Nystagmographische Verlaufsuntersuchungen Über Vestibularisschädigung Nach Streptomycinbehandlung

Zusammenfassung

1. Die Vestibularisschädigung durch Streptomycin (durchschnittlich 1,5 g täglich) wurden bei Tuberkulosefällen ohne Meningitis mit Hilfe der elektrischen Nystagmographie objektiv registriert. Auftreten und Verlauf der Störung wurde bis zu 2 Jahren im einzelnen untersucht.

2. Bei 9 von 20 Kranken traten Vestibularisschäden in Form schwerer Gleichgewichtsstörungen mitdoppelseitiger calorischer und rotatorischer Unter- bzw. Unerregbarkeit auf. Deroptokinetische Nystagmus blieb immer völlig unverändert.

3.Die Vestibularisschädigung war in allen Fällen irreversibel, obgleich sich die Gleichgewichtsstörungen durch Kompensationsvorgänge besserten. Die Kompensation ist in den einzelnen Fällen unterschiedlich, sie wird ermöglicht durch die intakt gebliebenen optischen Reaktionen und die Muskel- und Gelenkssensibilität. Totale Unerregbarkeit wird oft besser kompensiert als unvollständiger Schaden mit Untererregbarkeit.

4. An einem Fall mit sehr guter Selbstbeobachtung wurden die subjektiven und objektiven Störungen der optisch-vestibulären Koordination, die unter Streptomycin auftraten, und die Kompensationserscheinungen im einzelnen analysiert. Bei kleinen horizontalen oder vertikalen Kopfbewegungen bestanden bei großen Blickbewegungen, aber nicht bei Bewegungen des ganzen Körpers 2 Jahre nach Auftreten der Vestibularisschädigung (Untererregbarkeit mittleren Grades) immer noch Wahrnehmungstäuschungen mit optischen Scheinbewegungen der Außenwelt in der Bewegungsrichtung.

5. Als Erklärung der Befunde wird gefolgert, daß die schädigende Wirkung des Streptomycins primär an den Bogengangsreceptoren angreift. Durch Ausschaltung oder Verminderung der vestibulären Impulse vom Sinusepithel der Cristae (und Maculae?) entsteht 1. eine calorische und rotatorische Untererregbarkeit des Labyrinthes, 2. ein Überwiegen der Halsreceptoren in der komplizierten Koordination der optischen Wahrnehmungswelt (Scheinbewegungen), 3. eine mangelnde labyrinthäre Regulation der Körpermotorik (Gang-und Gleichgewichtsstörung bei beschleunigten Bewegungen).

6. Die vestibuläre Schädigung läßt sich durch Streptomycindosierung von 0,5–1,0 g täglich in einer Injektion oder Verwendung von Dihydrostreptomycin weitgehend vermeiden.