Zusammenfassung
Die diskutable Frage nach einem den schizophrenen Primärerlebnissen zugrundeliegenden einheitlichen schizophrenen Bewußtsein oder nach einer dieses Bewußtsein umgreifenden schizophrenen Daseinsveränderung steht gegenüber der heute nicht mehr ernsthaft diskutierten Frage nach der Krankheitseinheit Schizophrenie. Nach allgemeiner heutiger Auffassung gibt es keine Schizophrenie, sondern nur Schizophrenien. Diese heben sich aber als solche nach Primärsymptomatik und Endzuständen deutlich von den körperlich begründbaren (symptomatischen) Psychosen sowie von den psychogenen Reaktionen und Entwicklungen ab. Die Schizophrenien lassen sich daher weder allein als somatogene Krankheiten noch allein als psychogenes Kranksein erklären, obwohl sowohl somatogene wie auch psychogene Faktoren in ihnen als konstitutive Bestandteile angenommen werden können. Diese Sachlage erfordert zu ihrer begrifflichen Fassung einen Grenzbegriff der reinen Psychose, der einerseits dem Begriff der körporlich begründbaren symptomatischen Psychose, andererseits dem Begriff der krankheitswertigen psychogenen Entwicklung gegenübersteht. Die letztgenannten Begriffe sind als Gattungsbzw. Extrembegriffe von dem Grenzbegriff der reinen Psychose zu unterscheiden. Das methodologische Schizophrenieproblem besteht in der Definierung dieses Grenzbegriffes durch alle faßbaren definiten Faktoren, die in ihn eingehen. Dem methodischen Schizophrenieproblem steht aber noch das tieferliegende metaphysische Problem der reinen Psychose gegenüber. Diesem entspricht ein metaphysischer Grenzbegriff, dem gegenüber der methodologische Grenzbegriff zum Extrembegriff der definierbaren Dimensionen im Begriff der reinen (schizophrenen) Psychose zusammenschrumpft. Die Erkenntnis der „undefinierbaren“ Dimension im Grenzbegriff der reinen (schizophrenen) Psychose steht am Ende der klinisch-empirischen Forschung, obwohl das Erspüren dieser „undefinierbaren“ Dimension den Beginn und den Anreiz zur Erforschung der Schizophrenien bildet.
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Vorgetragen in der Medizinischen Gesellschaft Göttingen am 20. 5. 54.
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Müller-Suur, H. Der psychopathologische Aspekt des Schizophrenieproblems. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift Neurologie 193, 11–21 (1955). https://doi.org/10.1007/BF00352632
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