Zusammenfassung
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1.
Durch die Theorie der Querdisparation, die vom Begriff der korrespondierenden Netzhautpunkte ausgeht, kann lediglich eine Tiefenstaffelung frontalparalleler Linien und Flächen sowie deren Drehung um eine horizontale Achse erklärt werden. Eine große Zahl von besonders charakteristischen Tiefenerscheinungen, nämlich alle Drehungen waagerechter Erstreckungen (Linien und Flächen) um senkrechte Achsen wird von dieser Theorie nicht erfaßt.
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2.
Am Beispiel von (im Stereoskop gedreht erscheinenden) waagerechten Punktreihen von verschiedener Länge konnte gezeigt werden, daß hier Tiefenwirkung auftritt ohne Vorhandensein von Querdisparation der einzelnen Punkte (Punktreiheneffekt). Gestaltdisparation allein ergibt also Tiefe.
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3.
Umgekehrt zeigen entsprechende Versuche, daß Querdisparation ohne Gestaltdisparation niemals Tiefe ergibt (beachte den Begriff der „relativen“ Tiefenlokalisation).
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4.
Aus diesem Grunde muß die alte Theorie der Querdisparation gänzlich aufgegeben und durch eine Theorie binocularer Gestaltdifferenzen ersetzt werden: Nachweis der ausschließlich zentralen Genese des binocularen Tiefenraumes.
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5.
Das Panumsche Phänomen scheint sich als Grenzfall des Punktreiheneffektes zu erweisen.
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6.
Nur von einer Gestalttheorie der Tiefenwahrnehmung kann die Inkongruenz von Figur und Grund in ihrer Lokalisationsweise gefaßt werden.
Literatur
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Wilde, K. Der Punktreiheneffekt und die Rolle der binocularen Querdisparation beim Tiefensehen. Psychol. Forsch. 23, 223–262 (1950). https://doi.org/10.1007/BF00416941
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