Zusammenfassung
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1.
Die Wahnwahrnehmung als ein wichtiges Symptom der Schizophrenie läßt sich in ihrer Struktur mit den Mitteln einer älteren Wahrnehmungspsychologie, wie sie heute noch in der Psychiatrie wirksam ist, nicht fassen. In der vorliegenden Arbeit wird daher der gestaltpsychologische Ansatz gewählt. Dessen Unterschied zur älteren Psychologie wird kurz skizziert. Auch die von der Gestaltpsychologie ausgearbeiteten Unterschiede der verschiedenen Eigenschaften des Wahrnehmungsobjektes werden hervorgehoben.
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2.
Bei Schizophrenen mit eindeutigen Wahnwahrnehmungen findet sich — häufig vor dem Manifestwerden grob auffallender Wahnwahrnehmungsinhalte — ein gegenüber dem Normalen gesteigerter und erweiterter Vorrang von Wesenseigenschaften an bestimmten Wahrnehmungsgegenständen. Daraus erklären sich, jedenfalls teilweise, manche bisher für unverständlich gehaltenen Phänomene der Wahnkranken, so z. B. der Wahrnehmungscharakter der erlebten Wahnbedeutungen, das Überschatten anderer Eigenschaften der Wahrnehmungswelt durch die Wesenseigenschaften und das höhere Gewicht der erlebten Bedeutung auch in den Fällen, wo inhaltlich noch kein Wahnsinn festzustellen ist.
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3.
Bei denselben Kranken befindet sich eine mit dem anormalen Hervortreten von Wesenseigenschaften parallel gehende Lockerung bzw. Auflösung des natürlichen Wahrnehmungszusammenhanges. Dem entspricht eine krankhafte Fähigkeit, bei Details des Wahrnehmungsfeldes länger verharren zu können, als es bei spontaner, normaler Einstellung möglich ist. Gewisse Wahrnehmungsteile werden „eingerahmt“, wodurch der abnormen Bedeutung Schutz und Gewicht verliehen wird.
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4.
Der sich neu entwickelnde anschauliche Zusammenhang bei manchen Wahnkranken bildet sich nicht in der Hauptsache auf Grund der gegenständlichen, sondern der ungegenständlichen Eigenschaften der Außenwelt, wofür die Zusammenhangsbildungen auf Grund einzelner Wesenseigenschaften ein Beispiel sind.
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5.
Dem unter dem Namen Symbolzusammenhang gekennzeichneten Wahnphänomen liegt meistens kein Symbolbewußtsein zugrunde, sondern es basiert auf der Identifikation zweier verschiedener Gegenstände mit den gleichen Wesenseigenschaften.
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6.
Diese Bedeutungserlebnisse (primäre Wahnwahrnehmungen) unterscheiden sich deutlich von den mehr dem Zwang näherstehenden Bedeutungserlebnissen, wie sie auch bei Schizophrenen vorkommen können und für die der Ausdruck Symbolerlebnis treffender ist als für echte Wahnwahrnehmungen. Die abnormen Bedeutungen beim primären Wahn haben ihre Fundierung in der Wahrnehmung, die beim Zwang im Wissen.
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7.
Die hier gezeigten Veränderungen sind keineswegs die einzig nachweisbaren und allein entscheidenden bei echten Wahnwahrnehmungen, zumal sich bei den klinisch als Wahnwahrnehmung angesprochenen Phänomenen verschiedene psychologische Gesetzmäßigkeiten zeigen. Vor allen Dingen reicht das in dieser Mitteilung Entwickelte noch nicht aus zur Erklärung der grob auffallenden „unverständlichen“ Wahnwahrnehmungsinhalte. Auf diese wird in der folgenden Mitteilung eingegangen werden.
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Matussek, P. Untersuchungen über die Wahnwahrnehmung. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift Neurologie 189, 279–319 (1952). https://doi.org/10.1007/BF00351194
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