Zusammenfassung
Es wird über einen Fall bei einer 40 jährigen Patientin berichtet, bei dem es im Anschluß an einen Insult zu einer leichten kontralateralen Armparese, dagegen zu schweren Störungen der Praxie der gesamten Gesichts-, Zungen-, Schlund- und Larynxmuskulatur, die geringeren in ihren Umfang nicht genauer bestimmbaren paretischen Erscheinungen eben derselben Innervationsgebiete superponiert war, kam.
Bemerkenswert erscheint, daß die bilateral-symmetrische Funktionsstörung von einem offenbar einseitigen Herd (wahrscheinlich Embolie) herbeigeführt wurde, wobei auf die Fälle von Bonvicini und die Ergebnisse der Försterschen Rindenreizversuche bezüglich der Bewegungsvorgänge der Gesichts-, Zungen-, Schlund- und Pharynxmuskulatur hingewiesen wird.
Das Zustandsbild wird von der apraktischen Störung beherrscht. Über Aufforderung sind fast sämtliche aktive Bewegungen der Gesichtsmuskulatur unmöglich, das Mienenspiel auch in seinem mehr unwillkürlichen Anteil schwer geschädigt, Lippen-, Zungen- und Schluckbewegungen selbst bei der Nahrungsaufnahme, die die phylogenetisch älteste Inanspruchnahme der betreffenden Muskelgebiete darstellt, wesentlich beeinträchtigt. Dementsprechend besteht auch eine schwere Störung der Sprache und des Sprechens, die von einer völligen Anarthrie in ihrer Rückbildungsphase gewisse Analogien zum Spracherwerb bei kleinen Kindern zeigte, vorwiegend aber durch apraktische Leistungsstörungen bestimmt wurde.
Es ergibt sich das Bild einer schweren Sprachstörung, die vorwiegend apraktisch bedingt ist, wobei die apraktische Störung in dem vorliegenden Falle besonders deutlich demonstriert werden kann und die Sprachstörung selbst sogar überdauert.
Der Fall gibt Veranlassung, bei jenen Fällen von Sprachverlust nach Insulten oder zurückbleibenden Störungen der Sprachartikulation, die sich nicht in das Bild der motorischen Aphasie einordnen lassen, auf das Vorhandensein von apraktischen Störungen im gesamten Innervationsbereich der Gesichts-, Zungen-, Schlund- und Kehlkopfmuskulatur besonders zu achten.
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Bertha, H., Kolmer, H. Über einen Fall von isolierter Apraxie der Gesichts- und Sprachmuskulatur. Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde 146, 102–120 (1938). https://doi.org/10.1007/BF01762433
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