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Wissenschaftstheorie und Erfahrung: Zur Überwindung des methodologischen Dogmatismus

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Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Die Wissenschaftstheorie stellt Normen für die Beurteilung der Wissenschaftspraxis zur Verfügung. Die übliche Unterscheidung von Normen und Tatsachen legt eine Auffassung von dem Verhältnis zwischen wissenschaftstheoretischen oder methodològischen Sätzen und Erfahrungssätzen nahe, die man den logischen Autonomieanspruch der Wissenschaftstheorie nennen könnte. Dieser Anspruch wird im vorliegenden Aufsatz einer kritischen Analyse unterzogen. Es wird insbesondere versucht zu zeigen, wie man methodologische Standards aufgrund von Erfahrungssätzen kritisieren kann. In diesem Zusammenhang wird auf entsprechende Ansätze in Poppers erkenntnistheoretischen und sozialphilosophischen Arbeiten verwiesen. Ferner werden anhand der wissenschaftshistorischen Analyse von Kuhn einige empirische Schwächen des Falsifikationismus aufgezeigt und Vorschläge für ihre Beseitigung angedeutet.

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Literatur

  1. Vgl. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 1967 (amerikanische Ausgabe 1962).

  2. I. Lakatos, Popper zum Abgrenzungs- und Induktionsproblem. In: Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie. Hrsg. von H. Lenk, Braunschweig 1971, S. 84. Für eine ausführliche Darlegung der Ideen von Lakatos siehe seinen Aufsatz „Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes“. In: Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. von I. Lakatos and A. Musgrave, Cambridge 1970, S. 91–195.

  3. Hier ist vor allem auf das Addendum „Facts, Standards, and Truth: A further Criticism of Relativism“ zur vierten Auflage von Poppers „The Open Society and its Enemies“ Bd. 2, London 1962, hinzuweisen.

  4. Vgl. W. W. Bartley, Flucht ins Engagement. Versuch einer Theorie des offenen Geistes. München 1964 (amerikanische Ausgabe 1962).

  5. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968.

  6. Traktat, S. 78.

  7. Für eine aufschlußreiche Darstellung der Problemverschiebungen des logischen Empirismus vgl. G. Radnitzky, Contemporary Schools of Metascience. Zweite, revidierte Auflage, Lund 1970. Bd. I: The Anglo-Saxon Schools of Metascience.

  8. Vgl. W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie. Bd. II: Theorie und Erfahrung. Heidelberg-New York 1970, S. 213ff.

  9. Stegmüller, Theorie und Erfahrung, a.a.O., S. 234. — Offenbar ist also theoretischer Fortschritt in den Realwissenschaften möglich, ohne daß die Erfahrungswissenschaftler ihre intuitiven Vorstellungen mehr als es für ihre Probleme erforderlich ist präzisieren und logisch absichern. Wenn das aber zutrifft, dann ist es einigermaßen verwunderlich, daß Stegmüller im Bereich der Wissenschaftstheorie alle Vorstellungen und Ideen in die Rumpelkammer „der Philosophie des gesunden Menschenverstandes“ verbannt, „solange keine formale Präzisierung der dabei entwickelten Gedanken erfolgt“. „Was Popper und seine Schüler tun“, sagt er weiter mit Bezug auf Poppers Idee der Bewährung, „bildet aber selbstverständlich noch keine Wissenschaftstheorie, sondern bestenfalls ein intuitives Vorstadium für eine solche“. Vgl. W. Stegmüller, Das Problem der Induktion : Humes Herausforderung und moderne Antworten. In: Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie, a.a.O., S. 30 und S. 31. — Ich muß gestehen, daß mir Poppers Idee der Bewährung mindestens ebenso klar und verständlich erscheint wie etwa die Dispositionsprädikate „magnetisch“, „verkehrswirtschaftlich“, „leistungsmotiviert“ etc.

  10. Man könnte etwa daran denken, daß die Flexibilität durchaus dem Arbeitsprogramm der empiristischen Philosophie entspricht, das nach Stegmüller darin besteht, „Begriffe zupräzisieren, eine exakte WissenschaftssPrache aufzubauen undKlarheit zu verschaffen über das Verfahren der Einzelwissenschaften“. Vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Vierte, erweiterte Auflage. Stuttgart 1969, S. 423, Hervorhebung von mir, W.M. — Möglicherweise sind viele Wissenschaftsphilosophen seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, wie Feyerabend meint, einfach friedlicher (oder ängstlicher?) geworden und viel eher bereit als etwa Mach, ihre Überlegungen an die jeweils neueste Mode im wissenschaftlichen Betrieb anzupassen. Vgl. P. K. Feyerabend, Wie wird man ein braver Empirist? Ein Aufruf zur Toleranz in der Erkenntnistheorie. In: L. Krüger (Hrsg.), Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Neue Wissenschaftliche Bibliothek. Köln und Berlin 1970, Anmerkung 43. Zur Rolle Machs siehe auch B. Juhos, Formen des Positivismus. „Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie“, Bd. II, Heft 1, 1971, S. 36f.

  11. Feyerabend, a.a.O., S. 313.

  12. Siehe dazu auch H. Albert, Kritizismus und Naturalismus. Die Überwindung des klassischen Rationalitätsmodells und das Überbrückungsproblem. In: Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie, a.a.O., vor allem S. 116ff.

  13. Vgl. K. R. Popper, Logik der Forschung. Zwiete, erweiterte Auflage. Tübingen 1966, S. 26.

  14. Popper, Logik der Forschung, a.a.O.

  15. Oder wie es Albert allgemein ausdrückt: „Bestimmte Wertüberzeugungen sind immer schon in Verbindung mit Erkenntnissen vorhanden, sie sind mit sachlichen Überzeugungen gleichsam ‚verwachsen‘.“ Albert, Traktat, a.a.O., S. 77.

  16. Für eine durchschlagende Kritik vgl. Popper, The Open Society and its Enemies, Vol. 2, a.a.O., Kap. 23.

  17. Vgl. P. Urban, Methodologie I: Regulativ der Einzelwissenschaften,Wirtschaftswoche, 1971, Heft 37, Rubrik: Kontaktstudium, S. 36f. — Einerseits hälft Urban eine empirische Kritik anbestimmten Erkenntnistheorien für möglich, wie im Text angedeutet, andererseits scheint er gleichzeitig Alberts Position nicht annehmen zu können, wenn er sagt: „Aber es erscheint fraglich, ob mit empirischen Aussagen erkenntnistheoretische Konzeptionen widerlegt werden könne.“ (S. 37). Dieser Widerspruch läßt sich vielleicht so erklären: Urban zeigt, daß die allgemeine These der Seinsgebundenheit des Denkens gegenüber den modernen Erkenntnistheorien, die Genese und Geltung trennen, nicht durchschlägt. Er glaubt vielleicht deshalb annehmen zu können, daßkein Argument, das soziale, vitale oder motivationale Aspekte des Erkenntnisprozesses in den Vordergrund stellt, gegenüber den modernen Erkenntnistheorien erfolgreich sein kann. Das ist m.E. ein Irrtum.

  18. Popper, The Open Society, Vol. 2, a.a.O., S. 235; Hervorhebung von mir, W.M.

  19. Es gibt einen Einwand, der darauf abstellt, daß die Kritik an erkenntnistheoretischen Normen mittels Sätzen der Erfahrungswissenschaften deshalb problematisch sein kann, weil die betreffenden erfahrungswissenschaftlichen Sätze ihrerseits auf dem erkenntnistheoretischen Programm beruhen, dessen Norman sie kritisieren sollen. Vgl. Urban, Wissenschaftstheorie (I): Regulativ der Einzelwissenschaften, a.a.O., S. 37. Das ist eine ähnliche Schwierigkeit, wie sie auch bei der Popperschen Falsifikationslehre besteht. (Wie läßt sich eine Theorie aufgrund von Beobachtungssätzen kritisieren, die etwa unter Verwendung eben dieser Theorie gemacht werden?). Die Wahrheit der Bassisätze läßt sich nicht positiv begründen. Trotzdem kann man ihnen qua Beschluß den Stachel der Kritikfähigkeit gegenüber Theorien verleihen. Es kommt — nach Popper — ja immer darauf an, Kritikherzustellen. Aber ebenso wie bei der Falsifikation von Theorien kann man doch auch bei der „Falsifikation“ von methodologischen Normen einen — natürlich nicht willkürlichen — Beschluß über die Wahrheit hier relevanter „Basissätze“ herbeiführen. Ich sehe da keinen Unterschied.

  20. Abgedruckt in: K. R. Popper, Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge. London 1963, S. 3–30.

  21. Nach Popper ist diese Anschauung problematisch, weil jeder Augenzeuge „must always make ample use, in his report, of his knowledge of persons, places, things, linguistic usages, social conventions, and so on. He cannot rely merely upon his eyes or ears .... But this fact must of course always raise the questions as to the sources of those elements of his knowledge which are not immediately observational“. Popper, Conjectures and Refutations, a.a.O., S. 22f. Das ist natürlich eine Anspielung auf den prinzipiell unendlichen Regreß, der sich bei der Verwendung von Allgemeinbegriffen zur Beschreibung von Beobachtungen wohl kaum umgehen läßt, wenn man letzte Begründungen will.

  22. Popper, Conjectures and Refutations, a.a.O., S. 16. Hervorhebung von mir, W.M.

  23. Popper ersetzt die epistemologische Frage „How do you know? What is the source of your assertion?“ durch die Frage „How can we hope to detect and eliminate error?“. Vgl. Popper, Conjectures and Refutations, a.a.O., S. 25.

  24. Diese Art des Vorgehens, nämlich nicht mit Normen gegen Fakten anzurennen, sondern aus den „Mängeln“ der menschlichen Existenz eine Tugend zu machen, findet man übrigens seit langem schon im ökonomischen Denken. Seit Adam Smith vertreten die Nationalökonomen überwiegend die Auffassung, daß der Wohlfahrt einer Gesellschaft nicht dadurch gedient wird, indem man die am „Eigennutz“ orientierten Handlungen der Individuen verbietet und Altruismus (soziales Bewußtsein) vorschreibt. Statt dessen schlagen sie vor, diesen „natürlichen“ Trieb menschlicher Handlungen durch ein System geeigneter juridischer Vorschriften (Wirtschaftsordnung) so zu kanslisieren, daß die Individuen bei der freien Verfolgung eigener Interessen gleichzeitig wichtige kollektive Ziele erfüllen helften, und zwar ohne ihre Absicht. — Man sieht hier im übrigen, wie die klassischen (liberalen) Nationalökonomen Poppers Sozialphilosophie, der „rule of institutions controlled by reason“ den Vorzug vor der „rule of love“ zu geben, gleichsam vorweggenommen haben. — Für einen umfassenden Versuch, die Idee einer freien Gesellschaft mit Hilfe der prinzipiellen Begrenzung des individuellen Wissens zu bregünden, vgl. F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit. Tübingen 1971 (englische Ausgabe 1960), besonders das zweite Kapitel: Die schöpferischen Kräfte einer freien Zivilisation.

  25. Stegmüller, Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten, a.a.O., S. 28.

  26. Ebenda, im Original hervorgehoben.

  27. Stegmüller, a.a.O., S. 29, im Original zum Teil hervorgehoben.

  28. K. R. Popper, Normal Science and its Dangers. In: Lakatos and Musgrave, Criticism and the Growth of Knowledge, a.a.O., S. 51.

  29. Vgl. K. R. Popper, Naturgesetze und theoretische Systeme. In: H. Albert (Hrsg.) Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Tübingen 1964, S. 88 und 99.

  30. In bezug auf das Gesetz der konstanten Proportionen bei chemischen Verbindungen sagt Kuhn: „Für Dalton war jede Reaktion, bei der die Bestandteile nicht in festen Proportionen auftraten,ipso facto kein rein chemischer Prozeß“. (Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a.a.O., S. 178.) Ferner sei oft beobachtet worden, „daß Newtons zweites Gesetz der Bewegung ... für jene, die der Newtonschen Theorie verbunden sind, sich ganz wie eine rein logische Feststellung ausnimmt, die keine noch so zahlreichen Beobachtungen widerlegen könnten“. (Kuhn, a.a.O., S. 112.) Auch Wisdom weist darauf hin, daß die Erfahrungswissenschaften voll von empirisch nicht ohne weiteres widerlegbaren Sätzen sind. Es handelt sich dabei um regulative oder heuristische Prinzipien. Als Beispiel nennt er u.a. das Erhaltungsgesetz der Energie. Vgl. J. O. Wisdom, The Refutability of „Irrefutable“ Laws. „The British Journal for the Philosophy of Science“, Vol. XIII (1963), S. 303ff.

  31. „Tatsächlich bezweifle ich“, sagt Kuhn, „daß die letzteren (nämlich falsifizierende Erfahrungen, W.M.) existieren“. Und weiter heiß es: „Wenn jeder einzelne Fehlschlag bei der Anpassung ein Grund für die Ablehnung einer Theorie wäre, müßten alle Theorien allezeit abgelehnt werden“ (Kuhn, a.a.O., S. 194). Vgl. auch die Bemerkungen von R. G. Swinburne (Falsifiability of Scientific Theories, Mind, Vol. 73 (1964), S. 334 ff.), der ebenfalls nachweist, daß die Naturforscher ihre Theorien nicht schon deshalb aufgegeben haben, nur weil einige wiederholbare Beobachtungen ihnen widersprachen.

  32. Popper, Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft. In: Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, a.a.O., S. 78, Hervorhebung von mir, W.M.

  33. K. R. Popper, The Poverty of Historicism. 2. Auflage, London 1961 (Paperback), S. 133.

  34. Vgl. R. M. Cyert, J. G. March, A Behavioral Theory of the Firm. Englewood Cliffs 1963, S. 121. W. Kirsch, Entscheidungsprozesse. Bd. I: Verhaltenswissenschaftliche Ansätze der Entscheidungstheorie. Wiesbaden 1970, S. 106. Siehe auch J. W. Atkinson, An Introduction to Motivation. London 1964, S. 259ff., wo gezeigt wird, daß die Art des Suchverhaltens entscheidend davon abhängt, ob das Erfolgsstreben oder das Motiv, Fehler zu vermeiden, dominiert. Nur im ersteren Fall kann man mit einem der Schwierigkeit der Situation angepaßten — also „rationalen“ — Suchverhalten rechnen.

  35. Vgl. Popper, Logik der Forschung, Abschnitt 85: Der Weg der Wissenschaft.

  36. Popper, Naturgesetze und theoretische Systeme, a.a.O., S. 100.

  37. Kuhn, a.a.O., S. 195.

  38. Vgl. Kuhn, a.a.O., Kapitel III.

  39. In diesem Zusammenhang ist jedenfalls zu beachten, daß Popper die von Kuhn getroffene Unterscheidung zwischen normaler und außerordentlicher Wissenschaft für sehr bedeutsam hält. Vgl. Popper, Normal Science and its Dangers, a.a.O., S. 52.

  40. Lakatos nennt sein Vorgehen bei der Formulierung von methodologischen Regeln „quasi-empirisch“ und Poppers Ansatz „aprioristisch“. Vgl. Lakatos, Popper zum Abgrenzungs-und Induktionsproblem, a.a.O., S. 91.

  41. Lakatos, a.a.O., S. 86.

  42. Diese zugelassenen Ausweichmanöver entsprechen weitgehend Poppers Kriterien des Erkenntnisfortschritts in seinem Aufsatz „Truth, Rationality, and the Growth of Scientific Knowledge“.

  43. Vgl. H. F. Spinner, Theoretischer Pluralismus. Prolegomena zu einer kritizistischen Methodologie und Theorie des Erkenntnisfortschritts. In: H. Albert (Hrsg.), Sozialtheorie und soziale Praxis. Eduard Baumgarten zum 70. Geburtstag. Meisenheim am Glan 1971, besonders S. 30–37. — Ob Spinner die Parallele seiner Konzeption zu den entsprechenden wettbewerbspolitischen Vorstellungen bemerkt hat, geht aus seinen Ausführungen nicht hervor. Er leitet seine Regeln vielmehr explizit „aus den Bedingungen des Erkenntnisfortschritts“ her. Aber auch Ökonomen pflegen in einem funktionsfähigen Wettbewerb eine wichtige Voraussetzung für den ökonomischen Fortschritt zu sehen.

  44. Popper, Normal Science and its Dangers, a.a.O., S. 57.

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Herrn Professor Hans Albert und Herrn Professor Christian Watrin ist der Verfasser für kritische Anmerkungen zu der ersten Fassung, Herrn Dr. Egon Görgens für seinen Kommentar zu einer zweiten Fassung dieses Aufsatzes zu Dank verpflichtet. Die vorliegende Fassung hat keiner der genannten Herren gesehen.

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Meyer, W. Wissenschaftstheorie und Erfahrung: Zur Überwindung des methodologischen Dogmatismus. Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie 3, 267–284 (1972). https://doi.org/10.1007/BF01800753

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