Liebe Kolleginnen und Kollegen,

über Dekaden galt das Feld der neurodegenerativen Erkrankungen in der Neurologie und Psychiatrie als wenig dynamisch. Zwar ist seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts mit L‑Dopa eine hochwirksame symptomatische Therapie der Parkinson-Krankheit verfügbar und die Zulassung der Cholinesterasehemmer für die Behandlung der Demenz vom Alzheimer-Typ und damit „indirekt“ für die Demenz mit Lewy-Körpern stellte erstmals eine zumindest vorübergehend wirksame symptomatische Therapie dieser Demenzen dar. Aber im Vergleich zu den Fortschritten in der Behandlung des Schlaganfalls, der Multiplen Sklerose, der Epilepsie oder auch der Migräne war die Entwicklung neuer Therapiekonzepte langsam. So gelang es über Jahrzehnte nicht, eine dringend notwendige kausale Therapie zu entwickeln – weder für die Alzheimer-Demenz, die Parkinson-Krankheit, die Tauopathien, die Huntington-Chorea noch für die amyotrophe Lateralsklerose.

Mit Einzug der Genetik und anderer technologiegetriebener Entwicklungen in die neurologische Forschung und Diagnostik hat sich unser Wissen um die Krankheitsursachen neurodegenerativer Erkrankungen dramatisch vermehrt. Dies lässt sich beispielhaft an der Parkinson-Krankheit aufzeigen. Seit 1996 wissen wir, dass eine autosomal-dominante Mutation des Gens, das für das Eiweiß α‑Synuklein codiert, eine familiäre Parkinson-Krankheit bedingt. Sorgfältige neuropathologische Analysen zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Parkinson-Patienten an einer α‑Synukleinopathie, charakterisiert durch α‑Synuklein-Ablagerungen in Form von Lewy-Körperchen – oder im Falle der Multisystematrophie – in Form von Papp-Lantos-Körperchen, leidet. Folgerichtig stellt das Molekül α‑Synuklein und seine pathologische Aggregation heute eines der wichtigsten therapeutischen Ziele bei der Suche nach krankheitsmodifizierenden Behandlungsansätzen für die Parkinson-Krankheit dar. Im Alzheimer-Feld hat die technische Entwicklung den Einsatz biologischer Krankheitsdefinitionen in vivo ermöglicht. Auch deswegen ist die Alzheimerforschung bei der Therapieentwicklung führend.

Krankheitsmodifizierende Therapieansätze stehen im Mittelpunkt der Forschung

Dieses Heft stellt letztlich den Paradigmenwechsel von der symptomatischen zur krankheitsmodifzierenden Therapie für die o. g. Erkrankungen unter dem Titel „Proteinbezogene Therapie neurodegenerativer Proteinopathien“ vor. Es handelt sich um die Darstellung einer Revolution auf dem Gebiet der neurodegenerativen Erkrankungen. So finden im Jahre 2021 – aufbauend auf 20-jähriger Forschungsarbeit – mehr als 150 klinische Therapiestudien an Parkinson-Patienten statt. 40 % dieser Studien testen eine potenziell krankheitsmodifizierende Wirkung der eingesetzten Substanz. Die weiter intensiv anhaltende und momentan sogar zunehmende Studienaktivität zeigt die Vielzahl der sich aus der Grundlagenwissenschaft ableitenden Ansätze und das große Vertrauen der Interessensvertreter in diese Entwicklungen. Ähnlich aktiv und innovativ ist die Studientätigkeit zu Therapieentwicklungen im Feld der Huntington-Chorea und mittlerweile auch bei den Tauopathien und der amyotrophen Lateralsklerose.

Bei der Alzheimer-Erkrankung ist in den USA erstmals ein passives Immuntherapiekonzept zugelassen worden, wenn auch unter erheblicher Kritik der wissenschaftlichen Gemeinschaft, da diese Zulassung zunächst nicht durch definitiven Wirksamkeitsnachweis, sondern auf Biomarkerbasis erfolgte. Damit ist das Alzheimer-Feld Vorreiter dieser sich auch für andere Krankheitsfelder abzeichnenden Entwicklung, die auch hier letztlich auf jahrzehntelanger hervorragender Grundlagenwissenschaft beruht. Gerade die Analyse der Enttäuschungen und Fehlschläge in der Entwicklung von Alzheimer-Medikamenten haben zu wichtigen Erkenntnissen geführt, die nun helfen, Fehler in der Entwicklung der neuen Therapieformen für andere Krankheitsfelder wie α‑Synukleinopathien, Tauopathien, amyotrophe Lateralsklerose/frontotemporale Demenz bzw. die Huntington-Chorea weitgehend zu vermeiden.

Im Idealfall könnte das Ausbrechen der Krankheit verhindert werden

Der Leser findet für die 5 ausgewählten Krankheitsbilder einen Überblick über den derzeitigen Stand der Therapieforschung. Die Artikel wurden von ausgewiesenen Experten in Deutschland geschrieben. Sie vermitteln die Hoffnung, dass wir in absehbarer Zeit, z. B. in 5 bis 10 Jahren, erstmals ein Medikament in der Apotheke haben werden, das eines der 5 häufigsten neurodegenerativen Erkrankungsbereiche kausal behandeln wird, d. h. dass es gelingen wird, durch Eingriff in den molekularen Krankheitsprozess den Verlauf der Krankheit zu verzögern. Im Idealfall ist es sogar denkbar, unter Identifikation der prodromalen Stadien dieser 5 Krankheiten, das Ausbrechen der Krankheit im Sinne der neurologischen und psychiatrischen Manifestation verhindern zu können.

Die Bildgebungsverfahren und die Genetik haben die Diagnostik in der Neurologie wesentlich bereichert. Wir sind überzeugt, dass sich eine ähnlich revolutionäre Entwicklung in der Therapie der neurodegenerativen Proteinopathien abzeichnet.

Johannes Levin, München

Wolfgang Oertel, Marburg