Zusammenfassung
Ein 55jähriger Patient wurde 1957 zu der Frage begutachtet, ob außer der bei ihm vorliegenden röhrenförmigen Gesichtsfeldeinengung nach einer Apoplexie noch eine optische Agnosie besteht, wie von anderer Seite früher festgestellt worden war. Sein Verhalten und Angaben bei der Agnosieprüfung, die den Bedeutungsgehalt verschiedener Gegenstände schon enthielten, obwohl er sie angeblich nicht erkennen konnte, ließen den Verdacht einer psychogenen Störung aufkommen. Auch waren, nach Zeichnungen und Beschreibungen zu schließen, optische Erinnerungsbilder durchaus vorhanden. — Eine amnestische Aphasie erschien jedoch wahrscheinlich. — Nach 7 Jahren suchten wir den Patienten wieder auf, er hatte inzwischen erneut einen Schlaganfall erlitten. Psychoorganische Symptome standen nun im Vordergrund. Objektagnostische Störungen waren mit Tests jetzt sicher auszuschließen, was die frühere Annahme einer psychogenen Fixierung bestätigte. — Simultan- und Prosopagnosie waren geblieben, was die allgemeine Auffassung stützt, daß diese Störungen allein Folge einer Gesichtsfeldeinengung sind. Der Fall zeigt, daß Röhrensehen einerseits dem Arzt Symptome einer Seelenblindheit vortäuschen kann, andererseits der Patient dabei zur psychogenen Fixierung einer Seelenblindheit neigt, wenn nur gewisse Dispositionen in der Persönlichkeitsstruktur und Expositionen (hier ein Rentenverfahren) hinzukommen.
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Nach einem Vortrag, gehalten auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Düsseldorf, 3.–5. 9. 1964.
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Ploeger, A. Seelenblindheit bei Röhrensehen?. Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde 187, 485–490 (1965). https://doi.org/10.1007/BF00244366
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