1 Friedensforschung im Wandel gesellschaftlicher Konflikte

Das immer wiederkehrende Erleben innerer und äußerer Konflikte und die daraus resultierende Sehnsucht nach Frieden gehören zum Grunderleben des Menschseins. Dem entsprechend widmen sich alle bekannten spirituellen Lehren, Religionen, Gesellschafts‑, Staats- und Rechtsphilosophien oder psychologischen Schulen dieser elementaren Frage.

Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass Friedens- und Konfliktforschung erst vor kurzer Zeit Anerkennung als wissenschaftliche Disziplin erfahren hat. In europäischen Erzählungen wird üblicherweise die Gründung des Peace Research Institute Oslo PRIO durch Johan Galtung im Jahr 1959 als Beginn der akademischen Friedensforschung angenommen. Der 1930 geborene Wehrdienstverweigerer Galtung war in seinen jungen Jahren politisch an Gandhi und philosophisch am damals hoch im Kurs stehenden Strukturalismus orientiert (Galtung 1996).

Der zeitgleiche Beginn der Friedensforschung in den USA war stärker von der allgemeinen Systemtheorie bestimmt, die der 1901 in Österreich geborene Biologe Ludwig von Bertalanffy (1968) seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatte. Sie begann damals, die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu erneuern und im Westen lange nicht diskutierte Fragen über die Beziehungshaftigkeit von Frieden und Konflikt im System Mensch zu stellen. 1957 gründete Bertalanffy mit dem Ökonomen Kenneth Boulding, dem Neurowissenschaftler Ralph Gerard und dem Biologen Anatol Rapoport das Journal of Conflict Resolution, 1959 das Centre for Research of Conflict Resolution an der Stanford University in Kalifornien (Mitchels 2006, S. 24).

Die Entstehung der neuen Disziplin war Ausdruck eines gesellschaftlichen Unbehagens und Wandels, der vor allem durch die nach dem Zweiten Weltkrieg junge Generation eingeleitet wurde. Jean Francois Lyotard (1994, S. 204–214) attestiert dieser Generation, die nach Auschwitz und Hiroshima nicht weiterdenken und weiterleben durfte als wäre nichts geschehen, einen postmodernen Geistes- und Gemütszustand. Der charakterisiere sich durch Zweifel an den großen Narrativen der Moderne, die nicht mehr als wegweisend und bindend akzeptiert werden konnten, obwohl keine überzeugenden Alternativen zur Verfügung standen. Liberalismus oder Marxismus, Idealismus oder Realismus, Judentum, Christentum oder Islam und ähnlich große Erzählungen hatten in gleicher Weise ihren verführerischen Reiz als erschöpfende Welterklärer verloren. Zweifel und Skeptizismus gegenüber technologischen und sozialen Neuerungen waren Ausdruck dieses postmodernen Footnote 1 Geistes- und Gemütszustands.

Wie andere Errungenschaften und Versprechungen der Moderne hatte auch die wissenschaftliche Disziplin der Internationalen Beziehungen in Ausschwitz und Hiroshima ihre Unschuld verloren. Institute zur Erforschung der internationalen Verhältnisse waren erst in Anbetracht des desaströsen Endes des Ersten Weltkriegs überall auf der Welt gegründet worden und noch vom Schulenstreit zwischen Idealismus und Realismus gelähmt, als der Zweite Weltkrieg, Shoah und Little Boy Footnote 2 deren Grundlagen und Legitimität schon wieder in Frage stellten. Wenn die Errungenschaften der Moderne zur industriellen und massenhaften Tötung von Menschen führten, war die Überlegung der Zeit, mochte dem rein rationalen Forschen und Tun ein mörderischer und bis dahin zu wenig beachteter Aspekt innewohnen, den anzuzweifeln Gebot der Stunde schien. Folgerichtig rückte diese Generation die Frage der Interpretation des Friedens jenseits des Nicht-Kriegs zwischen Staaten und die Mechanik zwischenmenschlicher Beziehungen aller Größenordnungen in den Mittelpunkt ihres Interesses.

Friedensforschung als wissenschaftliche Disziplin entstand also zeitgleich mit den Vereinten Nationen in der Atmosphäre des Kalten Kriegs. Das Völkerrecht verstand Konflikt damals als deklarierte Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren anerkannten Staaten, die notwendig aus Territorium, Volk und legitim organisierter Staatsgewalt bestanden. Ironischerweise hat es einen derart völkerrechtskonformen Krieg seit der Gründung der Vereinten Nationen nicht gegeben. Die internationalen Konfliktbilder wandelten sich vom zwischenstaatlichen Krieg über nicht deklarierte Auseinandersetzungen von Stellvertretern der Supermächte zu intrastaatlichen Guerillakriegen.

Ging es dabei bis in die 1990er-Jahre um Ideologien, Staatskonzepte und die Frage, welche Eliten einen Staat regieren sollten, wandelte sich das danach zu dem, was Mary Kaldor (1999) treffend als New Wars bezeichnete. Als neu beobachtete sie das Auftreten von Akteuren, denen es nicht um das Ergreifen der Macht im Staat, Verwaltungskonzepte, Sezession, ethno-politische Autonomie oder Ideologie ging. Viel mehr schoben die neuen Warlords diese Argumente vor, um den physischen Konflikt selbst als Mittel zum Verfolgen ihrer partikulären und regionalen Geschäftsziele oder Machtinteressen zu verwenden. New Wars sollten nicht gewonnen werden, weil ihr Fortdauern optimal für die Profitmaximierung der Akteure war. Bedienen sich allerdings auf einem Territorium zu viele Akteure dieser Methode, kollabiert der Staat. Die Politikwissenschaft entwickelte Instrumentarien zum Messen, in welchem Ausmaß Staaten als failed, weak oder collapsed eingestuft werden müssen. Um die Jahrtausendwende wurde einsichtig, dass das so veränderte Konfliktbild auch eine neue Sicht auf angewandte Konfliktarbeit benötigt. Das historische Scheitern der UN Friedensmissionen in Somalia, Rwanda und Bosnien diente als Mahnmal und Weckruf.

Die konsequente methodische Antwort auf diese Herausforderung gerann im Neologismus elicitive Konflikttransformation, der 1995 vom Friedensforscher John Paul Lederach (1995, S. 37–73) in die Diskussion eingeführt wurde, um jene Methode zu erklären, in welcher sich Konfliktarbeit nicht medizinisch präskriptiv an den „Patienten Konflikt“ richtet, sondern davon ausgeht, dass das transformative Potenzial eines Konfliktes in der Beziehung und im Kontext der Parteien selbst verborgen liege. Elicitive Konfliktarbeit besteht demnach nicht in der Erarbeitung einer Expertise für PatientInnen, sondern in der Errichtung eines Begegnungsrahmens, in dem die KlientInnen selbst die Möglichkeiten einer Veränderung zum als besser Wahrgenommen erkunden. Elicitive Konflikttransformation greift methodisch auf den gemeinschaftlichen Bestand an Wissen, Werten und Kommunikationsformen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gemeinschaften. Sie rückt die Menschen in ihrem Umfeld in den Mittelpunkt der Konfliktarbeit und verschiebt den vorher ausschließlichen Fokus auf die politischen und diplomatischen Eliten hin zu den Middle Ranges und Grassroots.

Die Konfliktbilder haben sich nach der Jahrtausendwende weiter verändert. Der lokale oder regionale Warlord im New War der 1990er-Jahre ist als vorherrschender Typus verklungen. Die einst unter identifizierbaren Warlords örtlich zuordenbaren Faktionen haben sich de-lokalisiert, globalisiert und rhizomatisiert. Die neuesten Akteure im gewalttätigen Konfliktbild ordnen sich selbst entweder gar keinem Territorium zu, oder sie besetzen ein solches ohne Absicht der Errichtung dauerhafter Ordnung im rechtsstaatlichen Sinn. Sie definieren sich über die Orientierung an einem spiritus rector, der oft religionisierende Meinungen und Anweisungen verbreitet, ohne ein Oberkommando im Stile moderner Nationalstaaten oder Armeen zu führen. Vielmehr bildet sich seine Anhängerschaft in rhizomatischen Zusammenhängen mehr oder minder autarker Zellen.

Die Botanik versteht unter Rhizomen Organe unterirdischer Sprossachsensysteme, die mit Sprossknoten und Internodien ausgestattet sind. Sie haben keine Wurzelhaube und sind keine lokal oder funktional zuordenbare Wurzelsysteme. Das beschreibt metaphorisch die idealtypischen Akteursgruppen der Newest Wars. Zellen, Sprossen und Internodien des Systems können überall entstehen und hingelangen, wo das menschliche Biotop für die Botschaften des spiritus rector empfänglich ist. Im Zeitalter der Globalisierung und Urbanisierung gilt das für jeden beliebigen Ort. Die Zellen entstehen in und aus diesen Biotopen, können sich wie Rhizome leicht vermehren, anpassen, teilen und erneuern. Sie vernetzen und unterstützen sich gegenseitig, hängen aber nicht existenziell voneinander ab. Das macht sie gegenüber rechtsstaatlichen Abwehrmaßnahmen besonders widerstandsfähig.

Die Anziehungskraft der meist vagen Botschaft des spiritus rector ergibt sich aus wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Frustrationen, gescheiterten Lebensentwürfen oder kriminellen Karrieren, dem postmodernen Geistes- und Gemütszustand. Der Begriff lehrt, dass es irrig ist, diesen Menschen, selbst wenn sie der Öffentlichkeit als TerroristInnen begegnen, Verstand oder Gewissen abzusprechen. Die Meisterschaft der Konfliktarbeit liegt darin, selbst noch in ihrem gewalttätigen Agieren das Verlangen nach Zugehörigkeit, Anerkennung und Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse, die weit über das Materielle hinausgehen, wahrzunehmen. Selbstgerecht moralisierende oder normative Haltungen helfen hier nicht weiter. Denn am Beginn jeder terroristischen Karriere und Organisation steht das frustrierte Bedürfnis nach einem Platz in der Gesellschaft und der Freiheit, entsprechend handeln und leben zu dürfen.

Vor der dynamischen Entwicklung dieser neue Konfliktbilder erweist sich das Festhalten an historischen Klassikern des Völkerrechts wie der Universellen Deklaration der Menschenrechte von 1948 oder der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 als schwierig. Die Reform der am nationalstaatlichen Prinzip orientierten Vereinten Nationen und damit ihrer Charta aus dem Jahr 1945 steht seit dem Fall des Eisernen Vorhangs zur weitgehend ergebnislosen Debatte. Nicht dass die fundamentalen Inhalte dieser Dokumente obsolet geworden wären. Vielmehr behindert ihre verkrustete Form, die aus inzwischen verklungenen Konfliktbildern entstand, ihre flexible Anwendung vor den Herausforderungen der Gegenwart.

2 Transrationale Friedensphilosophie und Elicitive Konflikttransformation

Erst nach der Jahrtausendwende erfolgte die epistemologische Absicherung des praktischen Ansatzes der elicitiven Konflikttransformation nach Lederach durch die transrationale Friedensphilosophie der Innsbrucker Schule (Dietrich 2008, 2011, 2015). Trans-rational bedeutet ihr, kurz gesagt, den Einsatz des menschlichen Verstandes zur Konfliktarbeit in allen verfügbaren Formen, die modernes Denken hervorgebracht hat, und die Berücksichtigung des vollen menschlichen Potenzials darüber hinaus. Auf der Basis der tantrischen Yogaphilosophie wurde ein „Kartensystem“ menschlicher Beziehungen entwickelt, das jenseits der Homöostase physischer Bedürfnisse sexuell-familiäre, emotional-gemeinschaftliche, mental-gesellschaftliche und spirituell-polizitäre Aspekte einbezieht (Dietrich 2015, S. 37–122).

Diese Veränderung des Verständnisses von Konflikt und internationaler Konfliktarbeit auf der Basis eines holistischen Menschenbildes, das nicht nur den Eliten gilt, sondern auch den Middle Ranges und vor allem den Grassroots, weist auf eine dynamische Annäherung der Nachbardisziplinen Psychologie und Friedensforschung hin. Heute bezweifelt niemand mehr, dass es im Peacekeeping vor und im Peacebuilding nach gewalttätigen Konflikten neben der Kontrolle der physischen Gewalt in erster Linie um die Wiederherstellung kommunikativer Beziehungen auf tiefenkultureller Ebene geht. Der Idee nach entspricht das dem, was im Rahmen der Humanistischen Psychologie Carl Rogers (2005, S. 209 f.) schon 1951 postuliert hat, als er für seine damals begründete Klienten-zentrierte Gesprächspsychotherapie die Nachahmung des diagnostisch-präskriptiven Verfahrens der modernen Organmedizin ausschloss.

Gleichsam als Träger der psychotherapeutischen Botschaft Rogers’ zum zeitgenössischen Friedensforscher Lederach fungierte Adam Curle, der 1975 an der Bradford University in England zum ersten ordentlichen Professor für Friedens- und Konfliktforschung Europas ernannt wurde. 1916 geboren, zugleich Quaker und Tantriker, war Curle gelernter Anthropologe, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg umfangreiche Erfahrung in der Arbeit mit Kriegstraumata gesammelt und zuerst Sozialpsychologie gelehrt. Er wirkte unter anderen in Oxford und Harvard, bevor er nach Bradford berufen wurde.

Curle (1971, 1972, 1973) und später Lederach (1995, 1997, 2005) bauten auf die Erkenntnisse von PsychologInnen und TherapeutInnen, die meist nicht als FriedensforscherInnen geführt werden und ihrerseits die Weisheiten des Sufismus, Zen, Tao und Tantra aus Jahrtausenden neu aufbereiteten. Die Psychoanalyse eines Carl Gustav Jung, Otto Kernberg oder Erik Erikson spielt hier eine Rolle, noch mehr aber die Gründergeneration der Humanistischen Psychologie um Abraham Maslow, Carl Rogers, Lore und Fritz Perls, Virginia Satir oder Ruth Cohn bis hin zu den transpersonalen Ansätzen von Stanislav Grof (Dietrich 2011, S. 55–90). Sie alle stimmen darin überein, dass Unfrieden weniger aus materiellen Notlagen und Interessenskonflikten resultiert, und mehr daraus, dass Menschen ihr Leben lang von Projekten, Plänen und Erwartungen gejagt werden oder sich in Bedauern, Schuld und Scham für Vergangenes verstricken. Konflikt endet durch das Bewusstsein des Lebens und der Beziehungen in der Gegenwart. Das fasste niemand klarer zusammen als der Mystiker Jeru Kabbal (2010, S. 35): „Wir wollen nicht in den Himmel kommen. Wir wollen nicht der Hölle entgehen. Wir wollen ganz einfach hier sein“.

Das ist wahrscheinlich die griffigste und kürzeste Formulierung des transrationalen Friedensverständnisses. Friede ist, wenn wir in allen menschlichen Aspekten einfach hier sein dürfen. Jede Störung davon, ob sie von außen oder von innen kommt, ist Unfrieden, wobei die häufigste Ursache von Unfrieden ist, dass Menschen zu werden verlangen und nicht mit ihrem Sein einverstanden sind.

Adam Curle ist zu verdanken, dass sich zumindest eine Strömung der jungen Friedens- und Konfliktforschung auf die Humanistische Psychologie und deren damals dynamisch wachsenden Wissens- und Erfahrungsschatz stützte. Seine besondere Leistung lag in der sozialwissenschaftlichen Interpretation ihrer Zugänge, wobei das betrachtete Spektrum von den spirituellen Lehren des Ostens über die Befreiungstheologie des Südens und die Friedensphilosophie des Nordens bis zur klassischen Psychologie und Psychotherapie des Westens reichte (Curle 1990, S. 1–19).

Curles innovativer Zugang zur Bearbeitung des posttraumatischen Stresses der früheren Kriegsgefangenen, mit denen er nach dem Zweiten Weltkrieg gearbeitet hatte, wurde viel später, in den 1990er-Jahren, Grundlage für das Verständnis des Post-War Syndroms PWS als Reaktion grundsätzlich gesunder Systeme auf traumatisierende Ereignisse. PWS ist vom Post-Traumatic Stress Disorder PTSD abzugrenzen und nicht als psychiatrische Krankheit einzustufen, obwohl es von psychologischen und therapeutischen Formen der Hilfe profitiert. In der praktischen Konfliktarbeit im Zuge der Balkankriege öffnete Curles Ansatz das Verständnis für die Notwendigkeit jenes Zugangs, den Lederach schließlich elicitive nannte (Mitchels 2006, S. 190–191).

Für dessen Epistemologie ist vorerst der Unterschied zwischen Human Growth und Human Potential substanziell. Beide Begriffe werden oft vermischt oder synonym verwendet. AutorInnen werden unterschiedslos dem einen oder dem anderen zugeschrieben. Die Begriffsunschärfe resultiert aus der sonst so kreativen Vereinigung der „linksfreudianischen“ Version der Psychoanalyse und des Gestalt-Ansatzes mit Aspekten von Tantra, Zen und Tao im kalifornischen Esalen der 1960er und 1970er-Jahre. Viele der weltweit üblich gewordenen Methoden Humanistischer Psychotherapie und elicitiver Konflikttransformation wären ohne diese Begegnung nie entstanden.

In der Begeisterung über die methodische Befruchtung, aus der letztlich eine eigene Strömung der Friedens- und Konfliktforschung entstanden ist, wurde zuerst zu wenig Augenmerk auf die Unterschiede der Episteme gelegt, deren Methoden mit einander verknüpft wurden. Bei der Verwirrung um Human Growth und Human Potential geht es um die Frage, ob die Menschheit an sich an einem kollektiven Wachstumsprozess teilhat, der zielgerichtet durch eine Reihe zivilisatorischer Entwicklungsschritte zu immer höheren Sphären des Bewusstseins führt, oder ob jedes menschliche Wesen kraft Geburt mit einem spezifischen Bewusstseinspotential ausgestattet ist, das in einem jeweils mehr oder minder großen Maß biographisch ausgeschöpft wird. Dieser Unterschied ist für angewandte Konfliktarbeit entscheidend, weil er ihr eine jeweils andere Ausrichtung gibt und grundverschiedene Erwartungshaltungen unterstellt.

Human Growth, inspiriert von der Entwicklungs- und Wachstumseuphorie der 1960er-Jahre, rief ein Neues Zeitalter oder einen Neuen Menschen aus, weil es im Amalgam aus westlicher Wissenschaft und östlicher Philosophie, den damals neuen psychotherapeutischen Verfahrensweisen und Meditationstechniken eine Zeitenwende sah. Der Menschheit hätte sich in ihrer Evolution eine neue Dimension des Bewusstseins erschlossen, wurde postuliert. Auf der Basis westlichen Wachstumsdenkens und östlicher Praxis entstand ein Gemenge von New Age Lehren, deren auffälligste Gemeinsamkeit darin lag, das Individuum aufzufordern, fit für das Neue Zeitalter, neu, vollkommen oder gar erleuchtet zu werden: „Bemühe Dich jetzt, opfere die Gegenwart für eine bessere Zukunft!“

Human Potential hingegen meint den Versuch, das auszuschöpfen, was kraft des Menschseins mit unserer natürlichen Ausstattung erfahrbar ist. Human Potential geht von der Annahme aus, dass grundsätzlich jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort die äußersten Bereiche des Bewusstseins erkunden kann. Es ist die freie Entscheidung des Individuums, ob es dieses Potenzial für sich erschließt und ausschöpft. Da die geistigen Funktionen des Menschen an die Verfügbarkeit eines physischen Körpers gebunden sind, hat diese Entscheidung und Möglichkeit mit subjektiver Erfahrung und Begegnung, mit Kontext, Kultur und Wachstum zu tun.

Die Idee des Human Potential erinnert die Wahrnehmbarkeit des Hier und Jetzt als möglichst vielfältiges Spektrum von Entscheidungsoptionen zwischen Selbstbewahrung und Selbsterweiterung, aus der Konflikttransformation in jedem Augenblick entstehen kann. Aus seiner Spontanität schöpft der Mensch in jeder Begegnung die Kraft im dauernden Entscheidungszwang als Kontaktgrenze in Tätigkeit: Bewahrung oder Veränderung? Das ist die Frage, die sich in jedem Moment des menschlichen Lebens stellt. Die Antwort kennt keine Richter, aber sie hat Konsequenzen. Sie hängt nicht von der Evolution der ganzen Menschheit oder einem zivilisatorischen Heilsauftrag ab. Direktes Erfahren ereignet sich im subjektiven Wachstum, das bei jeder Geburt von neuem beginnt und insofern keiner Heilsgeschichte unterliegt. Auf dieser Möglichkeit beruht die Praxis der elicitiven Konflikttransformation, die einem teleologischen Heilsgeschehen weder dienen kann noch will.

3 Psychodrama als Element elicitiver Konflikttransformation

Die Abkehr der jungen Friedens- und Konfliktforschung von den Glaubenssätzen der Internationalen Beziehungen korrespondiert mit der Rebellion der Humanistischen Psychologie gegen die älteren Schulen des Behaviorismus und der Psychoanalyse. Beide sind Ausdruck und Katalysatoren eines gesellschaftlichen Wandels, der zu anderen Denkweisen, zu einem neuen Umgang mit individuellen und sozialen Konflikten lud. Wenn die Notwendigkeit besteht, der Humanistischen Psychologie Gründerväter zuzuschreiben, werden meist Abraham Maslow und Tony Sutich genannt, weil sie 1961 das Journal of Humanistic Psychology gründeten, fast zeitgleich mit dem Ersterscheinen des Journal of Conflict Resolution in den USA und jenem des Journal for Peace Research in Europa.

Humanistische Psychologie ist als Theorie und Praxis älter als die akademische Friedensforschung. Aber sie war vor allem in den USA von Beginn an mit deren Ansätzen und Absichten verwandt und verbunden. Die Vorschichte könnte bis zu William James (1842–1910) als gleichsam ersten amerikanischen Friedenspsychologen zurück erzählt werden. Zeitlich am halben Weg dahin liegt Jacob Levy Morenos in seiner historischen Authentizität umstrittenes Aufbegehren gegen Sigmund Freud. Er soll ihm noch als dessen Student in Wien gesagt haben:

Nun, Dr. Freud, ich beginne dort, wo Sie aufhören. Sie treffen Menschen in der künstlichen Umgebung Ihres Büros. Ich begegne ihnen auf der Straße und in ihren Heimen, in ihrer natürlichen Umgebung. Sie analysieren sie und reißen sie in Stücke. Ich lasse sie ihre konflikthaften Rollen ausagieren und helfe ihnen, die Teile wieder zusammenzufügen. (Moreno 1995, S. 65 f.)

Was auch immer damals wirklich gesagt wurde; dieser Satz aus Morenos Biographie ist eher als revolutionäre Erkenntnis zu lesen denn als studentische Dreistigkeit. Die mit Morenos Namen untrennbar verbundene Methode des Psychodramas erlangte auf dieser Ein- und Absicht ruhend bleibenden Stellenwert als theatralische Methode der Psychotherapie und verwies auf viel spätere Ansätze der Friedens- und Konfliktforschung.

Frei nach Moreno beginnt elicitive Konflikttransformation da, wo präskriptive Konfliktlösung aufhört. Präskriptive Konfliktlösung trifft Menschen in der künstlichen Umgebung von Konferenzräumen. Elicitive Konflikttransformation begegnet ihnen auf der Straße und in ihren Heimen, in ihrer natürlichen Umgebung. Präskriptive Konfliktlösung analysiert, diagnostiziert und beurteilt sie fragmentarisch. Elicitive Konflikttransformation lässt sie ihre konflikthaften Rollen ausagieren und hilft, alternative Optionen des Handels und Beziehens zu erkunden.

Elicitive Konflikttransformation bedient sich zahlreicher Einsichten und Methoden der Humanistischen Psychologie und gleicht denen in vielem mehr als den Hauptströmungen der Sozial- und Politikwissenschaften. Auch die Standards des Psychodramas lassen sich leicht in die Sprache der elicitiven Konflikttransformation übersetzen. Wenn Moreno etwa meint, dass alles gut ist, was Freude bringt (Tomaschek-Habrina 2004, S. 115), plädiert er implizit für einen geradezu ekstatischen Friedensbegriff, nach dem der Tod die Menschen lebend vorfinde, und nicht umgekehrt. Das ist auf anachronistische Art transrational. Das Psychodrama war nicht nur Vorläufer und früher Aspekt der Humanistischen Psychologie. Es vereinte sich mit deren späteren Schulen zu jenem methodischen Bündel, das entscheidend für die Entstehung transrationaler Friedensphilosophie und elicitiver Konflikttransformation in der Nachbardisziplin angesehen wird.

Grundlegend für Morenos Denken und später richtungsweisend für Curle und Lederach ist die im sephardischen Judentum wurzelnde Orientierung am Guten im Menschen (ebd.). Das steht in prinzipieller Übereinstimmung mit der Ethik der Quäker und Mennoniten, des buddhistischen, hinduistischen und taoistischen Tantra, des Sufismus und der Befreiungstheologie, die alle die Friedensforschung in ihrem Werdegang beeinflussten.

Moreno erhebt in seiner Didaktik das Gebot des Hier und Jetzt zu einem zentralen Theorem. Er meint, dass sich zahlreiche Vergangenheiten und Zukünfte manifestieren, sofern das Spiel im Hier und Jetzt gehalten wird. Nur so könne sich der „göttliche Funke“ zeigen, der Transformation ermögliche und bewirke. Das deckt sich philosophisch und methodisch mit den Grundlagen elicitiver Konflikttransformation. Da es jetzt gerade immer nur eine gelebte und beziehungshafte Wirklichkeit gibt, die notwendig zahlreiche frühere Erfahrungen und Zukunftsprojektionen einschließt, gilt es für die Parteien anzunehmen, was gerade ist, nicht das, was für die Zukunft erhofft oder befürchtet wird. Denn das ist jetzt weder verfügbar noch bedrohlich. Hier liegt ein markanter Unterschied zum anthropologischen Optimismus des deutschen Idealismus, dessen Wort- und Zukunftsorientierung die Hauptströmungen in Politik, Religion und Humanwissenschaft nach wie vor beeinflusst.

Besonders wichtig war Moreno als Vorreiter gruppentherapeutischer Methoden in der Psychotherapie und in der Folge auch in der Konfliktarbeit. Con-scientia bedeutete ihm, dass wir Menschen die Welt gemeinsam durch unsere Beziehungen erfahren, nicht durch isoliert subjektives Erleben. Er nahm methodisch vieles vorweg, was später naturwissenschaftlich etwa durch Ludwig von Bertalanffy oder Gregory Bateson in deren Systemtheorien ausformuliert wurde. Das fand Eingang in verwandte therapeutische Schulen und von da aus in die Friedenswissenschaft.

Eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang die Verschiebung der Ausrichtung konfliktzentrierter Gruppenarbeit vor den Herausforderungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Geistes- und Gemütszustände und den daraus resultierenden Arbeitszielen. Morenos originäre Leistung lag darin, die Gruppenenergie als Verstärker individueller Heilungsprozesse zu entdecken und systematisch anwendbar zu machen. Dem entsprechend war ihm Katharsis in der uralten Tradition des Theaters ein wünschenswertes, weil individuellen und sozialen Druck ab- und Entspannung aufbauendes Ziel. Das ist so in den Rahmen einer modernen Weltsicht eingebettet.

Augusto Boal (1989) baute eine Generation später methodisch darauf auf, als er sein Theater der Unterdrückten entwarf, das den Anwendungsschwerpunkt vom Therapeutischen zum Politischen verschob und dabei in strukturalistischer Manier Morenos Logik umdrehte. Er wollte nicht mehr die Gruppe zum Heilen des Individuums einsetzen, sondern umgekehrt individuelle Erkenntnis zum Heilen der Gesellschaft. Dem entsprechend war sein Ziel auch nicht Gruppenkatharsis zwecks Druckabbau, sondern Steigerung des Bewusstseins und des daraus resultierenden politischen Drucks, um gesellschaftliche Befreiung aus der Unterdrückung zu bewirken. Deshalb gewannen Öffentlichkeit und Wiederholbarkeit bei Boal einen zentralen Stellenwert, den diese Prinzipien bei Moreno so nicht hatten. Das ursprüngliche Entstehen des Theaters der Unterdrückten unter den politischen Verhältnissen der Militärdiktatur Brasiliens macht die Absicht aus dem postmodernen Geistes- und Gemütszustand ihrer Zeit gut nachvollziehbar (Staffler 2009, S. 15–63).

Eine weitere Generation später griff David Diamond (2007) in Kanada Boals Methoden und Erfahrungsschatz auf, entkleidete sie aber ihrer postmodernen Absicht. Er bettete sie in die bis dahin weit vorangeschrittenen Erkenntnisse der Systemtheorien ein und löste Boals strukturalistische Polarität zwischen Unterdrückten und Unterdrücker auf. Diamond entwarf im Theatre for Living einen streng beziehungshaften Ansatz. Ihn interessiert die Vielschichtigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen und ihres Scheiterns nicht an der Oberfläche der Episode, sondern in der Tiefe des zwischenmenschlichen Epizentrums. Er heilt weder Individuen noch Gruppen, er heilt Beziehungen. Diamond (2007, S. 106) bettete den Kanon der Methoden in jene transrationale Logik, die ihn zu einem wertvollen Werkzeug elicitiver Konflikttransformation im 21. Jahrhundert machte.

Den therapeutischen Arbeitsstil lehnt Diamond wegen der möglichen Steuerung des Spiels durch die LeiterInnen ab. Dies gefährdet ihm sein Primat des authentischen Spiels und direkten Dialogs. Doch just Moreno sah TherapeutInnen im selbstbestimmten Schöpfungsprozess des Gruppenbewusstseins revolutionär als BegleiterInnen, nicht als ÄrztInnen, LehrerInnen oder ExpertInnen. Seine Therapie kooperiert mit der inneren Weisheit der KlientInnen. Möglicherweise wurde dem von seinen SchülerInnen nicht immer gefolgt, aber ein Paradigmenwechsel von Moreno zu Diamond kann diesbezüglich kaum beobachtet werden.

Vorerst wurde daraus bei Boal die funktionelle Figur des so genannten Jokers, den Diamond letztlich übernahm. Elicitive Konflikttransformation leitet daraus das Verständnis der FriedensarbeiterInnen als Providers oder Facilitators ab. Das erklärt, weshalb in der Didaktik des Strategic Leadership and Relationship Training der Innsbrucker Schule zuerst die persona der Studierenden als potenzielle FriedensarbeiterInnen in den Mittelpunkt gestellt wird. Er oder sie ist sich selbst später, als Facilitator, das wichtigste Arbeitswerkzeug bei der Erstellung jenes Rahmens, in dem die Parteien alternative Handlungs- und Begegnungsmöglichkeiten erkunden. Sich selbst nicht mit einer ExpertIn des Konfliktes anderer zu verwechseln, ist dieser Schule Kunst und Wissenschaft zugleich.

Zusammenfassend entwickelten sich aus dem originären Psychodrama variantenreiche Spielformen der Konfliktarbeit, die vor den Herausforderungen der jeweiligen Zeit ihre Ausrichtung und Philosophie veränderten, aber stets ein populäres und wirkungsvolles Werkzeug der praktischen Anwendung darstellten. Elicitive Konflikttransformation betrachtet das Theatre for Living nach Diamond als Königsdisziplin unter ihren atem-, stimm- und bewegungsorientierten Methoden (Dietrich 2011, S. 278).

4 Conclusio

Humanistische Psychologie und Friedensforschung sind aus demselben Geistes- und Gemütszustand der Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Im Wandel des Kalten Krieges wurde die epistemologische und methodische Verwandtschaft der beiden Nachbardisziplinen zuerst relativ wenig beachtet. Mit den veränderten Konfliktbildern nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fanden immer mehr psychologische und psychotherapeutische Methoden Eingang in den Arbeitsalltag der angewandten Konfliktarbeit und der grundlagenorientierten Friedensforschung. Die New und Newest Wars als konfliktive Realität mit den konsequenten Dysfunktionen gesellschaftlicher Systeme verlangten nach einer permanenten Modifikation und Anpassung der Methoden.

Indem die jüngste Entwicklung die Schlachtfelder globaler Auseinandersetzungen auch in die Lebensräume der am meisten industrialisierten Staaten getragen hat und sich die systemische Beziehung der Täter- und Opferbevölkerung immer dichter vermengt, verschwimmt auch die Grenze zwischen klassischer Psychotherapie und elicitiver Friedensarbeit. Entscheidend für Konfliktarbeit ist, dass sie den sich laufend ändernden Konfliktbildern folgt und auf die Bedürfnisse von Parteien und Opfern reagiert. Das verlangt nach geistiger und emotionaler Flexibilität belastbarer FriedensarbeiterInnen. Sie müssen akademisch in der Lage sein, die Grundlagen mit den sich laufend ändernden Anforderungen der Praxis zu verbinden. Konfliktarbeit erfordert heute zudem Teamfähigkeit und interkulturell einsetzbare Fachkräfte, die sich ihrer Potenziale und Grenzen jederzeit bewusst sind.

Dies benötigt Ausbildungswege, welche die neuen Episteme und praktischen Ansätze verbinden, didaktisch verarbeiten und vermitteln. Die Innsbrucker Schule lieferte mit ihrem Strategic Leadership and Relationship Training im Rahmen der transrationalen Friedensphilosophie eine tragfähige Ausbildung für die elicitive Praxis nach Adam Curle und John Paul Lederach. Das Psychodrama ist in seiner ursprünglichen Form wie auch in seinen späteren Ableitungen integrativer Bestandteil dieser Ausbildung und der Anwendung in der Praxis.