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Zusammenfassung

  1. 1.

    Unter pathologischem Appetenzwandel verstehen wir die unvermittelt hervorbrechende einseitige Bevorzugung bestimmter Geschmacksqualitäten, die sich bis zu unbezwingbarer Gier steigern kann. Das Verlangen richtet sich nicht auf bestimmte Speisen oder Nahrungsbestandteile. Es ist zentriert vorwiegend um die Geschmacksqualitäten „Scharf, Sauer“ einerseits und „Süß“ anderseits. Gesichtspunkte einer der biologischen Gesamtsituation angepaßten Zweckmäßigkeit lassen sich nicht erkennen. Die Bevorzugung einer Qualität schließt die entschiedene Ablehnung der anderen ein. Koppelung von Enthemmung des Hungergefühls und Appetenzwandel werden selten beobachtet. Der Hunger ist offenbar weniger störungsempfindlich als die differenziertere Funktion des Appetits.

  2. 2.

    Die Kranken wählen vorzugsweise solche Nahrungsobjekte aus, denen die begehrten Geschmacksqualitäten anhaften. In extremen Fällen werden alle aufgenommenen Speisen durch Anreicherung beispielsweise mit Pfeffer oder Paprika der veränderten Appetenzrichtung angeglichen.

  3. 3.

    Pathologischen Appetenzwandel beobachteten wir bei cerebralorganischen Zuständen verschiedener Art, ferner im Verlauf thalamischer, diencephaler und extrapyramidaler Funktionsstörungen und Erkrankungen, bei abnormem Verlauf von Pubertät und Klimakterium bei Defektkonstitutionen, provoziert durch Arzneimittel und in verdünnter Form gelegentlich während des normalen Menstruationscyclus. Gehirnerschütterungen, die frühestens 3 Monate nach dem Trauma untersucht wurden, zeigten die Erscheinungen nicht. Es wurden nur solche Kranke in das Beobachtungsgut einbezogen, die keine Störungen von Seiten der Leber und des Verdauungstractus mit zugehörigen Drüsen aufwiesen.

  4. 4.

    Die Geschmacks- und Geruchsempfindung war bei keinem Kranken gestört. Eine Änderung der Geruchsempfindung etwa im Sinne einer neu auftauchenden Vorliebe oder Ablehnung ging dem Appetenzwandel nicht parallel. Auch die sensiblen Empfindungen, die von Zungen- und Mundschleimhaut ausgehen, erfuhren keine Veränderung.

  5. 5.

    Der Appetenzwandel war stets eingebettet in einen Symptomenkomplex von Störungen der zentral-vegetativen, endokrinen und Stoffwechselteuerung sowie circumscripter Änderung anderer Triebqualitäten. Diese Symptome begleiteten die Erscheinung des gewandelten Appetits in wechselnder Ausprägung und Kombination, fehlten aber nie. Sie werden vorwiegend bei direkt oder von anderen Bereichen des Organismus her bewirkter Funktionsstörung des vegetativen Zwischenhirns ausgelöst. Es wird deshalb die Vermutung ausgesprochen, daß der pathologische Appetenzwandel ein bisher kaum beachtetes Symptom diencephal bedingter Störungen darstellt.

  6. 6.

    Das im pathologischen Appetenzwandel hervorbrechende und dominierende Verlangen betrifft extreme Geschmacksqualitäten, die in sich nicht weiter zerlegbar sind und den. Charakter von Radikalen tragen. Während das Individuum normalerweise über ein differenziertes Spektrum fein nuanzierter Geschmacksrichtungen verfügt, erfolgt hier nach Art eines Funktionswandels unter Abbau integrierter Leistungen ein Hervortreten primitiver Grundbedürfnisse der Geschmacksempfindung und des Geschmacksgenusses.

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Hirschmann, J. Pathologischer Appetenzwandel. Archiv für Psychiatrei und Neurologie 192, 369–382 (1954). https://doi.org/10.1007/BF00346632

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