlichen Pol zugeordnet, während das Vergessen dem weiblichen Pole entspricht. Sikaron, Gedächtnis, ist mit sakar = männlich, und nakab = durchlöchern, sieben, ist mit nkeba = weiblich verwandt“ (Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947, 13).
Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles (3.122), hrsg. und übers. Karl Allgaier, Darmstadt 1996, III, 195–202.
Wolfgang Trillhaas, Sexualethik, Göttingen 1969, 72 f.
Zit. nach: Volker Sommer, Wider die Natur? Homosexualität und Evolution, München 1990, 165.
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Hans Henny Jahnn, Jeden ereilt es, in: ders., Späte Prosa, Werke in Einzelbänden, Hamburger Ausgabe, Hamburg 1987, 5–185, hier: 122 f.
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Weinberg, M. What Makes A (Wo)man a (Wo)man?. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 72 (Suppl 1), 174–192 (1998). https://doi.org/10.1007/BF03375522
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