Zusammenfassung
Als Beitrag zur Typologie der zyklothymen Depression wird über das Bild der Entfremdungsdepression berichtet. Die das Zustandsbild mitbestimmenden Insuffizienzgefühle werden mit der bereits präpsychotisch nachweisbaren vitalen Schwäche der Kranken in Zusammenhang gebracht und das Überwiegen der psychasthenischen Personlichkeiten sowie des leptosomen Habitus hervorgehoben. Das häufigste Begleitsymptom der Entfremdungserscheinungen stellen hypochöndrische Erscheinungen dar, deren innige Beziehung zur somatopsychischen Entfremdung besprochen wird. Die Hemmungssymptomatik pflegt dagegen schwach ausgeprägt zu sein, Beziehungsideen, Eigenbeziehungen sowie Schuldgefühle treten selten in Erscheinung.
Die Voraussetzung für die Dominanz der Entfremdungserscheinungen wird in konstitutionell bedingter Schwäche der Antriebsseite der Persönlichkeit gesehen, die es möglich macht, daß schon geringgradige Verstimmungen die psychodynamischen Verhältnisse eingreifender verändern als dies bei der typischen zyklothymen Depression der Fall ist. Die „Flachheit“ der Depression im Sinne einer vergleichsweise geringen Intensität der Symptomatik ist von besonderer Bedeutung, da hierdurch die Reflexion über die veränderte Zuständlichkeit gewährleistet bleibt, was eine der allgemeinen Voraussetzungen für das Auftreten von Entfremdungserscheinungen darstellt.
Das psychologisch interessante „Gefühl der Gefühllosigkeit“ wird nach strukturpsychologischen Gesichtspunkten untersucht und auf die Diskrepanz zurückgeführt, die daraus resultiert, daß einerseits die Bindungen des Gefühls im Gemüt und Gewissen und deren richtungweisende Funktionen erhalten bleiben und von diesen strukturellen Beständen aus ein Anspruch nicht nur im Hinblick darauf ausgeht, wie sich das Subjekt zu verhalten, sondern auch wie es zu fühlen hat, daß andererseits aber durch die Depression — die die Tätigkeitsimpulse lahmt und die Antriebsseite der Gefühle beeinträchtigt — die Bewährung des Gemütes im aktuellen Fühlen unmöglich wird. Die Stärke der Gefühle, zu denen das Subjekt hier und jetzt fähig ist, liegt unter dem durch die intakt gebliebenen kernhaften Persönlichkeitsbereiche bestimmten Anspruchsniveau, das somit unbefriedigt bleibt und das peinigende „Gefühl der Gefühllosigkeit“ aufkommen läßt.
Literatur
Giese, H.: Über Depersonalisation. Z. Neur. 81, 62 (1923).
Haug, K.: Depersonalisation und verwandte Erscheinungen. Erg. Bd. 1 d. Hdb. f. Geisteskrankh. von Bumke, 134 (1939).
—: Die Störungen des Persönlichkeitsbewußtseins. Stuttgart: Enke 1936.
Kleist, K.: Gehirnpathologie. Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1934.
—: Fortschritte der Psychiatrie. Prankfurt: Waldemar Kramer 1947.
—: Leitvortrag über Gehirnpathologie und Klinik der Persönlichkeit und Körperlichkeit. Arch. f. Psychiatr. 103, 301 (1953).
Krueger, F.: Das Wesen der Gefühle. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt 1928.
—: Die Tiefendemension und die Gegensätzlichkeit des Gefühlslebens. München: Beck 1931.
Leonhard, K.: Grundlagen der Psychiatrie. Stuttgart: Enke 1948.
Neele, E.: Die phasischen Psychosen nach ihrem Erscheinungs- und Erbbild. Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1949.
Petrilowitsch, N.: Zur Charakterologie der Zwangsneurotiker. Phil. Diss. Mainz 1952.
—: Zur Frage nach der Bedeutung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses für das menschliche Verhalten. Jb. f. Psychol. u. Psychother. 2, 425 (1954).
Rosenfeld, M.: Die Störungen des Bewußtseins. Leipzig: Thieme, 1929.
Schaefer, O.: Bemerkungen zur psychiatrischen Formenlehre. Allg. Z. Psychiatr. 36, 214 (1880).
Schilder, P.: Selbstbewußtsein und Persönlichkeitsbewußtsein. Berlin: Springer 1914.
Schneider, K.: Pathopsychologische Beiträge zur psychologisehen Phänomenologie von Liebe und Mitfühlen. Z. Neur. 65, 109 (1921).
Störring, E.: Die Depersonalisation. Arch. f. Psychiatr. 98, 462 (1933).
Wellek, A.: Die Polarität im Aufbau des Charakters. Bern: Francke 1950.
—: Das Problem des seelischen Seins. Meisenheim-Wien: Westkulturverlag 1953.
—: Die Wiederherstellung der Seelenwissenschaft im Lebenswerk. Felix kruegers. Hamburg: Meiner 1950.
Author information
Authors and Affiliations
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Petrilowitsch, N. Zur Psychopathologie und Klinik der Entfremdungsdepression. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift Neurologie 194, 289–301 (1956). https://doi.org/10.1007/BF00352727
Received:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/BF00352727