Zusammenfassung
Kriegsgefangenschaft und Lagerhaft waren in der westdeutschen Literatur ein breit diskutiertes Thema. U.a. setzten sich Autoren aus dem engeren Umfeld der Gruppe 47 damit auseinander. Der Aufsatz erörtert eine zentrale apologetische Denkfigur des literarisch-publizistischen Lagerdiskurses: Die NS-Verbrechen werden relativiert, indem die Autoren das Lager zu einem allgemeinen Paradigma der Moderne erheben.
Abstract
Camp captivity and the fate of German POWs were a highly discussed topic in West German Literature. Amongst others, members of the Group 47 joined the literary discourse. The article reconsiders an essential exculpatory concept of that discourse: to comprehend the Nazi crimes in relative terms, the writers emphasize the Camp as a universal paradigm of modernity.
Literature
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955 [engl. EA 1951], 723.
Theodor W. Adorno, „Erziehung nach Auschwitz”, in: ders., Gesammelte Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft II, hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1977, X/2, 674–690, hier: 674/675.
Eugen Kogon, Der SS-Staat: Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946, V/VI.
Ernst Jünger, „Der Friede”, in: ders., Sämtliche Werke. Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, VII, 195–236, hier: 203.
Vgl. Joël Kotek, Pierre Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager: Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung, Berlin, München 2011, Zitat: 668.
Vgl. Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung: die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, Zitat: 108.
Vgl. Zygmunt Bauman, „Die Lager — östliche, westliche, moderne”, in: Dittmar Dahlmann, Gerhard Hirschfeld (Hrsg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation — Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999, 53–65, Zitate: 56, 61
Gerhard Armanski, Maschinen des Terrors: Das Lager (KZ und GULAG) in der Moderne, Münster 1993, Zitat: 187; vgl. Tzvetan Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993, 311ff.
Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer: Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002 [ital. EA 1995], hier: 180, 185.
Zu Agambens Auseinandersetzung mit Hannah Arendt vgl. Ingeborg Villinger, „Der Ausnahmezustand des Lagers — totalitäres Labor oder Paradigma der Moderne? Ein Vergleich von Hannah Arendt und Giorgio Agamben”, in: Janine Böckelmann, Frank Meier (Hrsg.), Die gouvernementale Maschine. Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens, Münster 2007, 149–165.
Robert G. Moeller, War Stories: The Search for a Usable Fast in the Federal Republic of Germany, Berkeley, Los Angeles 2001, 16.
Robert G. Moeller, „Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen — Kriegsgefangene, Vertriebene, NS-Verfolgte: Opferausgleich als Identitätspolitik”, in: Klaus Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, 29–58, hier: 48.
Vgl. Alfred Andersch, „Die Kriegsgefangenen — Licht und Schatten”, Der Ruf 1/ 5 (1946), 6–8, Zitat: 8.
Richard Hasemann, „Der Heimkehrer und seine Aufgabe in dieser Zeit”, in: VdA (Hrsg.), Kriegsgefangenschaft als Erlebnis und Aufgabe, Göppingen 1953, 3/4, hier: 4.
Vgl. Walter Warnach, „Die Welt des Schmerzes (1952)”, in: ders., Wege im Labyrinth: Schriften zur Zeit, hrsg. Klaus-Dieter Ulke, Pfullingen 1982, 164–311, 295: „Wirklich, wenn der gefangene Freund jetzt heimkehrte und uns fragte: ‚Washabt ihr mit fünf Jahren Nachkrieg gemacht?’ könnten wir da antworten? […] (Sie und die Toten dieses Krieges werden unsere Richter sein!).”
Paul Schallück, „Nacht und Nebel und eine Erklärung”, Frankfurter Hefte 11/6 (1956), 397.
Vgl. dazu Helmut Peitsch, „‚Warum das offizielle Westdeutschland, das mit den nationalsozialistischen Verbrechen nichts zu tun haben wolle, einen KZ-Film nicht ertragen könne’: ‚Vergangenheitsbewältigung’ im Protest der Gruppe 47”, in: Joanna Jablkowska, Malgorzata Polrola (Hrsg.), Engagement, Debatten, Skandale — Deutschsprachige Autoren als Zeitgenossen, Lodz 2002, 341–361.
Peter Reichel, Erfundene Erinnerung: Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München 2004, 142.
Theodor W. Adorno, „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit”, in: ders., Eingriffe: Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M. 1974, 125–146, hier: 127.
Ernst Jünger, Der Waldgang, Stuttgart 2001 [EA 1951], 36.
Vgl. dazu Eberhard Bahr, „Defensive Kompensation. Peter Bamm: Die unsicht bare Flagge (1952) und Heinz G. Konsalik: Der Arzt von Stalingrad (1956)”, in: Wagener (Anm.27), 199–211.
Fritz J. Raddatz, „Die ausgehaltene Realität”, in: Hans Werner Richter (Hrsg.), Almanack der Gruppe 47 (1947–1962), Reinbek 1962, 52–59, hier: 55; vgl. dazu Norman Ächtler, „Forciertes Vergessen. Eine systemtheoretische Perspektive auf das Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im westdeutschen Literatursystem der 1950er Jahre”, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 58 (2011), 399–412.
Hermann Reiber, „Die ‚total erfasste’ Persönlichkeit. Das Rätsel der kollektiven Daseinsform — Zur Typologie des Lagermenschen”, Die Zeit (31.07.1947), 4.
Erhart Kästner, Zeltbuch von Tumilad, Wiesbaden 1949, 109/110.
Gerhard Nebel, Bei den nördlichen Hesperiden: Tagebuch aus dem Jahre 1942, Wuppertal 1948, 6.
Edzard Schaper, Der Mensch in der Zelle: Dichtung und Deutung des gefangenen Menschen Ölten, Köln o.J. [1951], 20; vgl. ders., „Die Gefangenen”, Wort undWahrheit 8 (1953), 673–681, hier 681: „Wir sehen, daß seit den Tagen der vorchristlichen Reiche zum ersten Male wieder ganze Völker durch äußere Gewalt, die sie von der Kommunikation mit anderen Völkern, dem Austausch von Ideen und Erfahrungen abschnürt, zu Gefangenen gemacht werden.”
Vgl. Hans Schwab-Felisch, „Die Literatur der Obergefreiten”, Der Monat 4 (1952), 644–651, hier: 649.
Vgl. Hans Werner Richter, „Warum schweigt die junge Generation?”, Der Ruf II 2 (1946), 1/2.
Hans Werner Richter, „Die Wandlung des Sozialismus — und die junge Generation”, Der Ruf 1/6 (1946), 1.
Vgl. Markus Joch, „Vom Reservieren der Logenplätze: Das Dreieck Thiess — Mann — Andersch”, in: Hans-Gerd Winter (Hrsg.), „Uns selbst mussten wir misstrauen.” — Die „junge Generation” in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, Hamburg, München 2002, 67–79.
Hans Werner Richter (Hrsg.), Deine Söhne, Europa: Gedichte deutscher Kriegsgefangener, München 1985 [EA 1947], 9. Wie Erhard Schütz feststellt, ging die Sta-cheldraht-Ikonografie auch in den breiteren gesellschaftlichen Diskurs ein als „Schreckenszeichen der Moderne” (Schütz [Anm. 15], 193).
Albrecht Lehmann, Gefangenschaft und Heimkehr: Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, München 1986, 53.
Joseph Martin Bauer, So weit die Füße tragen, Gütersloh 1957 [EA 1955], 31; vgl. 28/29.
Joseph Scholmer, Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes aus Workuta, Köln, Berlin 1956 [EA 1954], 56, vgl. ebd., 65; vgl. Schwarz (Anm. 59), 48/49.
Des Weiteren im Lauftext zitierte Ausgabe: Richard Hasemann, Nasses Brot, Pfullingen 1952; vgl. ebd., 91, 164/165, 184, 417, 432. Auch Hans Bender betont dies in seinem Lagerroman Wunschkost (1959). Dort erklärt sich ein Wärter gegen über einem Gefangenen: „Ich habe bereits sieben Lager hinter mir, Straf brigade, Dunkelarrest, Gefängnis — und nun bewache ich selber die Arrestanten, weil sie mich zu sonst nichts mehr gebrauchen können. — Es ist in allen Lagern gleich, von Archan gelsk bis Astrachan, von Borowitschi bis Wladiwostok.” (Hans Bender, Wunschkost und Geschichten, München o.J., 91). Dass es sich bei diesen Beobachtungen um einen Teil der sozialen Realität des sowjetischen Lagersystems handelt, zeigt auch Stefan Kramer („Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager in Deutschland und in der Sowjetunion. Ansätze zu einem Vergleich von Lagern in totalitären Regimes”, in: Overmans [Anm. 46], 387–411, hier: 406). 66 Vgl. Gerhard Kurz, „Nullpunkt, Kahlschlag, tabula rasa: Zum Zusammenhang von Existenzialismus und Literatur in der Nachkriegszeit”, in: Annemarie Geth- mann-Siefert (Hrsg.), Philosophie und Poesie Bd. 2., Stuttgart 1988, 309–332; Mechtild Rahner, „Tout est neuf ici, tout est à recommencer…” Die Rezeption des französischen Existentialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands (1945–1949), Würzburg 1993.
Vgl. Siegfried Lenz, „Der Lagermensch (1955)”, in: ders., Beziehungen: Ansich ten und Bekenntnisse zur Literatur, Hamburg 1970, 77–83, Zitate: 77/78, 80/81, 83. Einen ähnlich existenzialistischen Grundton schlägt z. B. auch Günter Eich in seiner Dankrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden an, in der er die KZ-Metapher für einen vermeintlich globalen Zustand strapaziert: „Wir wollen [die innere Kraft des Menschen] als […] Kristallisationspunkt betrachten, an sie glauben und sie pflegen, dem Hohn jener Kommissare und Manager zum Trotz, die emsig bemüht sind, die Erde endgültig zum Konzentrationslager zu ordnen. Es könnte dann geschehen, daß insgeheim eine Kraft herangewachsen ist, die ihnen ihr Programm undurchführbar macht. […] da, wo wir lieben […], da helfen wir mit, jene Kräfte zu stärken, die einmal das große KZ und den großen Friedhof Welt unmöglich machen werden.“
Günter Eich, „Rede vor den Kriegsblinden [1953]”, in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. 1991, IV, 609–612, Zitate: 610/611, 612.
Heinz G. Konsalik, Der Arzt von Stalingrad, München 1956, 102.
Wolfgang Rohner, „Darstellung des Krieges”, Neue Literarische Welt 41A (1953), 12.
Michael Hofmann, „Im Zwielicht des Erlebnisses: Neuanfang und Abwehr von Verantwortung im Nachkrieg — Zu Hans Werner Richter”, in: Klaus-Michael Bogdal u.a. (Hrsg.), Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart, Weimar 2007, 147–158, hier: 158.
Hans Wagener, „Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen: Kriegsromane und — agebücher”, in: ders. (Hrsg.), Gegenwartsliteratur und Drittes Reich: Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Stuttgart 1977, 241–264, hier: 261.
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Ächtler, N. Das Lager als Paradigma der Moderne Der Kriegsgefangenendiskurs in der westdeutschen Nachkriegsliteratur (1946–1966). Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 87, 264–294 (2013). https://doi.org/10.1007/BF03374678
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