Zusammenfassung
Im Vergleich mit Livius’ Ab urbe condita verweist das Motiv des Jungfrauenopfers in Lessings Emilia Galotti auf einen fundamentalen Wandel im Verhältnis von weiblichem Körper und politischem Körper. Anhand der Bedeutungen des „keuschen“, leeren Signifikanten ‚Emilia ‘im männlichen Diskurs läßt sich das tragische Schicksal der Titelheldin als Hysterisierung des weiblichen Körpers interpretieren.
Abstract
Compared with Livy’s Ab urbe condita the motive of the virgin sacrifice in Lessing’s Emilia Galotti displays a fundamental change in the relation of the female body and the body politic. The meanings that the “chaste”, empty signifier ‘Emilia’ takes in male discourse allow to characterize the tragic fate of the heroine as the making of a hysterical female.
Literature
Zu den Schwierigkeiten einer sozialpolitischen Deutung des Dramas im Hinblick auf den Antagonismus von Absolutismus und Bürgertum vgl. den kritischen Forschungsüberblick bei Karl S. Guthke, Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, 5., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar 1994, 79–86
eine die Methodik der sozialwissenschaftlichen Literaturwissenschaft reflektierende Interpretation von Lessings Emilia Galotti als dramatische Form der „Gesellschaftsanalyse“ findet sich bei: Karl Eibl, Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a.M. 1995, 97–111. Während die sozialpolitische Lessing-Forschung in der Regel versucht, den tragischen Tod der Heldin aus der politischen Konstellation des Dramas heraus zu erklären, möchte ich in meiner Analyse der Frage nachgehen, was dieser Opfertod für die Konzeption einer politischen Kultur überhaupt bedeutet.
Die meisten feministischen Interpretationen des Stücks stehen mehr oder weniger explizit in der Tradition bürgerlicher Ideologiekritik und deuten Emilias Opfertod als Folge unterschiedlicher Formen von patriarchalischer Repression. Vgl. exemplarisch: Karin Wurst, Familiale Liebe ist die ‚Wahre Gewalt‘: Die Repräsentation der Familie in G.E. Lessings Dramatischem Werk, Amsterdam 1988
eine ähnliche Stoßrichtung verfolgt die inhaltlich und methodisch differenziertere Studie von: Inge Stephan, „So ist die Tugend ein Gespenst: Frauenbild und Tugendbegriff im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller“, Lessing Yearbook 17 (1985), 1–20.
Vor dem Hintergrund der Gender studies gerieten in der neueren feministischen Lessing-Forschung zunehmend die ästhetischen Konstruktionsprinzipien von Weiblichkeit in seinem dramatischen Werk in den Blick: Vgl. dazu Susan E. Gustafson, Absent Mothers and Orphaned Fathers. Narcissism and Abjection in Lessing’s Aesthetic and Dramatic Production, Detroit (Michigan) 1995
Brigitte Prutti, Bild und Körper. Weibliche Präsenz und Geschlechterbeziehungen in Lessings Dramen: Emilia Galotti und Minna von Barnhelm, Würzburg 1996. Leider können es beide Interpretinnen in ihren beeindruckenden close readings der Emilia Galotti, auf die ich im Laufe meiner eigenen Analyse noch zurückkommen werde, nicht lassen, die Dramenfiguren gelegentlich auf die Couch zu legen und ihre Handlungsmotive einer Psychoanalyse zu unterziehen. Bisweilen fallen sie dadurch selbst in jene freudianischen Formen männlicher Bedeutungsproduktion zurück, die ihre Textanalysen so beispielhaft herausarbeiten. Vgl. auch Absatz VII meiner Ausführungen.
Vgl. Barbara Vinken, „Alle Menschen werden Brüder. Republik, Rhetorik, Differenz der Geschlechter“, Lendemains 71/72 (1993), 112–124.
Vgl. Melissa M. Matthes, The Rape of Lucretia and the Founding of Republics. Readings in Livy, Macchiavelli and Rousseau, University Park (Pennsylvania) 2000.
Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, Stuttgart 21986, 300ff.
Vgl. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Neuwied, Berlin 1969, 41ff.
Michel Foucault, „Des espaces autres“, in: ders., Dits et écrits 1954–1988, 4 Bde., hrsg. Daniel Defert, François Ewald, Paris 1994, IV, 752–762, hier: 755f.
Da zu diesem Thema bereits umfangreiche Untersuchungen vorliegen, beschränke ich mich auf diese grobe Aufzählung, und verweise auf die einschlägige Studie von Helmuth Kiesel, ‚Bei Hof, bei Höll‘. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979, vgl. v.a. 221–233.
Zur besseren Orientierung zitiere ich im laufenden Text mit römischer Akt- und arabischer Szenenangabe und ergänze diese Angaben durch die Seitenzahlen der folgenden Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, Werke, hrsg. Herbert G. Göpfert, 8 Bde., München 1971, II, 127–204.
Einen Überblick zu dieser Einschätzung der Figur des Prinzen in der Forschung gibt es in einem Exkurs zu Emilia Galotti bei Marianne Willems, Das Problem der Individualität als Herausforderung an die Semantik im Sturm und Drang. Studien zu Goethes ‚Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***‘, ‚Götz von Berlichingen ‘und ‚Clavigo‘ Tübingen 1995, 107–119, hier: 114ff.
Lessing in einem Brief an Friedrich Nicolai vom 21. Januar 1758, zitiert nach: Briefe von und an Lessing 1743–1770, hrsg. Helmuth Kiesel, Frankfurt a.M. 1987, 267.
Zu derartigen Forschungsansätzen vgl. die Übersicht bei Wilfried Barner et al., Lessing. Epoche — Werk — Wirkung. 5., neubearbeitete Aufl., München 1987, 207f.
Vgl. Friedrich Kittler, Dichter — Mutter — Kind, München 1991, 26ff.
Vgl. Michel Foucault, Histoire de la sexualité I: La volonté de savoir, Paris 1976, 140ff.
Vgl. Christopher Wild, „Der theatralische Schleier des Hymens. Lessings bürgerliches Trauerspiel Emilia Galotti“, DVjs 74 (2000), 189–220, hier: 193ff.
Daß die Ortsbezeichnung auch auf den realen Ort Sabbioneta verweist, muß dieser Interpretation im übrigen nicht entgegenstehen. Im Gegenteil spricht die Veränderung der realen Ortsbezeichnung ‚Sabbioneta ‘zu ‚Safrionetta ‘für eine graphische Annäherung an das Wort ‚Sabinerinnen‘. In der Regel geschehen derartige Korrekturen bei einem erklärten „Wortgrübler“ wie Lessing keineswegs zufällig. Zu Lessings Akribie in bezug auf die Namensgebung insbesondere in seinen Dramen vgl. Hendrik Birus, Poetische Namensgebung. Zur Bedeutung der Namen in Lessings ‚Nathan der Weise‘, Göttingen 1978, 59ff.
Vgl. Alexander Kosenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis ‘im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, v.a. 201ff.
Zu möglichen Techniken der Figurencharakterisierung vgl. die einschlägigen Ausführungen bei: Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, 9. Aufl., München 1997, 250ff.
Vgl. hierzu die glänzende rhetorische Lektüre von Gerhild Schulz, die das Schicksal der jungfräulichen Dramenheldin als Tragödie der klassischen Rhetorik interpretiert: Gerhild Schulz, Rhetorik im Zeichen sprachlicher Transparenz: Racine — Lessing, Dresden 2003, 172ff.
Da Lessing den Namen eines realen Schlosses namens Dosolo bewußt verändert hat, könnte in ‚Dosalo ‘durchaus das lateinische Wort ‚salum ‘(= offenes, bewegtes Meer) assoziiert sein. Solche und noch waghalsigere Etymologien der Namen in Emilia Galottifinden sich bei Richard Gerber, „Vom Geheimnis der Namen. Eine onomastische Studie über Lessings dramatisches Werk“, Neue Rundschau 76 (1965), 573–586, hier: 575ff.
Auf diesen wunden Punkt der Repräsentation von Vaterschaft bei Lessing hat David Wellbery hingewiesen: „Aber der Vater ist nicht nur der göttliche des Gesetzes, er ist auch der körperliche Repräsentant jener Instanz, und als solcher ist er anders als das Gesetz, verwundbar, gebunden, affektiv und biologisch, an die Geburt“. David E. Wellbery, „Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation“, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.), Was heißt ‚Darstellen‘?, Frankfurt a.M. 1994, 175–204, hier: 200.
Ruth K. Angress, „The Generations in Emilia Galotti“, Germanic Review 43 (1968), 15–23, hier: 21.
Vgl. Bernd Witte, „Die Paradoxien der Aufklärung. Gotthold E. Lessings Trauerspiel Emilia Galotti„, in: Gerhard Rupp (Hrsg.), Klassiker der deutschen Literatur. Epochen-Signaturen von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Würzburg 1999, 18–39, hier: 33.
Ludwig Börne, Rezension der Emilia Galotti in den Dramaturgischen Blättern (März 1819)
zitiert nach: Edward Dvoretzky, Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1755–1968, 2 Bde., Göppingen 1972, hier: I, 221f.
Wo das emanzipatorische Potential dieses gewaltsamen Todes liegen soll, den einige wenige Deutungen als heroischen Freitod und Ausdruck weiblicher Selbstbestimmung feiern, bleibt mir daher unklar. Vgl. Peter Pütz, Die Leistung der Form. Lessings Dramen, Frankfurt a.M. 1986, hier: 191ff.
Neil Falx, „From Portrait to Tableau Vivant: The Pictures of Emilia Galotti“, Eighteenth-Century Studies 19 no.1 (1985), 39–55, hier: 52.
Matthias Claudius, „Über Emilia Galotti“, Rezension im Wandsbecker Boten (April 1772), zitiert nach: Horst Steinmetz (Hrsg.), Lessing — ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland, Frankfurt a.M., Bonn 1969, 89.
Unter anderen Vorzeichen übernehmen auch Interpretationen, die Emilias Monolog als Verführung ihres Vaters und ihren Opfertod als Wunscherfüllung eines masochistischen, ödipalen Begehrens interpretieren, diese männliche Perspektive. Vgl. hierzu die bereits erwähnte Studie von Prutti ( Anm. 2), 118 ff., hier: v.a. 123; sowie den Aufsatz von Heidi M. Schlipphacke, „The Dialectic of Female Desire in G.E. Lessing’s Emilia Galotti“, Lessing Yearbook 33 (2001), 55–78. Emilias Geständnis, daß sie verführbar ist, läßt jedoch meines Erachtens keine eindeutigen Rückschlüsse über Ursprung und Natur ihres Begehrens oder gar die Identität eines potentiellen Verführers zu; die Frage, von wem Emilia verführt werden könnte, ist nicht aus dem Text heraus zu beantworten.
Vgl. Aurelius Augustinus, De Civitate Dei, 2 Bde., hrsg. Bernhard Dombart, Stuttgart 1981, I, 31 ff.
Der entsprechende Passus bei Augustinus ist nicht unbedingt äquivalent: „Sed quaedam, inquiunt, sanctae feminae tempore persecutionis, ut insectatores suae pudicitiae devitarent, in rapturum atque necaturum se fluvium proiecerunt eoque modo defunctae sunt earumque martyria in catholica ecclesia veneratione celeberrima frequentantur“ (ebd. 41). In deutschen Ausgaben wird diese Textstelle in der Regel wie folgt übersetzt: „Doch haben sich, sagt man, einige heilige Frauen in Verfolgungszeiten, um ihre Unschuld vor Angriffen zu retten, in die reißende Strömung der Flüsse geworfen und so ihren Tod gefunden; und doch wird ihr Märtyrertum in der katholischen Kirche verehrungsvoll gefeiert“ (Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat, 2 Bde., übersetzt von Wilhelm Thimme, München, Zürich 1978, I, 45; meine Hervorhebung).
Vgl. Ivan Nagel, „Selbstmord und Emanzipation. Über Augustins Lucretia und Lessings Emilia“, in: ders., Gedankengänge als Lebensläufe. Versuche über das 18. Jahrhundert, München 1987, 69–76, hier: 72.
Vgl. Juliane Vogel, Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ‚großen Szene ‘in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg i.Br. 2002, 146ff.
Zu dieser kompensatorischen Funktion literarischer Frauenleichen vgl. Elisabeth Bronfen, Over her dead body. Death, femininity and the aesthetic, Manchester 1992.
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Frömmer, J. Vom politischen Körper zur Körperpolitik: Männliche Rede und weibliche Keuschheit in Lessings Emilia Galotti. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 79, 169–195 (2005). https://doi.org/10.1007/BF03374700
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