Zusammenfassung
Loth ist kein Schurke, sondern ein auffassungsschwacher Mensch und Wissenschaftler. Helene Krause hat einen fatal unzutreffenden Verdacht über die Gründe, aus welchen Loths Werbung um sie scheitern könnte. Dr. Schimmelpfennig praktiziert noch zu kurz in Witzdorf, um die Familiengeschichte seiner Patientin Martha Hoffmann richtig überblikken zu können. So hat Hauptmann — anders als die bisherige Interpretation es sah — seinen Erstling als Tragödie der Blindheit handelnder Menschen gestaltet. Bewußt oder unbewußt kommt er damit einigen Forderungen der aristotelischen Tragödienpoetik sehr nahe.
Abstract
Loth is not a villain, but a man and scholar of inadequate perception. Helene Krause entertains a fatally unjustified suspicion concerning the reasons why his courtship of her might fail. Dr Schimmelpfennig has not been practising long enough in Witzdorf to fully understand his patient Martha Hoffmann’s family history. Thus, in contrast to previous interpretations, Hauptmanns first play is conceived as a tragedy of human blindness. Consciously or unconsciously it therefore conforms very closely to the principles of Aristotelean tragedy.
Lieterature
Sigfrid Hoefert, Gerhart Hauptmann, 2. Aufl., Sammlung Metzler, Stuttgart 1974, 15–18.
Ursula Münchow (Hrsg.), Deutscher Naturalismus, Berlin-Ost 1968.
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Margaret Sinden, Gerhart Hauptmann. The Prose Plays, Toronto, London 1957, 24, und Coupe (Anm. 4), 16: “almost indecently anxious to make an impression on him”.
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So zu seinem Sekretär Erhart Kästner, zitiert bei Kurt Lothar Tank, Gerhart Hauptmann in Selbstzeugnissen und Dokumenten, rowohlts monographien 27, Hamburg 1959, 81.
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Schmidt (Anm. 19), 115. Seine Quelle ist Ernst Haeckels Generelle Morphologie der Organismen, Leipzig 1866, 2 Bde., dort: II, 186.
Schmidt (Anm. 19), 175. — Schon vorher hatte die Vererbbarkeit des Alkoholismus Prosper Lucas vertreten: in Traité philosophique et physiologique de l’hérédité naturelle dans les états de santé et de maladie du système nerveux, der zweibändig 1847–1850 erschien und nach Emanuel Radis Urteil, Geschichte der biologischen Theorien, Leipzig 1909, 394, trotz teilweise “phantastischen Materials” eine breite Aufnahme fand. — Zu wenig beachtet Schmidt die antidarwinistische Wiederbelebung von Lamarcks (1744–1829) Doktrin von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften.
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Zur Definition des ‘Melodrams’ vgl. Günther u. Irmgard Schweikle, Metzler Literaturlexikon, Stuttgart 1984, 281: “Vorrang schauriger und rührender Effekte vor einer glaubhaften Handlung”.
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… ein Umschlag vom … Glück ins Unglück, und der Grund dafür wird nicht Schurkerei sein, sondern ein folgenschweres Fehlverhalten… Aristoteles, Poetik, Über die Tragödie
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Zimmermann, R.C. Hauptmanns Vor Sonnenaufgang Melodram einer Trinkerfamilie oder Tragödie menschlicher Blindheit?. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 69, 494–511 (1995). https://doi.org/10.1007/BF03375477
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