Zusammenfassung
Die in der Frakturlehre allgemein vorherrschende Ansicht, daß funktionelle Einflüsse die Form und Struktur des Knochencallus während seiner Entwicklung bestimmen, ist auf Grund der Ergebnisse biomechanischer und röntgenologischer Callusstudien nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Fehldeutungen sog. funktioneller Einwirkungen sind zu einem Teile darauf zurückzuführen, daß der Begriff “Funktion” vielfach zu verschwommen ist und zu weit gefaßt wird. Funktion setzt ein ständiges Wechselspiel zwischen den Grundkräften Druck und Zug voraus. Dauerdruck oder Dauerzug sind statische, nicht funktionelle Faktoren.
Schaftbrüche, an denen die äußcre und innere Gestaltung des neuen Knochens am übersichtlichsten zu studieren ist, erhalten stets ihre Callusformung während der Ruhigstellung des Gliedes, z. B. in einer Extensionsvorrichtung oder im Liegegipsverband, d. h. in der Phase der Ausschaltung funktioneller Einflüsse. Hierbei wird die wichtige Tatsache nicht gebührend beachtet, daß die äußere Form des Knochen-callus schon im bindegewebigen Callus, also in der Zeitspanne vor der eigentlichen Knochenneubildung entwickelt und festgelegt wird. Sie spricht in besonderem Maße gegen die funktionelle Theorie, führt hingegen zu einer biomechanisch verständlichen Vorstellung der Callusgestaltung: das Kräftespiel zwischen dem Druck des vorsprießenden Keimgewebes und dem Gegendruck der umgebenden, intakten Weichteile formt den bindegewebigen und hiermit den knöchernen Callus.
Als sehr eindrucksvolles Beispiel der afunktionellen Callusformung wird die röntgenologische Callusstudie eines Oberschenkelschaftbruches bei einem nach spinaler Kinderlähmung hochgradig paretischen Bein angeführt, welches zudem noch im Beckengipsverband ruhiggestellt war.
Zum Schluß wird die differente Callusgestaltung bei achsengewinkelt stehenden Schaftbrüchen darauf zurückgeführt, daß der Wachstumsdruck des Keimgewebes auf der konkaven Frakturseite im allgemeinen einen geringeren Gegendruck der angrenzenden, entspannten Weichteile findet als auf der konvexen Fragmentfläche und hierdurch eine stärkere Callusentwicklung auf der sog. druckbeanspruchten Seite erlaubt.
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Oberdalhoff, H. Der Einfluß der Funktion auf Form und Struktur des Knochencallus. Arch. f. klin. Chir 263, 24–37 (1949). https://doi.org/10.1007/BF01401282
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