Zusammenfassung
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1.
Hinführend auf Kants Konzeption vom Auf bau der Wahrnehmungswelt wird zunächst das Ergebnis eigener Untersuchungen mitgeteilt, wonach unter zuzüglicher Berücksichtigung verwertbarer Auffassungen der Literatur vieles dafür spricht, daß bei der corticalen sensorischen Aphasie nicht nur die Erfassung von Laut- und Tonfolgen, sondern eine solche von Reizfolgen überhaupt gestört ist. Die in Frage kommenden Folgen werden unter dem Begriff der Sukzessivstruktur zusammengefaßt, als konstituierende Teile dieser Struktur zuständliche bzw. unräumliche wahrgenommene und vorgestellte Eindrücke angenommen.
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2.
Es ergeben sich Parallelen zwischen den Fehlleistungen hinsichtlich Sukzessivstrukturen bei der sensorischen Aphasie und den pathologischen Symptomen hinsichtlich Raumstrukturen bei der optisch-räumlichen Agnosie.
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3.
Nach Aufzeigen der Grundgedanken Kants vom Aufbau der Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt wird den Vorgängen der ersten Synthese, die den als Ausgangsmaterial postulierten Empfindungskomplex ordnen, besondere Beachtung geschenkt. Es zeigt sich, daß den hier von Kant entwickelten Vorstellungen gestalttheoretische Begriffe an die Seite gestellt werden können. Auch lassen sich sensorisch-aphatische und raumagnostische Phänomene durch bestimmte Störungen der ersten Synthese interpretieren.
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4.
Die von Kant vermuteten Prozesse der ersten Synthese sind auch dann verwertbar, wenn man statt eines Empfindungskomplexes als Ausgangsmaterial, latente psychische Sukzessiv- und Raumstrukturen und statt der Synthese, je einen auf Sukzessiv- bzw. Raumstrukturen gerichteten eingeschalteten psychischen Mechanismus annimmt. Es kommt im wesentlichen nur zu einer Schwerpunktverlagerung von der Synthese auf die Differenzierung.
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5.
Kants Konzeption vom Aufbau der Wahrnehmungswelt kann zur mittelbaren Bestätigung der Interpretation der corticalen sensorischen Aphasie als gestörte Perzeption bestimmter Sukzessivstrukturen herangezogen werden. Sie weist darauf hin, daß es sich bei den gnostischen Hirnwerkzeugstörungen in erster Linie um ein im psychischen Bereich liegendes Problem handelt. Vorwiegend expressive Störungen sind nach dem Kantschen Schema nicht ohne weiteres zu deuten.
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Ahrens, R. Der Aufbau der Wahrnehmungswelt nach Kant im Hinblick auf das Problem gnostischer Hirnwerkzeugstörungen. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift f. d. ges. Neurologie 196, 114–134 (1957). https://doi.org/10.1007/BF00354505
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