Beim Verfassen dieses Editorials für unser Themenheft zum interkulturellen Coaching kam mir folgendes Erlebnis wieder in den Sinn: Auf einer Tagung von Unternehmern, die sich wirtschaftsethischen Fragen verpflichtet fühlen, erfolgte nach einem Vortrag zur Bedeutung von interkultureller Kompetenz eine rege Debatte. Ein älterer Herr, wohl über achtzig und verdienter Pensionär, meldet sich zu Wort und erklärt, dass er das Neue an dem Thema nicht sehe: Mit der Montan-Union sei Frankreich zu seiner Zeit vom Kriegsgegner zum Wirtschaftspartner geworden, und er habe dann natürlich die französische Sprache gelernt, sich mit der Kultur beschäftigt, sei oft in das Land gereist und damit sei auch das gegenseitige Verständnis gewachsen. Und diese Herangehensweise sei auch heute noch richtig. Ein jüngerer Unternehmer entgegnet, diese Herangehensweise würde ihn überfordern: Seine Kunden seien in USA und Korea, die Produktion in China, die Abrechnung erfolgt in Polen, und sein Entwicklerteam arbeite in Deutschland und setze sich aus zwei Bayern, einem Spanier, einem Libanesen und drei Norddeutschen (Hessen) zusammen. Er könne nicht alle Sprachen lernen, man verständige sich auf Englisch, was manchmal schon schwierig genug sei, seine Aufenthalte in den Ländern beschränken sich auf das Notwendigste, und bei der Fülle der Länder fehle es ihm schlicht an der Zeit, sich in der Tiefe einzuarbeiten. Interkulturelles Lernen bedeute für ihn bisher, aus den eigenen Fehlern zu lernen, daher sei ihm jede systematische praktische Unterstützung in diesem Feld willkommen.

In diesem Anforderungsrahmen bewegen sich Coaches, wenn sie interkulturelle Coachings anbieten. Dabei offerieren sie eine Dienstleistung, deren Inhalt, Methodik und theoretischer Unterbau bei weitem nicht so klar sind, wie der eingängige Name für das Produkt suggerieren mag. Darüber hinaus vereinen sich im interkulturellen Coaching zwei Begriffe: „interkulturell“ und „Coaching“, die man als „fuzzy concepts – unscharfe Konzepte“ bezeichnen kann. Etliche grundsätzliche Fragestellungen sind daher ungeklärt und erfahren bisher noch ungenügender Beachtung:

  • Was ist das Interkulturelle im interkulturellen Coaching? Coach, Klient und/oder das Arbeitsfeld des Klienten? Es ergeben sich sehr unterschiedliche Anforderungen, ob der Coach den deutschen Unternehmer aus dem obigen Beispiel coache oder seinen libanesischen Teammitarbeiter, der aus einer drusischen Oberschichtsfamilie stammt.

  • Mit welchem Kulturverständnis agieren Coach und Klient im Coaching? Damit eng verbunden ist die Vorstellung davon, wie interkulturelles Lernen im Rahmen des Coachings erfolgen soll und welches Ziel im interkulturellen Coaching verfolgt wird.

  • Was qualifiziert einen Coach zum interkulturellen Coach? Um eine Professionalisierung und die Entwicklung von Qualitätsstandards im interkulturellen Coaching voranzutreiben, ist es notwendig, explizite Kompetenzen für interkulturelle Coaches zu formulieren. Dabei geht es um ein umfassendes Kompetenzprofil, das sich nicht allein auf interkulturelle Aspekte wie Migrationspsychologie, interkulturelles Lernen beschränkt, sondern Anforderungen an klassische Coaches beinhaltet, da nicht alle Problemstellungen in der internationalen Zusammenarbeit interkultureller Natur sind.

  • Welche spezifischen Methoden oder methodischen Anpassungen sind für ein interkulturelles Coaching notwendig?

  • Welche Reaktionen und Erwartungen lösen kulturelle Zuschreibungen im Coaching aus, und wie beeinflussen sie die Coachingdynamik?

In diesem Heft greifen die Autor/innen diese und eine Reihe weiterer Fragestellungen auf. Stefan Schmid beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Konstellationen, in denen Coach und Klient nicht denselben kulturellen Hintergrund teilen. Er analysiert mögliche Auswirkungen auf Coachingziele, Methodenwahl und Beziehungsgestaltung im Coaching und schlägt einen systematischen Reflexionsrahmen vor, der es Coaches erleichtert, potentielle kulturelle Biases im Coaching zu erkennen und adäquat zu explorieren. Dies setzt ein hohes Maß an interkultureller Kompetenz auf Seiten des Coachs voraus, die bisher kaum in Kompetenzprofilen für interkulturelle Coaches expliziert, geschweige denn in Ausbildungen geschult wird.

Kirsten Nazarkiewicz zeichnet die Entwicklung des interkulturellen Coachings als Spezialisierung im Bereich des Coachings im Laufe der letzten 20 Jahren nach. Sie bietet einen umfassenden und kritischen Blick auf den „state of the art“ und beleuchtet dabei vor allem das zugrundeliegende Kulturverständnis in vielen aktuellen Publikationen. Die Autorin sieht die Zukunft des interkulturellen Coachings in einer Dynamisierung des Kulturbegriffs und erläutert drei Metakonzepte, deren unterschiedliche Sichtweisen sich im Coaching ergänzen und auf Multiperspektivität anstelle von eindimensionalen Kulturzuschreibungen setzen.

Sylvia Schroll-Machl, Stefan Schmid und Emily Slate befassen sich mit der Komplexität von Coachings in einem internationalen Arbeitsfeld, wie sie im einleitenden Beispiel des Editorials dargestellt wurde. Sie warnen vor einer reinen Fokussierung auf kulturelle Wirkfaktoren, da die Probleme der Klienten nur in einem Zusammenwirken von persönlichen, organisationsspezifischen und kulturellen Faktoren verstanden werden können. Anhand von Fallbeispielen werden dieses Dreieck und dessen Konsequenzen für Coachingprozesse verdeutlicht und in einem Phasenmodell der Beratung veranschaulicht.

Kiriko Nishiyama bietet in ihrem Beitrag zunächst eine sehr prägnante sozio-historische Herleitung kultureller Besonderheiten Japans, um dann die Situation japanischer Migrant/innen in Deutschland zu erläutern. Sie stellen eine ganz spezifische „Stichprobe“ der japanischen Kultur dar, die von großer Heterogenität gekennzeichnet ist. Ein erfahrungsbasiertes Kategoriensystem und Fallbeispiele veranschaulichen die Vielfalt der Coachinganlässe und Lebensumstände japanischer Migranten in Deutschland. Besonders faszinierend ist Nishiyamas Analyse, mit welchen Erwartungen insbesondere japanische Klientinnen an sie als Coach und „Exil-Japanerin“, die es geschafft hat, in Deutschland zu reüssieren, herantreten.

Im offenen Teil dieses Heftes gewähren Alessa Antonia Müller und Silja Kotte einen Einblick in die Innovationslandschaften Deutschlands und Israels. Neben den Vergleichen der beiden Gesellschafts- und Führungskulturen steht das Voneinander Lernen dieser historisch schwer belasteten Opfer-Tätergruppen im Fokus ihres Beitrags. Wie wird Lernen und innovationsbezogenes Outcome in einem gemeinsamen Leadership Development-Programm möglich? Welche Prozessfaktoren können als förderlich oder als hinderlich ausgemacht werden? Dieses Erfahrungslernen wird kontextualisiert durch den aktuellen Forschungsstand zu Trainings mit heterogenen Teilnehmergruppen.

Carla Albrecht, Anja Kluge und Friederike S. Bornträger wenden sich mit ihrem Praxisbericht einer zentralen Frage des Gesundheitswesens zu, die uns alle umtreibt: der Ärzt/innenmangel und der Pflegenotstand. Darauf können einzelne Krankenhäuser kurzfristig nur mit der Erhöhung ihrer Haltekraft reagieren. Die Autorinnen stellen quasi eine Blaupause für die Beratungstätigkeit im Gesundheitswesen zur Verfügung. Anschaulich beschreiben sie einen diagnostischen Zugang zur Analyse der aktuellen Arbeitssituation und entwickeln daraus ein Beratungsdesign zur optimalen Gestaltung der Kooperation, der Steigerung des Wohlbefindens und der damit einhergehenden Leistungssteigerung. Zentrale Hebel sind dabei die psychologischen Grundbedürfnisse Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit.

Für unseren Diskurs konnten wir Gerhard Roth gewinnen. Neurocoaching gilt in der Berater/innenszene als der aktuelle Hype. Als prominenter Vertreter der Neurowissenschaften setzt er sich kritisch mit den unterschiedlichen Psychotherapieverfahren auseinander, aus denen die meisten unserer Beratungsmethoden abgeleitet sind. Er diskutiert die jeweiligen Wirksamkeiten und Defizite, verschafft dem Leser „wie nebenbei“ noch einen Grundkurs „Gehirn“ und diskutiert unterschiedliche Interventionen und die so zentrale Arbeitsallianz, die auch im Coaching als zentraler unspezifischer Wirkmechanismus gilt, auf neurobiologischer Grundlage.

In unserer Reihe Filmanalysen setzt sich Jutta Menschik-Bendele – passend zu unserem Schwerpunktthema – mit dem Film „Die Klasse“ von Laurant Cantet und François Bégaudeau auseinander, der 2008 in Cannes die goldene Palme gewann. Bewegend zeigt der Film ein Schuljahr einer vierten Klasse am Collège im 20. Arrondissement, einem multiethnischen Bezirk am nordöstlichen Stadtrand von Paris. Die vierzehn- bis sechzehnjährigen Schüler und Schülerinnen sind so „echt“ wie die Lehrkräfte, die in dem Film ihrer herausfordernden Tätigkeit nachgehen. Die Autorin nimmt eine scharfsinnige Analyse der Bedeutung der Institution Schule für die Adoleszenz vor. Die Lehre/innen-Schüler/innen-Interaktionen sind so voller Leidenschaft, dass der Filmgenuss zur Pflichtveranstaltung jedweder Lehrer/innenbildung werden sollte.