Zusammenfassung
Es wurden 17 Personen mit angeborener Gliedmaßenstummelbildung (Peromelie) untersucht, von denen nur eine Person phantomartige Erlebnisse angab. In der Weltliteratur sind damit bisher etwa 27 Fälle von Peromeliephantomen bekannt geworden.
Insgesamt schließen wir aus unseren Untersuchungen und Überlegungen, daß das Vorkommen von echten pseudohalluzinatorischen Phantomen bei Peromelie nicht gesichert ist. Die bei Peromelie auftretenden phantomartigen Erlebnisse sind in ihrer Phänomenologie von den Amputationsphantomen deutlich unterschieden. Zwei Möglichkeiten werden diskutiert: Erstens, daß es sich trotzdem um echte, aberabgeschwächte (pseudohalluzinatorische) Phantome mit physiologischen Erklärungsmöglichkeiten oder zweitens um psychogene Projektionen handelt. Die bisherigen Grunderkenntnisse der Phantomforschung bleiben bestehen, nämlich, daß Unterbrechungen eines bisher intakten, durch Regulationen verbundenen Gesamt von Peripherie, Afferenz und Zentren für die Phantomentstehung erforderlich sind. Als Konsequenz für die Theorie der Körperschemaentstehung ergibt sich das Bild eines über periphere Informationen orientierten Entwicklungsprozesses, der Leistungsentwicklungen auf anderen Gebieten vergleichbar sein muß. Eine kybernetische Konzeption des Körperschemas und der Phantome wird vorgeschlagen, die unseren früher publizierten Vorstellungen über die Regulation der optischen Wahrnehmung entspricht.
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Burchard, J.M. Zur Frage nach der Natur von Phantomerlebnissen bei angeborener Gliedmaßenverstümmelung. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift f. d. ges. Neurologie 207, 360–377 (1965). https://doi.org/10.1007/BF00361229
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