Zusammenfassung
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1.
Die Untersuchungen waren der Frage gewidmet, welche Vorgänge innerhalb der mit Sublimat vergifteten, oligurischen bis anurischen Rattenniere noch vonstatten gehen. In zeitlich abgestuften Stadien nach der Sublimatgabe wurden Farbstofflösungen intravenös injiziert, nach bestimmten vorgesehenen, kurzen (1–30min) Wartezeiten nach der intravenösen Injektion Teile der Nieren im Gefriertrocknungsverfahren fixiert und im histologischen Schnitt der Verbleib der Farbstoffe in der Niere eruiert. Die hier erhobenen Befunde wurden mit den morphologischen Befunden der mit Susa fixierten Nierenteile und mit den Befunden bei den Kontrolltieren verglichen. An Farbstoffen wurden verwandt: Indigocarmin und Trypanblau, die als Indikator für die Primärharnbildung und den Harnfluß im Nephron dienten, Phenolrot, womit die Sekretionsfunktion der Hauptstückzellen beurteilt werden konnte, und Evansblau sowie Kongorot, die bestimmte Rückschlüsse auf die Permeabilität der Basalmembranen gestatteten. Versuchstiere: weibliche Ratten von 160–240g KG. Die Standard-dosis Sublimat betrug 0,5mg HgCl2/100 g KG; Applikation: intraperitoneal. Zum Vergleich damit wurden auch Versuche mit kleineren letalen sowie subletalen Dosen unternommen. Außerdem wurde bei einigen Tieren das Sublimat subcutan appliziert.
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2.
Die morphologischen Veränderungen bei Sublimatvergiftung sind in der Literatur oft beschrieben; wichtig und neu waren folgende Befunde:
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a)
Die für die Sublimatvergiftung typischen Zellnekrosen sind bei den einzelnen Tiergruppen in unterschiedlichen Hauptstückabschnitten zu finden. Diese unter-schiedliche Lokalisation ist von Dosis und Applikationsart des Giftes abhängig. Eine einmalige hohe Dosis intraperitoneal appliziert zerstört vor allem die gewundenen Hauptstücke, protrahiert subcutan applizierte hohe Dosen vor allem die geraden Hauptstücke.
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b)
Neben den typischen Hauptstücknekrosen fanden sich bei allen letal vergifteten Tieren Schwellungen von Hauptstück-, Überleitungsstück- und Mittelstückzellen, die im Verlaufe der Sublimatvergiftung das Nephronlumen allmählich einengen und schließlich vollständig verschließen; ebenso besteht im Bereich dieser Schwellungen eine Komprimierung des Interstitiums und der Capillaren.
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c)
Auch fanden sich bei genauer Durchmusterung der Präparate Einrisse der Basalmembran bei allen letal vergifteten Tieren.
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3.
Die Ergebnisse der Farbstoffversuche mit Indigocarmin und Trypanblau sowie Evansblau und Kongorot gestatten unter Berücksichtigung der morphologischen Befunde folgende Rückschlüsse:
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a)
Als erste Störung der Harnproduktion nach Sublimatgabe zeigt sich eine stark verminderte Wasserrückresorption in den Hauptstücken.
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b)
Die Filtration im Glomerulum nimmt im Verlaufe der Einwirkung letaler Sublimatdosen allmählich ab und sistiert schließlich vollständig.
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c)
Die Ursache für die Störung der Primärharnbildung ist in der Abflußbehinderung des Primärharns zu sehen. Das Abflußhindernis ist durch die hydropischen Schwellungen von Tubuluszellen und die dadurch bewirkte Einengung bis vollständige Verlegung des Nephronlumens im Bereich dieser Schwellungen gegeben. Zunahme der Zellschwellung und Abnahme der Filtration entsprechen sich.
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d)
Die Anurie ist somit durch ein Erliegen der Filtration infolge Abfluß-behinderung des Primärharns bedingt. Es existiert allerdings ein Übergangs-stadium, in dem die Tiere anurisch sind, jedoch noch geringe Primärharnmengen filtriert werden, die im Verlauf des Nephrons vollständig rückresorbiert werden.
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e)
Eine Drosselung der Nierendurchblutung dürfte Anteil an der gestörten Primärharnbildung haben, jedoch kommt ihr keine ausschlaggebende Bedeutung für die Entstehung der Anurie zu.
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f)
Der Begriff „Rückdiffusion“ wurde theoretisch in seine einzelnen Komponenten aufgegliedert; es wurde an Hand der Befunde gezeigt, daß eine „Rück-diffusion“ von Primärharn im Bereich der Epithelnekrosen nur einen sehr unter-geordneten Faktor für die Genese der Anurie darstellt. Eine Diffusion von gelösten Stoffen erfolgt im Bereich der Epithelnekrosen zwischen Tubuluslumen und peritubulären Capillaren entsprechend ihres Konzentrationsgefälles.
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g)
Die Diffusion gelöster Stoffe gestattet es, alle nekrotischen Zellen intravital mit einem intravenös injizierten Farbstoff darzustellen. Diese Anfärbung gelingt mit Trypanblau am besten. Es lassen sich dadurch nekrotische Zellen eindeutig von noch funktionstüchtigen Zellen trennen.
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h)
Die Versuche mit Kongorot und Evansblau machen es wahrscheinlich, daß die Basalmembran im Tubulus bei Sublimatvergiftung in verstärktem Maße für Albumine durchlässig ist. Die Versuche gestatten keine Rückschlüsse auf eine etwaige geänderte Durchlässigkeit der Basalmembran im Glomerulum.
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4.
Die Phenolrotsekretion ließ sich am besten nach gemeinsamer intravenöser Injektion von Phenolrot und Trypanblau beurteilen: es lassen sich dadurch nekrotische Zellen, in die beide Farbstoffe eindringen, eindeutig von solchen Zellen trennen, die selektiv nur das Phenolrot aufnehmen.
Die selektive Aufnahme des Phenolrots ist geringfügig bis zu dem Zeitpunkt erhalten, an dem die Zellmembran auch für andere Farbstoffe durchlässig wird. Die Anreicherung des Phenolrots in der Zelle und dessen Abgabe ins Lumen sind jedoch schon wesentlich früher gestört.
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Die Untersuchungen wurden mit dankenswerter Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft durchgeführt.
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Kriz, W. Histophysiologische Untersuchungen an der Rattenniere bei Sublimatvergiftung. Zeitschrift für Zellforschung 57, 914–952 (1962). https://doi.org/10.1007/BF00332470
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