Zusammenfassung
Um vom groben Sehätzen mit vielen subjektiven Fehlermöglichkeiten zum feineren abwägenden Ermessen mit viel weniger subjektiven Fehlermöglichkeiten kommen zu können, ist eine Differenzierung unserer begrifflichen Schemata notwendig. Dies gilt besonders für die forensische Beurteilung von Neurosen.
Die grobe diagnostische Alternative: abnorme Reaktion oder abnorme (psychopathische) Persönlichkeit reicht zur forensischen Beurteilung von sogenanntem neurotischem Verhalten ebensowenig aus, wie der nur für massivere Krankheitszustände brauchbare undifferenzierte Durchschnittsnormbegriff der klinischen Psychiatrie.
Die eigentliche Abnormität des sogenannten neurotischen Verhaltens liegt in der dieses Verhalten begründenden Persönlichkeitshaltung. Diese muß als solche von der Persönlichkeitsartung einerseits und vom persönlichkeitsindifferenten Verhaltenshintergrund andererseits unterschieden werden.
Zur Bestimmung des Grades der Abnormität einer abnormen Persönlichkeitshaltung ist die Divergenz von der eigentlichen Individualnorm mas Bgebend. Dazu bedarf es der Erfassung der individuellen Normdifferenzen mit einer Erfahrungsweise, die in der phänomenologisch-anthropologischen Forschungsrichtung in der Psychiatrie in Entwicklung begriffen ist.
Aus der Divergenz zwischen eigentlicher Individualnorm und abnormer Persönlichkeitshaltung kann der individuelle Krankheitswert der neurotischen Fehlhaltung erschlossen werden. Dieser individuelle Krankheitswert betrifft die Einschränkung der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten durch das neurotische Kranksein und ergibt sich dadurch, daß diese in Beziehung gesetzt wird zu einem Grad der Einschränkung der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, wie er erfahrungsgemäß von körperlich begründbaren Krankheiten und Psychosen hervorgerufen wird.
Dieser individuelle Krankheitswert muß dann aber noch auf den kollektiven Krankheitswert reduziert werden, d. h. es muß gefragt werden, wie durch das individuelle Kranksein rückwirkend die Möglichkeiten zur Erfüllung der individuellen Mindestnormforderungen behindert oder aufgehoben sind, wenn die Frage zu beantworten ist, inwiefern neurotisches Verhalten (als krankhaft im Sinne des § 51 StGB) eine Einschränkung oder Aufhebung der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit zur Folge haben kann.
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Müller-Suur, H. Zur Frage der strafrechtlichen Beurteilung von Neurosen. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift Neurologie 194, 368–382 (1956). https://doi.org/10.1007/BF00350246
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