Zusammenfassung
Beim Studium der psychotherapeutischen Literatur auf dem Gebiet der endogenen Psychosen von den ersten Anfängen der Burghölzlischule bis zur jüngsten Zeit zeichnet sich als eine Sorge der Eindruck ab, daß es im Raum der Kliniken und psychiatrischen Krankenhäuser bei der Psychotherapie von Einzelfällen bleibt und ein „beziehungsloses Nebeneinanderlaufen“ der Psychotherapie einzelner und der Routinebetreuung aller übrigen entsteht (Ernst; Meerwein). Eine weitere sich aufdrängende Sorge ist das gegensätzliche Lager der Psychotherapeuten und der Somatotherapeuten (M. Müller). Da der Verfasser nach Einführung der körperlichen Behandlungsmethoden vor 28 Jahren mit der Psychotherapie der endogenen Psychosen nicht aufgehört, sondern beide Wege beschritten hat, wird von ihm in einer vergleichenden Betrachtung zu einigen sich aus der gegenwärtigen Situation ergebenden Fragen Stellung genommen, so vor allem zur psychoanalytischen Behandlung Schizophrener, zur Daseinsanalyse von Binswanger und zu Fragen der Endogenität und der Reversibilität. Die Bedeutung des Buches von Federn über die „Ichpsychologie und die Psychosen“ wird herausgestellt und „neben Freud auch erheblich mehr Binswanger“ gefordert. Unter Bezugnahme auf Conrad wird erörtert, ob es wirklich so schlimm wäre, wenn der Psychiater Natur- und Geisteswissenschaftler sein müßte.
Soviel sich in den letzten 34 Jahren Auffassungen und Meinungen in der Psychiatrie gewandelt haben, sind die prognostischen Regeln und Anhaltspunkte (M. Müller; Bleuler; Langfeld; Mauz) beständig geblieben und haben ihre Richtigkeit behalten. Alles prognostisch Bedeutsame liegt in der Person. Auch die Situationen gehören zum Gesamt der Person. Erfreulich ist, wie selbstverständlich das Umgehen mit dem Situationsbegriff geworden ist. Ein weiterer Fortschritt der Psychiatrie wird darin gesehen, daß wir bei hirnorganischen Psychosyndromen und endogenen Syndromen bezüglich der Frage der Reversibilität gelernt haben, neu zu denken.
Die prognostischen Möglichkeiten sind im wesentlichen auch unsere therapeutischen Möglichkeiten. Das gilt für die Psychotherapie und die Somatotherapie. Wenn all die Chancen therapeutisch ausgenützt würden, die im Potentiellen des Gesamts der kranken Person liegen, wäre viel erreicht. Die psychotherapeutischen Bemühungen, die notwendig wären, um diese Chancen wahrzunehmen, könnten bei jedem Kranken und auf jeder Station eingesetzt werden. Solange die psychotherapeutische Auseinandersetzung mit dem Kranken die einzige Form der Therapie war, blieb die Person des Arztes immer ein Stück Realität, an dem sich der Kranke orientieren konnte. Der Arzt erlebte in einem ständigen Teilhaben alle Nuancen des Ablaufgeschehens mit und wußte, wenn der Patient zur Entlassung kam, über die Art und den Grad der Gesundung, über seine individuelle Weise der Verarbeitung der Psychose oft erstaunlich gut Bescheid. Und der Patient hatte in der ständigen psychotherapeutischen Kommunikation mit dem Arzt Erfahrungen gemacht, die ihm den Übergang zur Normalität erleichterten und ihm das Standhalten ermöglichten. Seit Beginn der pharmakologischen Aera haben sich alle diese Möglichkeiten in zunehmendem Maße verschlechtert. Es muß gelingen, die pharmakologische Behandlung so zu gestalten, daß die psychotherapeutischen Möglichkeiten nicht darunter leiden. Die grundsätzliche Bejahung der Endogenität darf nicht dazu führen, daß man jede neue Phase oder jeden neuen Schub von vornherein für endogen hält. Auf die Notwendigkeit der Unterscheidung einer echten chronischen Verlaufstendenz von einer Chronifizierung, an der das endogene Moment am allerwenigsten beteiligt ist, wird hingewiesen. Fast in jedem chronischen Verlauf steckt ein Stück vermeidbarer Chronifizierung darin.
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Nach einem Vortrag auf der Gütersloher Woche im Oktober 1964.
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Mauz, F. Psychotherapeutische Möglichkeiten bei endogenen Psychosen. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift f. d. ges. Neurologie 206, 584–598 (1965). https://doi.org/10.1007/BF00342357
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