Das über Wagner Gedachte steht wie unter einem Bann. Der Geist hat ihm gegenüber die Freiheit noch nicht gewonnen. Theodor W. Adorno1
Eu’r Urteil, dünkt mich, wäre reifer, hörtet ihr besser zu. Die Meistersinger, I, 3
Zusammenfassung
Untersucht werden die Beziehungen von Wagners Oper Die Meistersinger zu dem Märchen vom Juden im Dorn; sie bilden den Kern des von T.W. Adorno kanonisierten Antisemitismus-Verdachts. Die Analyse bestätigt eine intertextuelle Bezugnahme auf das Märchen in Walthers Probelied, erweist jedoch die daran anknüpfenden Spekulationen als unhaltbar.
Abstract
A critical examination of T.W. Adorno’s thesis concerning the antisemitic agenda of Wagner’s Meistersinger that focuses on the opera’s purported affinity to the fairy-tale, The ]ew in the Brambles. The analysis, while confirming an intertextual allusion in Walther’s trial song, refutes Adorno’s far-reaching claims regarding the opera’s anti-semitism.
Literature
Theodor W. Adorno, “Selbstanzeige des Essaybuches ‘Versuch über Wagner’”, Gesammelte Schriften, hrsg. Gretel Adorno, Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1971, XIII, 504.
Joachim Kaiser, “Die Bayreuther Revolution in Permanenz” (zuerst 1964), in: Attila Csámpai, Dieter Holland (Hrsg.), Richard Wagner. Die Meistersinger von Nürnberg. Texte y Materialien, Kommentare, Reinbek 1981, 191.
Vgl. dazu Joachim Radkau, “Richard Wagners Erlösung vom Faschismus durch die Emigration”, Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 3 (1985), 71–105.
Nachschrift zu einer Wagner-Diskussion, XVI, 668. In welchem Maße die Position Adornos Allgemeingut geworden ist, belegt u.a. das Nachwort zu der Reclam-Ausgabe der Oper: “Auf der Festwiese steht Beckmesser als das verkörperte Judentum in der Musik(so der Titel von Wagners Traktat 1850), ein ‘Jude im Dorn’, wie ihn Theodor W. Adorno nach dem Märchen der Brüder Grimm genannt hat” (Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, hrsg. Wilhelm Zentner, Nachwort von Ulrich Karthaus, Stuttgart 1984, 109).
Vgl. René Girard, The Scapegoat, tr. Yvonne Freccero, Baltimore 1986.
Hartmut Zelinsky, “Die ‘feuerkur’ des Richard Wagner oder die ‘neue religion’ der ‘Erlösung’ durch ‘Vernichtung‘”, Richard Wagner. Wie antisemitisch darf ein Künstler sein? Musik-Konzepte 5, München 1978, 79–112, hier: 97. Vgl. ders., Richard Wagner — ein deutsches Thema. Eine Dokumentation der Wirkungsgeschichte Richard Wagners 1876–1976, Frankfurt a.M. 1976; “Rettung ins Ungenaue. Zu Martin Gregor-Dellins Wagner-Biographie”, Richard Wagner. Parsifal, Musik-Konzepte 25, München 1982, 74–115; Sieg oder Untergang: Sieg und Untergang. Kaiser Wilhelm IL, die Werk-Idee Richard Wagners und der “Weltkampf, München 1990.
Dieter Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners. Idee — Dichtung — Wirkung, Stuttgart 1982.
Jacob Katz, Richard Wagner-, Vorbote des Antisemitismus, Königstein 1985.
Dieter Borchmeyer, “Wagner und der Antisemitismus”, in: Ulrich Müller, Peter Wapnewski (Hrsg.), Richard-Wagner-Handbuch, Stuttgart 1986, 137–161, hier: 137.
Vgl. Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Theory and Theatre, tr. by Stewart Spencer, Oxford 1991, 408.
Barry Millington, “Nuremberg Trial: Is there anti-semitism in ‘Die Meistersinger?‘” Cambridge Opera Journal 3 (1991), hier: 247.
Vgl. Barry Millington, Wagner. Revised Edition, Princeton, NJ 1992, 252–255; ders. (Hrsg.), The Wagner Compendium. A Guide to Wagner’s Life and Music, London 1992, 161–164,301–305.
Neben dem oben genannten Wagner-Buch ist hier vor allem der große historische Abriß von Jacob Katz zu nennen: Front Prejudice to Destruction. Anti-Semitism 1700–1933, Cambridge, Ma. 1980. Der jüngste deutsche Beitrag zum Thema Wagner und der Antisemitismus wird der zentralen These Adornos über den antisemitischen Gehalt der Wagner-Opern kaum gerecht. Der Autor zählt sie “zu den Widersprüchen Adornos”, den er unbegreiflicherweise ins Lager der den Antisemitismus verneinenden Wagner-Apologeten versetzt, und geht der Auseinandersetzung damit aus dem Weg; die von Adorno betonte Affinität zum Märchen vom Juden im Dorn wird einfach ignoriert. Dieter David Scholz, Richard Wagners Antisemitismus, Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften 95, Würzburg 1993, 104, 113–119.
Paul Lawrence Rose, Wagner. Race and Revolution, New Haven, London 1992, 111, 170.
Vgl. auch Marc A. Weiner, “Wagner and the Vocal Iconography of Race and Nation”, in: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hrsg.), Re-Reading Wagner, Monatshefte Occasional Volume 13, Madison, Wisconsin 1993, 78–102, der kurzerhand als selbstverständlich voraussetzt, was erst noch zu beweisen wäre, nämlich daß Beckmesser “universally recognized [sei] as a caricature of a Jew” (78).
Die einläßlichste Analyse von KHM 110 in der neueren wissenschaftlichen Literatur findet sich in dem Kapitel “Work, Money, and Anti-Semitism” bei Ruth B. Bottigheimer, Grimm’s Bad Girls and Bold Boys. The Moral and Social Vision of the Tales, New Haven, London 1987,123–142.
Vgl. auch Maria M. Tatar, The Hard Facts of the Grimm’s Fairy Tales, Princeton, NJ 1987.
Vgl. dazu die Artikel “Antisemitismus” von Venetia Newall und “Diskriminierung” von Klaus F. Geiger in: Kurt Ranke et al. (Hrsg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwör terbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Berlin 1977ff.; Leander Petzoldt, “Der ewige Verlierer. Das Bild des Juden in der deutschen Volksliteratur”, in: L. Petzoldt, Märchen, Mythos, Sage. Beiträge zur Literatur und Volksdichtung, Marburg 1989, 35–65.
Gisela Just, Magische Musik im Märchen. Untersuchungen zur Funktion magischen Singens und Spielens in Volkserzählungen, Artes Populäres 20, Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1991, 11–14
29–32, betrachtet KHM 110 unter der Kategorie “Magischer Tanz” (nach Antti Aarne, Stith Thompson, The Types of the Folktale, Helsinki 1961) und bemerkt: “So leistet das Zauberinstrument hier dem Antisemitismus Vorschub” (30).
Vgl. auch Leopold Schmidt, “Kulturgeschichtliche Gedanken zur Musik im Märchen”, Musikerziehung 3 (1950), 144–148.
Arnold Zweig, “Der Jude im Dorn”, Die neue Weltbühne 32 (1936), 717–721, 744–747, spricht von einer “Ersatzbefriedigung der verdrängten Rachewünsche an der Ersatzgestalt” (720).
Vgl. dazu die Artikel “Salz” in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1893; Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, hrsg. Karl F.W. Wander, Leipzig 1876, 2. Aufl. 1964; Preußische Sprichwörter und volkstümliche Redensarten, gesammelt und hrsg. Hermann Frischbier, Berlin 1865; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. Hanns Bächtold-Stäubli, Berlin, Leipzig 1936, 2. Aufl. 1987.
Eine bemerkenswerte Herleitung der Redensart bietet Oswald Robert Kirchner, Parömiologische Studien, hrsg. und eingel. Wolfgang Mieder, Sprichwörterforschung 3, Bern, Frankfurt a.M., New York 1984, 91 f., 235f.: “Richtig entlehnt Frenzel im D. Sprachwart Jhg. IV 1869, No 4, S. 57 die Entstehung dieser Redensart von der Behandlung des Blutegels, den man, um ihn zur Entlassung des eigensogenen Blutes zu nöthigen, mit Salz bestreut und zwar besonders reichlich auf dem Schwänze.”
Vgl. dazu Heinz Rölleke (Hrsg.), “Redensarten des Volks, auf die ich immer horche”. Das Sprichwort in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Sprichwörterforschung 11, Bern, Frankfurt a.M., New York, Paris 1988
Wolfgang Mieder, “‘Ever Eager to Incorporate Folk Proverbs’: Wilhelm Grimm’s Proverbial Additions in the Fairy Tales”, in: James M. McGlathery (Hrsg.), The Brothers Grimm and Folktale, Urbana, IL, Chicago 1991, 112–132.
Josef Prestel, Märchen als Lebensdichtung, München 1938, 81
zit.n. Ulrike Bastian, Die “Kinder- und Hausmärchen” der Brüder Grimm in der literaturpädagogischen Diskussion des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1981, 162.
Louis L. Snyder, Roots of German Nationalism, Bloomington, In., London 1978, 51.
Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, neu bearb. Johannes Bolte, Georg Polivka, 5 Bde., Leipzig 1913ff., 2. Aufl., Hildesheim 1963, II, 490–503. Neudruck des Textes von Albrecht Dietrich bei Johannes Bolte, “Das Märchen vom Tanze des Mönches im Dornbusch”, in: Julius Zupitza (Hrsg.), Festschrift zur Begrüßung des fünften allgemeinen deutschen Neuphilologentages zu Berlin, Pfingsten 1892, Berlin 1892, 1–76, hier: 57–69.
Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in ihrer Urgestalt, hrsg. Friedrich Panzer, München 1913, 140–144.
Vgl. dazu den überaus aufschlußreichen Paralleldruck der 1. und 3. Fassung von KHM 110 bei Hermann Hamann, Die literarischen Vorlagen der Kinder- und Hausmär chen und ihre Bearbeitung durch die Brüder Grimm, Palaestra 47, Berlin 1906, 141–146.
Vgl. dazu neben Hamann (Anm. 42), Kurt Schmidt, Die Entwicklung der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen seit der Urhandschrift nebst einem kritischen Texte der in die Drucke übergegangenen Stücke, Finsterwalde 1931.
Vgl. dazu besonders John M. Ellis, One Fairy Story Too Many, Chicago 1983; Ruth B. Bottigheimer, “From Gold to Guilt. The Forces Which Reshaped Grimms’ Tales”, in: The Brothers Grimm and Folktale (Anm. 35), 192—204; Jack Zipes, “Dreams of a Better Bourgeois Life. The Psychologial Origins of the Grimms’ Tales”, ebd., 205–219.
“Vorrede” (1815), Jacob und Wilhelm Grimm. Eine Lesebuch für unsere Zeit, hrsg. Ruth Reiher, Berlin 1993, 200.
Vgl. dazu Carl Dahlhaus, “Die Musikgeschichte Österreichs und die Idee der deut schen Musik”, in: Robert A. Kann, Friedrich E. Prinz (Hrsg.), Deutschland und Öster reich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, Wien, München 1979, 322–349
Fred K. Prieberg, “Tonkunst — deutsch bis ins Mark”, in: ders., Musik im NS-Staat, Frankfurt a.M. 1982, 107–143.
Vgl. Alfred D. Low, Jews in the Eyes of the Germans. From the Enlightenment to Imperial Germany, Philadelphia 1979, 359ff.; Katz (Anm. 16), 15ff.; Borchmeyer (Anm. 17), 137ff.
Sander Gilman, Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore 1986, 211ff.
Carl Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, Velber 1971, 125f.
Richard Wagner, Sämtliche Briefe, hrsg. Gertrud Strobel, Werner Wolf, Leipzig 1979, IV, 43. Vgl. Heinz Rölleke, “Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Zu Überlieferung und Bedeutung des KHM 4”, Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 20 (1979), 193–204, hier: 199f.
Jacob Grimm, Über den altdeutschen Meistergesang, Leipzig 1809
freilich holte sich Wagner bei Jacob Grimm die Bestätigung eines Grundgedankens der Meistersinger-Kon zeption: die Genealogie des Meistergesangs aus dem Minnesang. Vgl. dazu Jacob Grimm, Etwas über Meister- und Minnesang und Beweis dasz der Minnesang Meistergesang ist, Kleinere Schriften, Berlin 1869, IV, 7–9, 12–21.
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Kritische Studienausgabe in 15 Bän den, hrsg. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 1980, V, 180.
Vgl. Peter Gay, “For Beckmesser, Eduard Hanslick, Victim and Prophet”, in: ders., Freud, Jews and Other Germans. Masters and Victims of Modernist Culture, New York 1978, 257–277
Peter Wapnewski, Tristan der Held Richard Wagners, Berlin 1981, 33–49.
Millington (Anm. 22), 25Iff. Zur Thematik der jüdischen Sakralmusik vgl. beson ders die Artikel “Hazzan” und “Music” in der Encyclopedia Judaica, Jerusalem 1971 f. sowie Abraham Z. Idelsohn, Jewish Music in Its Historical Development, New York 1944, 101–109, 471–477.
M. Owen Lee, “Some Metaphors in the Text of ‘Die Meistersinger‘”, in: Leroy R. Shaw (Hrsg.), Wagner in Retrospect. A Centennial Reappraisal, Amsterdam 1987, 63–69.
Zu dem geistreichen Spiel mit der Bar-Form vgl. Dahlhaus (Anm. 57), 78f.; Emil Platen, “Richard Wagner — Dichter oder Texter? Zur Dramaturgie der ‘Meistersinger’”, in: Helmut Loos, Günter Massenkeil (Hrsg.), Zu Richard Wagner. Acht Bonner Beiträge im Jubiläumsjahr 1983, Studium Generale 5, Bonn 1984, 75–100, hier: 82–85.
Zu der Szene 1,3 insgesamt vgl. bes. Paul Buck, Richard Wagners Meistersinger. Eine Führung durch das Werk, Quellen und Studien zur Musikgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart 22, Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1990, 989–120, hier: 103f.
Vgl. Verf., “Thomas Mann und Wagner. Zur Funktion des Leitmotivs in ‘Der Ring des Nibelungen’ und ‘Buddenbrooks‘”, in: Steven Paul Scher (Hrsg.), Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin 1984, 326–347.
Ich stütze mich hier in erster Linie auf rezeptionsästhetische Theoreme von Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970
und Manfred Naumann u.a., Gesellschaft, Literatur, Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin, Weimar 1975.
Von einem frühen Beispiel einer öffentlichen Kontroverse um den antisemitischen Gehalt der Meistersinger berichtet am 4. Juli 1869 das Tagebuch Cosima Wagners: “Von Mannheim erzählt [Hans] Richter, daß die Juden bei der 4ten Vorstellung die MSinger ausgepfiffen hätten, bei der 5ten aber hätte sich das Publikum nicht überrumpeln lassen und habe den lebhaftesten, freundlichsten Anteil genommen; wie ein paar Leute Israels zu zischen begonnen, sei ein Dr. Werther aufgestanden, habe ‘hepp, hepp’ gerufen, wobei die Zischer hinausgingen” (Cosima Wagner, Die Tagebücher, ed. und komment. Martin Gregor-Dellin, Dietrich Mack, München, Zürich 1982, I: 1869–1872, 122). An dieser Stelle möchte ich meinen Dank aussprechen für die stets bereitwillig gegebenen Auskünfte und Hinweise, die ich auf musikwissenschaftlichem Gebiet von Peter Bloom (Smith College), auf dem Feld der Märchenforschung von Wolfgang Mieder (University of Vermont) und in der Judaistik von Howard Adelman (Smith College) erhalten habe. Selbstredend sind sie für etwaige Fehler und Schwächen meiner Argumentation nicht verantwortlich.
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Vaget, H.R. Der Jude im Dorn oder: Wie antisemitisch sind Die Meistersinger von Nürnberg?. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 69, 271–299 (1995). https://doi.org/10.1007/BF03374567
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