Zusammenfassung
Die Stellung der Niere im Kohlenhydratstoffwechsel muß von 2 Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Das Organ verfügt einmal über die Fähigkeit, einen bei der Harnbildung möglichen Glucoseverlust zu verhindern oder relativ gering zu gestalten. So wird der intrarenal durch Glomerulusfiltration separierte Glucoseanteil durch eine vitale Leistung unter Energieaufwand in den proximalen Tubuli zurückgewonnen. Die Resorptionskapazität ist so groß, daß auch eine deutliche Überschreitung des unter physiologischen Bedingungen anfallenden Substratquantums ohne Glykosurie bewältigt werden kann. Für eine echte Steigerung dieser aktiven tubulären Leistung beim Diabetes mellitus bestehen experimentelle und klinische Belege. Die Frage, ob die Ausscheidung von Glucose auf Grund der Insuffizienz der tubulären Rückresorption als eine wesentliche Teilstörung des unkomplizierten Diabetes mellitus anzusehen ist, ist demnach mit Entschiedenheit zu verneinen. Eine derartige resorptive Minderleistung aller oder eines Teils der Nierentubuli ist als Charakteristicum des renalen Diabetes zu betrachten. Freilich scheinen Kombinationen von Diabetes mellitus und Diabetes renalis nicht ganz selten zu sein37.
Eine Erhöhung der tubulären Zuckerresorption wird demgegenüber häufig vorgetäuscht, wenn unter Einschränkung der Glomerulusfiltratmenge z. B. bei komplizierender Nierenerkrankung oder Kreislaufinsuffizienz das Glucoseangebot an die Tubuli je Zeiteinheit trotz hohem Blutzuckerwert entsprechend gering ist und so die Glykosurie bei alleiniger Berücksichtigung des Blutzuckerniveaus niedrig erscheinen muß. Man spricht klinisch in diesen Fällen von einer erhöhten Nierenschwelle für Zucker. Im Gegensatz zu früheren einfachen Vorstellungen dieses Mechanismus ist die „Schwelle“ abhängig von der Höhe, bis zu der die tubuläre Resorptionskapazität für Glucose — als dynamischer Vorgang unter enzymatischer Kontrolle — gesteigert werden kann, ohne daß Zucker in den Harn übertritt. Da das Zuckerangebot aber wesentlich von der Filtratgröße abhängt, sind die pathologischen Veränderungen der Nierenschwelle grundsätzlich Ausdruck einer funktionellen Gleichgewichtsstörung zwischen Glomerulus- und Tubulussystem.
Mit Hilfe von Clearanceuntersuchungen lassen sich die Verhältnisse im einzelnen analysieren. Die Feststellung des renalen Resorptionsspiegels des Blutzuckers („aglykosurische Blutzuckerkonzentration“) als variable Größe ist in diesem Zusammenhang instruktiv und gibt einen Einblick in die renale Bilanz, wobei intermediäre Umsetzungen unberücksichtigt bleiben.
Der regulierenden und einsparenden Wirkung der Niere ist der Einfluß gegenüberzustellen, den sie gewissermaßen verborgen im intermediären Kohlenhydratstoffwechsel auszuüben in der Lage ist. Über die Möglichkeit des Aufbaues von Glucose aus Fragmenten des Zuckerumsatzes hinaus scheint ihre Fähigkeit zur Glykoneogenie gesichert. Es kann diskutiert werden, ob die Niere im Rahmen eines homöostatischen Mechanismus an der Aufrechterhaltung des physiologischen Blutzuckerspiegels teilnimmt. Beim Ausfall des regelnden Einflusses der Leber kann die renale Zuckerbildung den Abfall des Niveaus zwar nicht verhindern, aber doch verlangsamen. Während einige Autoren in der Hypoglykämie den adäquaten Reiz für die Glucoseproduktion durch die Niere sehen, sprechen andere Forschungsergebnisse überzeugend für eine Verstärkung dieser Fähigkeit bei erhöhtem Blutzuckerspiegel. Damit wäre ein Antagonismus zur Leber gegeben, die unter normalen Bedingungen bei Hyperglykämie Glucose aufnimmt und Glykogen aufbaut. Nach dieser Auffassung steuert die Niere über eine Beteiligung an der Blutzuckerregulation hinaus einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zur Kohlenhydratversorgung des Organismus bei. Es wurde errechnet, daß sie 25–30% des Ruhebedarfs der Peripherie an Glucose aufzubringen in der Lage ist. Diese letzten, vorerst nur tierexperimentell belegten Ergebnisse weisen neben den mitgeteilten Tatsachen der Niere eine bedeutungsvolle Stellung im Kohlenhydratstoffwechsel zu. Sie lassen jedoch zugleich erkennen, daß die Aufklärung ihrer vielseitigen und hochdifferenzierten biologischen Aufgaben auch für dieses Teilgebiet der allgemeinen Physiologie und Pathologie noch keineswegs als abgeschlossen gelten kann.
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Kleinschmidt, A. Die Stellung der Niere im Kohlenhydratstoffwechsel. Klin Wochenschr 31, 873–878 (1953). https://doi.org/10.1007/BF01473349
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