Zusammenfassung
Gestalt- und erkenntnispsychologische Zusammenhänge ergeben, daß dem melancholischen Wahn ein ametrisches Verhältnis der das menschliche Weltbild mitkonstituierenden Strukturtendenzen der Prägnanztendenz sowie des antiprägnanten Gestaltreizes der Welt zugrunde liegt. Dabei verstehen wir unter Weltbild die Erkenntnisgestalt der Welt, die vorweg (a priori) bestimmt, was je—individuell wirklich erkannt und verstanden wird. In der Melancholie kommt es nun durch eine Reduktion der Prägnanztendenz zu einem extrem einseitigen Bestimmtsein des Weltbildes durch den antiprägnanten Gestaltreiz der Welt. Die Folge dieser ametrischen Strukturiertheit des Weltbildes ist eine pathologische Wirklichkeitsgewißheit (Wahngewißheit) in allen „Erkenntnisfunktionen“ also auch in der Vorstellung, in der Phantasie und in der Einbildung. Die Inhalte der melancholischen Wahnerlebnisse aber gehen auf den antiprägnanten Gestaltreiz der Welt zurück, der im Verlauf der normalen aktualgenetischen Entwicklung des Weltbildes zunehmend auf den Abbau und Zerfall der von der Prägnanztendenz intendierten Erkenntnisinhalte z. B. der immer intakten und integren Leib-, Ich- und Kommunikationsgestalt des Menschen aus ist, damit vom Erwachsenen auch Nichtintegres und Nichtintaktes sowie Zerfall in jeder Form verstanden und bewältigt werden kann. Die Gerichtetheit des antiprägnanten Gestaltreizes der Welt erkennt man in den melancholischen Wahnerlebnissen des „Zerfalls“ des Leibes bis zur „Verwesung“ bei lebendigem Leibe oder des „Zerfalls“ der Ichgestalt bis zum „nihuil“ unmittelbar wieder.
Keine eindeutigen Aussagen jedoch erlauben unsere Beobachtungen über einen Wandel im Strukturverhältnis der Tendenz nach „Wesenseigenschaften“ zur rein sachlichen Sinngehaltlichkeit der Individualgestalten in der Melancholie, während nach Matussek (1963) „Wesenseigenschaften“ in der schizophrenen Wahrnehmungswelt einen Vorrang haben.
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Reiter, A. Gestalt- und erkenntnispsychologischer Beitrag zum melancholischen Wahn. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift f.d. ges. Nuerologie 207, 114–127 (1965). https://doi.org/10.1007/BF00343774
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