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Zur Rolle der Psychopharmakotherapie in der Entwicklung der Sozialpsychiatrie

The role of psychopharmacotherapy in the development of social psychiatry in Germany

  • Historisches
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Zusammenfassung

Es werden Erfahrungen und Hinweise darauf berichtet, dass die psychiatrische Pharmakotherapie insbesondere als rezidivprophylaktische Langzeitmedikation zu verstärkter Wahrnehmung sozialer Determinanten des Krankheitsverlaufes vornehmlich schizophren Kranker führte. Damit entwickelten sich sozialpsychiatrische Institutionen, z. B. in Berlin von einem Übergangsheim (Phönix) 1956 über eine Katamnese zur ambulanten Langzeitbehandlung für schizophren Kranke 1957, einen Sozialdienst 1960, Tag- und Nachtklinik 1962 bis zur Abteilung für Sozialpsychiatrie 1972 mit einem reich gefächerten Netz von Einrichtungen für eine gestufte Rehabilitation psychisch Kranker. Im Vergleich zu gut bekannten geistesgeschichtlichen Quellen der Psychiatrie-Reform wird hier an in psychopharmakotherapeutischer Erfahrung begründete Quellen erinnert, die weiterer historischer Bearbeitung bedürfen; insbesondere wäre erstens die Frage zu beantworten, in welcher Weise die psychiatrische Pharmakotherapie die sozialpsychiatrische Entwicklung in Deutschland beeinflusst hat und zweitens, ob die mit der Pharmakotherapie einsetzende psychiatrische Aufbruchsstimmung der 1950er Jahre die in Deutschland gegenüber England, Frankreich und Kanada bis gegen Ende der 1960er Jahre verzögerte sozialpsychiatrische Entwicklung beschleunigt hat; zu prüfen wäre drittens z. B., ob und inwieweit die internationale Isolierung der deutschen Psychiatrie nach dem Kriege für die Verzögerung eine Rolle spielte und die neue wissenschaftliche Entwicklung der Psychopharmakologie der Wiederaufnahme internationaler Kontakte und damit auch verbundener Kenntnisnahme sozialpsychiatrischer Einrichtungen im Ausland förderlich war. Jedenfalls sollte der mögliche Einfluss der psychiatrischen Pharmakotherapie bei einer Gesamtdarstellung der Entwicklung von Sozialpsychiatrie in Deutschland nicht fehlen.

Abstract

Early experiences and indications are reported that psychopharmacotherapy, particularly as prophylactic long-term medication for prevention of relapses, has led to an increased recognition of social determinants of the course of illness, especially in schizophrenic patients. As a result, institutions combining both social and psychopharmacological treatment have developed, e. g., in Berlin beginning with “Phönix” a transition home (“Übergangsheim”) in 1956 to a catamnesis for long-term outpatient treatment of schizophrenic patients in 1957, a social service in 1960, a day and night hospital in 1962 up to a university department of social psychiatry in 1972 with a rich spectrum of facilities for a step by step rehabilitation of mentally ill patients. In comparison with well-known humanistic sources of German psychiatric reform, some less well-known sources based on psychopharmacotherapeutic experiences that need further historical elaboration are considered. Questions include: 1. how psychiatric pharmacotherapy has influenced the development of social psychiatry in Germany, 2. whether the pioneering spirit of the 1950s, initiated by new treatment with psychotropic drugs has influenced or fostered the development of social psychiatry in Germany, 3. whether retardation of the development of social psychiatry in Germany (as opposed to England, France, and Canada and possibly related to its post-war international isolation) has been overcome not least by the new scientific development of psychopharmacology that has encouraged renewal of international contacts. In any case the possible influence of psychopharmacotherapy should not be missing in an overall view of the development of social psychiatry in Germany.

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Notes

  1. 1947–1954 leitender Oberarzt in Bethel, 1954–1960 Direktor der Psychiatrischen Anstalt Gütersloh.

  2. Mit der psychiatrischen Pharmakotherapie wurde nicht nur die Behandlung der Patienten auf eine neue Grundlage gestellt, sondern sie wurde auch ein Instrument zur Erforschung biologischer Mechanismen psychischer Störungen und führte zum Begriff der „biologischen Psychiatrie“ [8].

  3. „Heute setzen sich in Deutschland moderne sozialpsychiatrische Konzepte nur sehr zögernd durch. So verfügen in der deutschen Bundesrepublik und West-Berlin bisher nur drei der einundzwanzig psychiatrischen Universitätskliniken über mehrjährige Erfahrungen mit einer sozialpsychiatrischen Nachsorge-Einheit mit Tag- und Nachtklinik. Voraussetzung und Anlass zur Einrichtung einer solchen Institution in Berlin waren die ermutigenden Erfolge mit der medikamentösen Dauertherapie.“ [11, S. 392/1].

  4. Hanns Hippius, ab 1952 Assistent der Berliner Klinik, war einer dieser psychopharmakologisch interessierten Assistenten, nahm 1955 am ersten Internationalen Chlorpromazin-Kolloquium in Paris teil und wurde bereits 1957 vom Baseler Pharmakologen Ernst Rothlin als Repräsentant der jungen Generation deutscher Wissenschaftler zur Gründung des Collegium Internationale Neuropsychopharmacologicum (CINP) nach Zürich eingeladen, zu dessen Präsident er 1974 gewählt wurde [15].

  5. Nach 3 Jahren waren noch 59 % der pharmakotherapierten Patienten rezidivfrei, aber nur 20 % der Patienten ohne Dauertherapie [9, S. 329].

  6. Pers. Mitteilung von H. Hippius am 27.08.2017: Hanns Hippius hatte Caspar Kulenkampff seine Eindrücke vom Besuch sozialpsychiatrischer Einrichtungen in Kanada berichtet; danach besuchte Kulenkampff Hippius 1961 in Berlin, besichtigte die sozialpsychiatrischen Einrichtungen um Haus Phönix – und publizierte über die in Frankfurt eingerichtete Nachtklinik: [20].

  7. Auch durch einen „sozialpsychiatrischen Arbeitskreis Berlin“ (SPAK), der sich 1970 vornehmlich aus „Assistenten der Universitätspsychiatrie“ gebildet hatte und 1972 ein rosa Papier „Grundlagen für eine Reform der Psychiatrie in West-Berlin“ vorlegte [22, S. 340]; ab 1967 wurden unter maßgeblicher Initiative der Senatsdirigentin Dr. Ruth Mattheis an den Bezirks-Gesundheitsämtern in Anlehnung an Reformmodelle der 1920er Jahre sozialpsychiatrische Dienste eingerichtet [23]; dazu bemerkte die Senatsdirektorin Dr. Barbara v. Renthe-Fink „Wirklich erfolgreich war lediglich eine langjährig geplante Entwicklung sozialpsychiatrischer Dienste. Lange, bevor die Enquete der Bundesregierung für die psychiatrische Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland vorlag, wurde hier ein Modell für die dezentralisierte Psychiatrie geschaffen“ [33, S. 88].

  8. Pers. Mitteilung von H. Hippius am 03.02.2006.

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Helmchen, H. Zur Rolle der Psychopharmakotherapie in der Entwicklung der Sozialpsychiatrie. Nervenarzt 89, 88–91 (2018). https://doi.org/10.1007/s00115-017-0464-2

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