Zusammenfassung
Es wurde über 2 Schwestern berichtet, die im Alter von 7 und 4 Jahren unter dem Bild der cerebralen Kinderlähmung bzw. des atonisch-astatischen Syndroms (Foerster) mit Idiotie ad exitum gekommen sind und deren anatomischer Befund mit der von Nyssen und van Boagert beschriebenen „Dégénérescence systématisée opticocochléo-dentelée“ übereinstimmt. Ein Bruder und eine Schwester der Untersuchten sind wahrscheinlich ebenfalls von dieser Erkrankung befallen gewesen, während die übrigen vier Geschwister und die weitere Familie an keiner derartigen Krankheit gelitten haben. Es dürfte sich vermutlich um ein recessives Erbleiden handeln.
Die klinischen Symptome bestanden in allgemeiner Hypotonie mit Athetosen, in Areflexie, Abasie und Astasie, in Augenmuskelstörungen und Papillenatrophie (in 1 Fall). Es fehlten Sprachverständnis und Sprachvermögen; ein progredienter Krankheitsverlauf war klinisch nur in 1 Falle erkennbar.
Der bei beiden Schwestern nahezu identische anatomische Befund ergab neben der schon von Nyssen und van Bogaert beschriebenen symmetrischen Atrophie des Dentatus mit Bindearmen, des Cochlearis mit seinen sekundären Bahnen und des Opticus im wesentlichen eine symmetrische Atrophie der Oculomotorius- und Trochleariskerne und eine Degeneration des Olfactorius bis zu seinen tertiären Zentren.
Der Prozeß ist charakterisiert durch einen langsam fortschreitenden Schwund der Nervenzellen, wie wir ihn etwa auch bei der Chorea Huntington beobachten können, mit entsprechender faseriger Gliose und sekundärer Degeneration der Nervenbahnen; er erhält sein besonderes Kennzeichen durch die im Dentatusband beobachteten senilen Plaques.
Die Erkrankung kann zu den Systemerkrankungen Spielmeyers, den systematischen Degenerationen Schaffers und den systematischen Atrophien von Spatz gezählt werden.
Phylo- und ontogenetisch ist eine gemeinsame Atrophie der Kleinhirnkerne und der Kerne der Nn. oculomotorius, trochlearis und cochlearis erklärbar, nicht aber das Mitbetroffensein der Riech- und Sehbahn.
Das Vorkommen seniler Plaques im Alter von 4 und 7 Jahren bei einer atrophisierenden Systemerkrankung erscheint geeignet, die bisher in solchen Fällen üblicherweise angenommene Kombination einer atrophisierenden Systemerkrankung mit der Alzheimerschen Krankheit, die vor allem auch genealogisch nicht begründet ist, grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.
Besonders dann, wenn (wie in dieser Beobachtung) die „senilen“ Veränderungen örtliche Beziehungen zu den atrophischen Systemen aufweisen, haben wir in diesen Gebilden Gewebsmarken zu sehen, die uns erkennen lassen, daß kolloidchemische Vorgänge bei dem schleichenden Untergang der Nervenzellen wirksam gewesen sind (v. Braunmühl). Der pathologisch-anatomisch erhärtete Befund einer primären Atrophie bestimmter Neuronensysteme, Lokalisation und Ausmaß der „senilen“ Veränderungen sind für die Entscheidung maßgebend, ob eine systematische Degeneration oder eine Alzheimersche Erkrankung mit sekundärer Degeneration abhängiger Systeme vorliegt.
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Herr Privatdozent Dr. Bruno Schulz vom Genealogischen Institut der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie war so liebenswürdig, mich bei der Abfassung dieses Abschnittes zu beraten.
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Meyer, J.E. Über eine kombinierte Systemerkrankung in Klein-, Mittel- und Endhirn. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift Neurologie 182, 731–758 (1949). https://doi.org/10.1007/BF00344870
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