Einleitung

Die Neuroethik ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das ethische Implikationen der Neurowissenschaften von der Grundlagenforschung bis zur praktischen Anwendung untersucht und auf Ebene des Individuums wie der Gesellschaft normative Orientierung geben will (Jox 2017). Die Neuroethik ist also ein Forschungsfeld, keine homogene Disziplin mit eigenständiger Methodik und exklusivem Forschungsobjekt. Angetrieben wird sie durch die Entwicklung der Neurotechnologien (Roskies 2016). Über die Definition und den Gegenstandsbereich der Neuroethik gibt es eine anhaltende Kontroverse, die nicht zuletzt eine Folge der Heterogenität dieses neuen und dynamischen Forschungsfelds ist. Einerseits ist die Neuroethik ein Teilbereich der angewandten Ethik, andererseits hat sie große Überschneidungen mit der Neurophilosophie, was gegen ihre Subsumption unter die angewandte Ethik spricht (Jox et al. 2010; Jox 2017). Einige Erkenntnisse der Neurowissenschaften betreffen Menschen in ihrem Selbstverständnis und stellen traditionelle Vorstellungen von Autonomie und Authentizität in Frage (Parens 1998; Nagel 2010; Müller 2014, S. 9–11; Leefmann 2017, S. 285–326). Indem die Neurowissenschaften Handlungsspielräume erweitern, stellt sich die Frage, wie Menschen sein wollen und sein sollen, mit neuer Brisanz (Presidential Commission for the Study of Bioethical Issues 2015). Manipulationen des Gehirns haben weitreichende Implikationen für philosophische Konzepte wie personale Identität, moralische Verantwortlichkeit und Autonomie.

In diesem Aufsatz gehen wir zunächst auf die kurze Geschichte der Neuroethik und ihrer Institutionalisierung ein und stellen einflussreiche Definitionsversuche der Neuroethik vor. Anschließend skizzieren wir ihre beiden Hauptbereiche: die angewandte Ethik der Neurowissenschaften sowie ethische Implikationen der neurowissenschaftlichen Forschung zur Moralität. Schließlich ziehen wir ein kurzes Fazit.

Eine solche Überblicksarbeit zur Standortbestimmung der Neuroethik für den deutschsprachigen Raum zu erstellen, ist eines der ersten Ziele der 2015 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Neuroethik in der Akademie für Ethik in der Medizin. Das erscheint uns deshalb besonders wichtig, da es in diesem Raum zwar zahlreiche wissenschaftliche Aktivitäten zur Neuroethik gibt, aber bisher kaum eine Verständigung über deren Definition und Charakteristika. Einen solchen, für die Entwicklung des Feldes wichtigen Verständigungsprozess wollen wir mit dieser Arbeit fördern.

Die kurze Geschichte der Neuroethik und ihrer Institutionalisierung

Die Neuroethik blickt inzwischen auf eine fünfzehnjährige, dynamische Geschichte zurück. Als ihre Geburtsstunde gilt die Konferenz „Neuroethics: Mapping the Field“ in San Francisco im Jahr 2002, die von der Stanford University, der University of California San Francisco und der DANA Foundation veranstaltet wurde (Saffire 2002; Marcus 2004).

Während eines Treffens im kalifornischen Asilomar im Jahr 2006 kam es zur Gründung einer ersten Fachgesellschaft, der „Neuroethics Society“. Vier Jahre später schloss sich die Neuroethics Society mit dem seit 2005 bestehenden „International Neuroethics Network“ zusammen. 2011 gab sich die Gesellschaft den Namen „International Neuroethics Society“ (INS), um ihre Internationalität zu betonen, auch wenn sie bis heute von nordamerikanischen WissenschaftlernFootnote 1 dominiert wird. Die INS organisiert eine jährliche Tagung in den USA, die in den letzten Jahren im Anschluss an die Tagung der Society for Neuroscience stattfindet. Seit 2009 gibt es zudem die Konferenzreihe „Brain Matters“ an nordamerikanischen Universitäten.

In Europa haben sich eigene Neuroethik-Organisationen gebildet. So wurde 2007 das „European Neuroscience and Society Network“ an der London School of Economics mit Förderung der European Science Foundation gegründet. Dessen erklärtes Ziel war, dass europäische Neuroethiker eine alternative Forschungsagenda vorantreiben sollten, die weniger auf abstrakter Spekulation als auf empirischem Wissen und sozialwissenschaftlicher Methodologie basieren sollte. Nachdem 2012 die Förderung auslief, wurden die Aktivitäten unter dem Namen „Neuroscience and Society Network“ fortgeführt. Die 2010 in Padua gegründete „European Association for Neuroscience and Law“ fokussiert auf rechtliche Fragen der modernen Neurowissenschaften. Sie veranstaltet jährliche Konferenzen sowie Sommerschulen. Im Jahr 2013 wurde die „Società Italiana di Neuroetica e Filosofia delle Neuroscienze“ gegründet, die ebenfalls jährliche Konferenzen und Sommerschulen veranstaltet. Für die deutschsprachigen Länder hat sich im April 2015 unter dem Dach der Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen die Arbeitsgemeinschaft Neuroethik gegründet, deren Mitglieder die Autoren dieses Aufsatzes sind. In Paris findet jährlich eine Tagung des „Neuroethics Network“ statt, die von Cambridge University Press und dem Paris Brain and Spine Institute (Hôpital Pitié-Salpetrière) finanziell gefördert wird. Auch das Instituto de Bioética da Universidade Católica Portuguesa in Porto (Portugal) hat 2016 seine zweite internationale Neuroethik-Konferenz veranstaltet.

Mit der Gründung einschlägiger Zeitschriften erhielt das neue Forschungsgebiet eine größere Sichtbarkeit: So lancierte der Springer-Verlag im Jahr 2008 die Zeitschrift „Neuroethics“ (ISI-Impactfaktor von 0,984 für 2016), und 2010 wurde das „American Journal of Bioethics Neuroscience“ als Ableger des American Journal of Bioethics (AJOB) bei Taylor & Francis gegründet. Während das AJOB den höchsten ISI-Impactfaktor der Ethik sowie der Medizinethik hat (2016: 6,434), fehlt dieser dem AJOB Neuroscience allerdings bisher. Auch die 2013 gegründete Open Access-Online-Zeitschrift „Journal of Cognition and Neuroethics“ hat noch keinen Impactfaktor. Möglicherweise ist diese Situation einer der Gründe, weshalb gemäß einer aktuellen bibliometrischen Studie Neuroethik-Aufsätze häufiger in biomedizinischen als in geistes- oder sozialwissenschaftlichen Zeitschriften erscheinen (Leefmann et al. 2016).

Inzwischen gibt es zahlreiche Monographien und Sammelbände zur Neuroethik (z. B. Saffire 2002; Stier 2006; Levy 2007; Racine 2010; Nagel 2010; Scharifi 2011; Glannon 2011). Wichtig für die Etablierung der Neuroethik sind Handbücher: das „Oxford Handbook of Neuroethics“ (Illes und Sahakian 2011), „Neuroethics. Anticipating the Future“ (Illes 2017), das dreibändige „Handbook of Neuroethics“ (Clausen und Levy 2015) sowie das „Routledge Handbook of Neuroethics“ (Johnson und Rommelfanger 2017). Auch eine Buchreihe namens „Advances in Neuroethics“ (Springer-Verlag) wurde jüngst initiiert. Die Mehrheit der in der Neuroethik publizierenden Autoren arbeitet in Institutionen, die entweder zur biomedizinischen Forschung oder zur Medizinethik gehören; nur eine Minderheit ist in geistes- oder sozialwissenschaftlichen Fakultäten beschäftigt (Leefmann et al. 2016). Die meisten Neuroethiker haben eine akademische Ausbildung in Medizin (40 %), Psychologie (14 %), Neurowissenschaften (10 %) oder Philosophie (9 %) (Leefmann et al. 2016).

In Nordamerika existieren bereits spezielle Neuroethik-Forschungszentren oder größere Neuroethik-Forschungseinheiten, z. B. das „Atlanta Neuroethics Consortium“ als Zusammenschluss von Neuroethikern der Universitäten Emory, Georgia Tech, Georgia State u. a., das „Center for Neuroscience and Society“ an der Universität von Pennsylvania, die „Mind, Brain Imaging and Neuroethics Research Unit“ an der Universität von Ottawa, der „Canadian National Core for Neuroethics“ an der University of British Columbia und die „Neuroethics Research Unit“ am Institut de recherche clinique in Montreal. In Europa gibt es nur wenige Institutionen oder Lehrstühle, die explizit der Neuroethik gewidmet sind, insbesondere das „Oxford Centre for Neuroethics“ und die Abteilung „Ethik in den Neurowissenschaften“ am Forschungszentrum Jülich. Ethische, rechtliche und soziale Implikationen der Neurowissenschaften werden auch am „French National Institute of Health and Medical Research“ erforscht.

In Deutschland werden neuroethische Projekte vor allem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert.Footnote 2 Projekte mit internationalen Partnern werden seit 2006 gefördert, insbesondere mit Kanada, Finnland, Spanien, Portugal, Israel, der Türkei und der belgischen Wallonie (allerdings nicht mit Flandern oder Brüssel). Auch die Volkswagen-Stiftung und die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben einige neuroethische Projekte gefördert. Im „Human Brain Project“ der Europäischen Union ist ein Teilprojekt der sozialwissenschaftlichen und ethischen Forschung gewidmet (Jox und Müller 2017).

Definitionen und Ziele der Neuroethik

Der Begriff „Neuroethics“ wurde bereits 1973 von der deutschen, in die USA emigrierten Ärztin Anneliese Pontius geprägt (Pontius 1973). Es dauerte allerdings noch knapp 30 Jahre, bis die Neuroethik auf der Konferenz „Neuroethics: Mapping the Field“ als eigener wissenschaftlicher Bereich proklamiert wurde.

Dort wurde der Begriff folgendermaßen bestimmt: „Neuroethik […] ist ein eigenständiger Teilbereich der Bioethik, welche ihrerseits die Bewertung guter und schlechter Konsequenzen in der medizinischen Praxis und biologischen Forschung bedeutet. Doch die spezifische Ethik der Gehirnforschung betrifft uns wie keine andere Forschung über weitere Organe es tut. Sie beschäftigt sich mit unserem Bewusstsein, unserem Selbstverständnis, und ist daher zentral für unser Dasein. […]“ (Saffire 2002, S. 5).Footnote 3 Damit wird der Neuroethik trotz ihrer Verortung innerhalb der Bioethik eine über diese hinausreichende Bedeutung zugeschrieben. Diese Emphase wird besonders außerhalb der Neuroethik kritisch rezipiert (Vidal und Ortega 2017).

Demgegenüber hat der US-amerikanische Bioethiker Paul Root Wolpe eine an der Technologie orientierte Definition vorgeschlagen: „Neuroethik umfasst die Analyse ethischer Herausforderungen, die aus chemischen, organischen und elektrochemischen Interventionen im Gehirn resultieren. […] Neuroethik beinhaltet sowohl wissenschaftliche als auch klinische Anwendungen von Neurotechnologie wie auch soziale und politische Aspekte in Bezug auf diese Anwendungen. […]“ (Wolpe 2004, S. 1894 f.). Mit der starken Betonung medizinischer und technischer Interventionen ist die Neuroethik in dieser Definition nur ein Teilbereich der Medizinethik.

Während Saffires Definition von einigen Autoren also als zu weit angesehen wird, erscheint sie anderen Neuroethikern wiederum als zu eng, ebenso wie diejenige von Wolpe. So versteht beispielsweise Eric Racine Neuroethik als „ein neues Forschungsgebiet an der Grenze zwischen Bioethik und Neurowissenschaften“, das „auf die Ethik neurowissenschaftlicher Forschung und auf die ethischen Fragen [fokussiert], die sich in der Translation neurowissenschaftlicher Forschung in die klinische und öffentliche Sphäre ergeben“ (Racine 2010, S. 4).

Die bekannteste Definition der Neuroethik stammt von Adina Roskies: „Wie ich es sehe, gibt es zwei Hauptbereiche der Neuroethik: die Ethik der Neurowissenschaft und die Neurowissenschaft der Ethik. […] Die Ethik der Neurowissenschaft kann grob in zwei Gruppen von Fragen weiter unterteilt werden: (1) die ethischen Fragen und Gesichtspunkte, welche bei der Planung und Durchführung neurowissenschaftlicher Studien erörtert werden sollten, und (2) die Bewertung der ethischen und sozialen Auswirkungen, welche die Ergebnisse dieser Forschung auf soziale, ethische und rechtliche Strukturen haben können oder haben sollten. […] Der zweite Hauptbereich, den ich betont habe, ist die Neurowissenschaft der Ethik. Die traditionelle ethische Theorie konzentrierte sich auf philosophische Konzepte wie freier Wille, Selbstkontrolle, personale Identität und Intention. Diese Konzepte können aus der Perspektive der Gehirnfunktion untersucht werden“ (Roskies 2002, S. 21). Damit erweitert Roskies das Feld der Neuroethik gleichermaßen in einer empirischen und einer theoretischen Dimension. Zur Neuroethik werden nun zusätzlich sowohl empirisch-deskriptive Untersuchungen zur Neurophysiologie und -psychologie moralisch relevanter Verhaltensweisen gezählt als auch theoretisch-philosophische Arbeiten, die eine Neuauslegung ethischer Konzepte im Lichte neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse anstreben.

Legt man die zumindest in der deutschsprachigen Medizinethik weitgehend akzeptierte Unterscheidung von Ethik und Moral zugrunde, dann ist Roskies’ Begriff „Neurowissenschaft der Ethik“ allerdings irreführend. Dieser Unterscheidung nach ist unter „Moral“ nämlich die Gesamtheit der moralischen Regeln einer bestimmten Kultur zu verstehen, unter „Ethik“ dagegen die Wissenschaft von der Moral, welche verschiedene Moralsysteme sowohl deskriptiv als auch normativ untersucht. Der Forschungsgegenstand der „Neurowissenschaft der Ethik“ ist aber nicht die Wissenschaft von der Moral, also die Ethik, sondern die Moralität selbst. Insofern wäre es korrekter, von „Neurowissenschaft der Moralität“ zu sprechen. Dabei verstehen wir unter Moralität die Befähigung zu moralischer Einsicht und zu der an diesen Einsichten orientierten Kontrolle des eigenen Verhaltens. Inzwischen hat Roskies den Begriff „Neurowissenschaft der Ethik“ in den weiteren Kontext neurowissenschaftlicher Untersuchungen des menschlichen Sozialverhaltens gestellt und spricht von einer „Neurowissenschaft der Sozialität“ (Roskies 2016, S. 20).

Roskies’ vorgeschlagene Verschränkung von ethischer Bewertung der Neurowissenschaften und neurowissenschaftlicher Erforschung originär philosophischer, ethisch relevanter Konzepte wird kontrovers diskutiert. Befürwortet wird sie vor allem von Autoren, die sich tatsächlich eine Revolutionierung der Ethik durch die Erkenntnisse der Hirnforschung erhoffen (Jox 2017), wie es z. B. bei Gazzaniga (2005) und Levy (2011) der Fall ist. Abgelehnt wird die Einbeziehung der „Neurowissenschaften der Ethik“ beispielsweise durch Conrad und Vries (2011), die in der Neuroethik eine Bedrohung ihrer Mutterdisziplin, der Bioethik, sehen.

Wir vertreten eine differenzierende Zwischenposition: Originär neurowissenschaftliche Forschung, die Aspekte der Moralität von Menschen naturwissenschaftlich untersucht, hat zwar Auswirkungen auf die Ethik, ist aber selbst keine (neuro-)ethische Forschung. Geht es jedoch darum, die Auswirkungen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auf das menschliche Selbstverständnis und auf grundlegende Konzepte des Rechts und der Ethik (z. B. Schuldfähigkeit und Verantwortlichkeit) zu untersuchen, gehört diese Reflexion sehr wohl zur Neuroethik. Beispielsweise rechnen wir Studien mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT), die der Frage nachgehen, welche neuronalen Netzwerke besonders aktiviert werden, wenn Menschen Mitleid empfinden, nicht zur Neuroethik. Dagegen zählen unseres Erachtens ethische Argumentationen über den Stellenwert des Mitleids beim moralischen Handeln, die sich unter anderem auf derartige fMRT-Studien stützen, durchaus zur Neuroethik.

Entsprechend dieser Definitionen verfolgt die Neuroethik als wissenschaftliche Aktivität ganz ähnliche Ziele wie andere Bereichsethiken, nämlich eine fundierte normative Orientierung für ein Segment menschlicher Praxis zu geben. Aufgrund der zahlreichen technologischen Innovationen, welche aus den Neurowissenschaften entspringen, zielt ein Großteil der Neuroethik auf eine sozial verantwortbare Entwicklung und Anwendung dieser neuen Technologien. Damit soll einerseits der wachsenden Zahl von Menschen mit Erkrankungen des Nervensystems geholfen werden, andererseits ein humaner, verantwortungsbewusster Einsatz von Neurotechnologien außerhalb der Medizin gefördert werden. Schließlich will die Neuroethik durch die Rezeption und Reflexion neurowissenschaftlicher Forschung über Moralität neue Impulse für die gesamte Ethik und das Zusammenleben der Menschen liefern.

Im Folgenden wollen wir die derzeit wichtigsten Themen der Neuroethik vorstellen. Wir strukturieren den folgenden Überblick nach einer an Roskies’ Definition angelehnten, aber deutlich abgewandelten Einteilung: (1) Angewandte Ethik der Neurowissenschaften und (2) Ethische Implikationen der neurowissenschaftlichen Forschung zur Moralität.

Neben diesen Bereichen besteht die sog. empirische Neuroethik, die vor allem untersucht, wie eine breitere Öffentlichkeit moralische Fragen der Neurowissenschaften einschätzt. Da diese Forschung eher zu den Sozialwissenschaften gehört und den Rahmen dieses Artikels sprengt, stellen wir sie hier nicht eigens vor. Nicht zuletzt ist auch eine theoretische Neuroethik gefordert worden, welche die deskriptiven und normativen Begriffe und Ebenen analysiert, auf denen die eigentliche neuroethische Diskussion basiert (Northoff 2013). Auch sie kann im Folgenden nicht weiter betrachtet werden.

Angewandte Ethik der Neurowissenschaften

Die angewandte Ethik der Neurowissenschaften analysiert ethische Fragen neurowissenschaftlicher Forschung und Entwicklung sowie deren Anwendung in Medizin, Gesundheitswesen, Technologie und anderen Bereichen der Gesellschaft. Sie überschneidet sich zum Teil mit der allgemeinen Forschungsethik, klinischen Ethik, Public-Health-Ethik und anderen Bereichen der angewandten Ethik. Einen besonderen Stellenwert nimmt die klinische Neuroethik ein, in der es um ethische Fragen der Psychiatrie, Neurologie, Neuroradiologie, Neuro- und Radiochirurgie geht (vgl. Tab. 1). Viele dieser Fragen sind nicht originär neuroethisch, haben aber in der Neuroethik einen jeweils spezifischen Kontext.

Tab. 1 Wichtige Themen der angewandten Ethik der Neurowissenschaften und damit verbundene rechtliche Themen

Zu einem Großteil haben diese ethischen Fragen zugleich juristische Implikationen, die ganz unterschiedliche Rechtsgebiete betreffen. Dabei geht es u. a. um den Begriff und Schutz der Rechtsperson, um Willensfreiheit und Schuldfähigkeit, um Möglichkeiten und Grenzen der Kriminalprävention sowie um kriminologische Theorien. Diese und weitere Themen werden in dem neuen Forschungsfeld „Neurorecht“ behandelt, das sich aus der Neuroethik entwickelt hat und sich teilweise mit ihr überschneidet (siehe Abschnitt „Neurorecht“).

Ethische Implikationen der neurowissenschaftlichen Forschung zur Moralität

In der „Neurowissenschaft der Ethik“ finden sich weitreichende Thesen. So beanspruchen einige Neuroethiker, vom „zerebralen Sein“ auf das „moralische Sollen“ schließen (Greene 2003) oder den fortwährenden Widerstreit zwischen den großen moralphilosophischen Theorien – Tugendethik, Utilitarismus und Deontologie – durch empirische Untersuchungen entscheiden zu können.

Ein prominenter Vertreter solcher Thesen ist der Harvard-Professor für Moral Neuroscience Joshua Greene. Er führte fMRT-Untersuchungen durch, die den Disput zwischen Utilitarismus und Deontologie neurowissenschaftlich aufklären, wenn nicht sogar zugunsten utilitaristischer Moralurteile entscheiden sollten (Greene 2003, 2016). Das hat vehemente philosophische Kritik auf sich gezogen (Berker 2009), aber auch dazu angeregt, auf dieser Grundlage eine naturalistische Ethikkonzeption systematisch auszuarbeiten (Kumar 2016; Racine et al. 2017). Beispielsweise kamen Casebeer und Churchland (2003) zu dem Schluss, dass die neurowissenschaftlichen Befunde nicht für den Utilitarismus sprechen, sondern für eine neo-aristotelische Tugendethik. Dagegen argumentiert Liao (2017) auf Basis der vorgebrachten Befunde, die neurowissenschaftlichen Untersuchungen untergrüben keineswegs die deontologische Ethik, sondern sprächen vielmehr gegen konsequentialistische Auffassungen. Bei aller Uneinigkeit besteht jedoch Übereinstimmung in einem Punkt: Sie alle halten neurowissenschaftliche Untersuchungen für relevant bezüglich normativer Debatten und zur Klärung des Moralverständnisses allgemein. Andere Autoren bestreiten gleichwohl, dass „Moralität“ überhaupt ein hinreichend kohärentes Konstrukt sei, für das nach neuronalen Prozessen gesucht werden könne (Parkinson et al. 2011).

Die Neurowissenschaft der Moralität (wie sie zutreffender genannt werden sollte) untersucht also die neurobiologischen Grundlagen von Moralität: Gibt es ein stabiles – zeitlich und personenübergreifend wiederauffindbares – neuronales Korrelat der Moralität? Was geschieht im Gehirn eines Menschen, der gerade ein moralisches Urteil fällt, ein moralisches Dilemma löst oder moralische Gefühle hat? Welche Gehirnareale bzw. neuronalen Netzwerke werden dabei besonders aktiviert? Gehören diese zu Regionen oder Netzwerken, in denen unbewusste Prozesse ablaufen, oder zu solchen, die mit bewusstem Denken und Entscheiden zu tun haben? An welche neurobiologischen Voraussetzungen ist die Ontogenese moralischer Urteilsfähigkeit gebunden? Diese Art von Forschung gehört u. E. nicht zur Neuroethik, sondern zu den Neurowissenschaften.

Eine Aufgabe der Neuroethik ist es unserer Auffassung nach hingegen, die der Neurowissenschaft der Moralität zugrundeliegenden Annahmen kritisch zu reflektieren. Lässt sich etwa aus empirischen Befunden über die Aktivierung verschiedener Gehirnareale bei Personen mit unterschiedlichen moralischen Einstellungen eine Schlussfolgerung für die Bewertung solcher Einstellungen ziehen? Liegen den Versuchen überhaupt die richtigen Annahmen über die jeweilige Moraltheorie und andere Konzepte wie „Freiheit“ zu Grunde? Was folgt aus den Ergebnissen der Neurowissenschaften für die Konzepte der Willensfreiheit, Verantwortlichkeit, Autonomie, Authentizität oder personalen Identität? Wie wirken sich die Neurowissenschaften auf das menschliche Selbstverständnis aus? Welche Implikationen könnten Erkenntnisse der Neurowissenschaften für das Rechtssystem haben? Wie beeinflusst die Ausprägung moralpsychologischer Kompetenzen das Verständnis moralischer Werte (Tanner und Christen 2014)? Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Auftreten bestimmter „moralischer Weltsichten“ bzw. den damit zusammenhängenden moralischen Intuitionen und Erkenntnissen über die Ontogenese der Moralfähigkeit (Narvaez 2014)?

Die neurowissenschaftliche Erforschung der Moralität soll insbesondere dazu beitragen, deren Störungen diagnostisch und therapeutisch zugänglich zu machen. Somit ist einer ihrer Schwerpunkte die Erforschung der Abweichungen von moralischem Denken, Fühlen oder Handeln, etwa bei Personen mit Psychopathie, Soziopathie oder dissozialer Persönlichkeit. Dies stellt, wie gesagt, noch keine Neuroethik dar. Neuroethik im Sinne der Untersuchung der ethischen Implikationen der neurowissenschaftlichen Forschung zur Moralität beginnt erst, wenn die Ergebnisse dieser Forschung in einem ethischen Rahmen analysiert werden.

Ein Beispiel für die ethische Diskussion neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse zur Moralität ist die Debatte über neurotechnisches „Moral Enhancement“. Einige Autoren (teils transhumanistische Bioethiker) halten dieses für erforderlich, um das Überleben der nach dieser Beurteilung technologisch und militärisch hoch gerüsteten, aber moralisch zurückgebliebenen Menschheit zu sichern. Von den Ideen zur moralischen Verbesserung der gesamten Menschheit zu unterscheiden ist die engere Debatte um ein neurotechnologisch hergestelltes Moral Enhancement für Sexualtäter und psychopathische Gewalttäter, denen ein moralisches Defizit attestiert wird, ohne dass diesem zwangsläufig eine Krankheit zugrunde liegen muss. Die Vorschläge reichen dabei von diversen pharmakologischen Interventionen bis zur Tiefen Hirnstimulation (z. B. Merkel et al. 2007, S. 380–382; Douglas 2008; Persson und Savulescu 2012; De Grazia 2014; Hughes 2015; Baccarini und Malatesti 2017). Kritisch haben zu diesen Vorschlägen beispielsweise Hübner und White (2016), Dubljević und Racine (2017) sowie Müller (2018) Stellung genommen. Die ethische Bewertung dieser größtenteils hypothetischen Interventionen erfordert nicht nur genaue Kenntnisse der neurobiologischen Bedingungen von Moralität, sondern auch eine metaethische Reflexion, welche Verhaltensweisen überhaupt als in moralischer Hinsicht veränderungswürdig aufgefasst werden sollten. So ist beispielsweise umstritten, ob eine Verbesserung der Moralität eher über eine Verbesserung von moralischer Urteilsfähigkeit, Motivation oder Verhalten erreicht wird und eher eine Stärkung kognitiver oder emotionaler Funktionen erfordern würde (Beck 2015).

Obwohl die Neurowissenschaft der Moralität empirisch arbeitet und nicht normativ sein will, beruht sie doch auf vielfältigen normativen und metaethischen Annahmen und hat weitreichende Implikationen für die Ethik und die Rechtswissenschaften.

Während also zum einen die Moralität als solche neurowissenschaftlich untersucht wird, existiert zum anderen ein eigenständiger Bereich von Fragen, der sich auf Konzepte bezieht, die teils Voraussetzung, teils Gegenstand moralischen Denkens sind. Die Frage ist dabei nicht, wie moralisches Denken möglich ist, sondern vielmehr, ob dem moralischen Denken inhärente Konzepte im Licht neurowissenschaftlicher Erkenntnisse ggf. korrigiert werden sollten und welche Konsequenzen dies für unsere Moralvorstellungen hätte. So ist beispielsweise seit den Experimenten von Libet (1985) eine Vielzahl neurowissenschaftlicher Untersuchungen vorgenommen worden, die mit immer neuen Methoden und Studienansätzen zu zeigen versuchen, dass Menschen ihre Entscheidungen nicht bewusst treffen, sondern vielmehr auf der Basis deterministisch ablaufender neuronaler Vorgänge. Damit sind Begriffe wie „Willensfreiheit“, „Autonomie“ oder auch „Authentizität“, ehedem exklusive Themen der Philosophie, zu Gegenständen neurowissenschaftlicher und infolgedessen neuroethischer Untersuchungen geworden. Welche Implikationen hätte es für unser moralisches Denken, wenn die Willensfreiheit nur eine Illusion wäre? In welcher Weise können wir Menschen moralisch verantwortlich sein, wenn wir prinzipiell nicht in der Lage sind, anders zu handeln, als wir es tun (Detlefsen 2006 [jetzt Merkel G]; Merkel R 2008; Merkel G 2017; Grün et al. 2008; Duttge 2009; Müller und Walter 2011; Stier 2011)? Die Frage nach dem freien Willen ist tief in der Philosophie verwurzelt, dann über die Hirnforschung ein Thema der Neuroethik geworden und von hier aus wieder in die Philosophie zurückgewandert (Clark et al. 2013).

Eine Übersicht über die Forschung zu ethischen Implikationen der neurowissenschaftlichen Forschung zur Moralität findet sich in Tab. 2.

Tab. 2 Wichtige Themen der Forschung zu ethischen Implikationen der neurowissenschaftlichen Forschung zur Moralität

Neurorecht

Von den neuroethischen Fragen ausgehend hat sich das noch jüngere Gebiet des Neurorechts entwickelt (Garland 2004; Gruber 2009; Schleim et al. 2009; Spranger 2011). Mit „Neurorecht“ ist dabei kein Rechtsgebiet gemeint, das auf eine spezielle Gesetzgebung referieren könnte. Wie das Medizin(straf)recht beschäftigt es sich mit Fragen des Körper‑, Lebens- und Persönlichkeitsschutzes und behandelt dabei Bereiche, die speziell das Gehirn betreffen. Es geht aber insoweit über das Medizinrecht hinaus, als es insbesondere strafrechtliche und kriminologische, aber auch privatrechtliche Fragen in einen größeren philosophischen und gesellschaftlichen Kontext einzuordnen sucht. Ebenso wie die Themen des Medizinrechts stark mit denen der Medizinethik überlappen, finden sich auch im Neurorecht zahlreiche Diskussionen, die auch in der Neuroethik geführt werden.

Eine wichtige Frage ist, ob Eingriffe in das Gehirn durch Pharmaka oder Implantate die Verantwortungsfähigkeit der Person beeinflussen können. Eine weitere Frage betrifft beispielsweise mögliche Auswirkungen bildgebender Verfahren auf das Strafrecht. So wird kontrovers diskutiert, ob Neuroimaging-Untersuchungen bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit von Angeklagten helfen könnten (Greely 2007; Moriarty 2008; Jones et al. 2013). Neuroimaging-basierte Lügendetektoren könnten in naher Zukunft in polizeilichen Vernehmungen und vor Gericht verwendet werden, um festzustellen, ob Angeklagte bzw. Zeugen lügen. Derartige Pläne wecken einerseits Hoffnungen auf weniger Fehlurteile, rufen aber andererseits Befürchtungen hervor, das Schweigerecht des Angeklagten und andere Menschenrechte könnten verletzt werden (Müller und Walter 2011). Inwieweit bildgebende Verfahren vor Gericht eingesetzt werden können, wird auch mit Blick auf die Beweiserhebung im Zivilprozess diskutiert (Gruber 2015).

Mit Blick auf die (Rechts‑)Person haben Verfechter des Schuldstrafrechts den Neurowissenschaftlern Gerhard Roth und Wolf Singer, die die Debatte um Willensfreiheit als Voraussetzung strafrechtlicher Schuld in Deutschland maßgeblich angestoßen hatten (Roth 2001, 2004; Singer 2003), einen naiven und gefährlichen Biologismus vorgeworfen (Hillenkamp 2006; Kröber 2006). Von philosophischer Seite wurde unter anderem eine sprachanalytische Kritik vorgebracht (Bennett und Hacker 2003; Habermas 2006; Janich 2009), ohne dabei allerdings auf die Konsequenzen für den traditionellen Handlungs‑, Vorsatz- und Schuldbegriff im Strafrecht einzugehen, die dieser Kritik ebenfalls nicht standhalten können (Merkel G 2017). Aus einer darauf reflektierenden rechtstheoretischen Perspektive lassen sich in den genannten kontroversen Positionen sowohl auf neurowissenschaftlicher als auch auf (strafrechts-)philosophischer Seite die Defizite ontologisch zugeschnittener Handlungskonzeptionen erkennen. Den Besonderheiten rechtlicher Kommunikation können diese schon deshalb nicht gerecht werden, weil sie ihrerseits selektive Zurechnungsformen von Kausalität und Verschulden voraussetzen (Gruber 2009, S. 327 ff., 2015, S. 47 ff.).

Fazit und Ausblick

Fünfzehn Jahre nach ihrer Gründung ist die Neuroethik zu einem internationalen wissenschaftlichen Feld mit enormer Dynamik avanciert. Das zeigt sich in einem beginnenden Prozess wissenschaftlicher Verselbständigung mit eigenen Forschungsinstitutionen, Publikationsorganen und Diskussionsforen. Wie wir dargelegt haben, besteht gleichwohl erheblicher Dissens über ihre Definition und ihren Gegenstandsbereich. Wir haben für eine differenzierte Position argumentiert, wonach neben der Reflexion ethischer Probleme der neurotechnologischen Anwendungen auch die ethische Reflexion neurowissenschaftlicher Forschung über Moralität zur Neuroethik gehört. Dazu gehören insbesondere Reflexionen über die Auswirkungen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auf das Menschenbild und auf grundlegende Konzepte des Rechts und der Ethik (z. B. Schuldfähigkeit und Verantwortlichkeit). Dagegen gehört u. E. Forschung, die bestimmte Aspekte der Moralität von Menschen neurowissenschaftlich untersucht, nicht zur Neuroethik. Eine systematische Auflistung der neuroethischen Forschungsthemen unterstreicht die Vielfalt und Aktualität dieses wissenschaftlichen Gebiets.

Da die Neurowissenschaften das menschliche Selbstverständnis in einer besonderen Weise herausfordern und ganz neue Möglichkeiten der Selbstveränderung eröffnen, hat es die Neuroethik mit Fragen zu tun, die über die klassische Medizinethik hinausreichen und eine vertiefte philosophische Reflexion erfordern.

Das Potenzial der Neuroethik als eines neuen Wissenschaftsfeldes liegt unseres Erachtens darin, durch die Verknüpfung neurophilosophischer und medizinethischer Themen und eine breite interdisziplinäre Vernetzung neue Antworten auf gesellschaftlich drängende Fragen zu finden.