Angaben zur Prävalenz vegetarischer Kostformen in der Bevölkerung hängen vom Ansatz der Erhebung ab. In der aktuellen Ernährungsstudie „EsKiMo“ II, 2015–2017, im Rahmen des Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KiGGS wurden 3,4 % der Kinder und Jugendlichen als Vegetarier ermittelt (1,5 % der 6‑ bis 11-Jährigen; 5,1 % der 12- bis 17-Jährigen, [1]). Bei Umfragen und auch nach Angaben des ProVeg Deutschland betragen die Zahlen für Erwachsene etwa 10 % für Vegetarier und etwa 1 % für Veganer [2]. In der Beratung und Betreuung von Familien und Kindern mit vegetarischen Kostformen stellen sich insbesondere die Fragen, welche Kostform im Einzelfall tatsächlich praktiziert wird, welche Nährstoffe unter der gewählten Kost in den pädiatrischen Altersgruppen kritisch knapp sein können, und ob die praktizierte Kost möglicherweise im Einzelfall (z. B. bei vorbestehenden Grunderkrankungen) mit einem gesundheitlichen Risiko einhergeht.

Hintergrund

In Stellungnahmen von Fachgesellschaften und Institutionen werden meist zahlreiche allgemeine Hinweise auf Nährstoffe gegeben, die bei vegetarischen Kostformen speziell zu beachten sind (insbesondere für Kinder; [3]). Damit nährstoffbezogene Angaben in der Beratung anwendbar und in der Ernährungsrealität von Familien umgesetzt werden können, müssen auch praktische Kriterien berücksichtigt werden, z. B. traditionelle Ernährungsgewohnheiten und Mahlzeitenmuster, typische Geschmacksvorlieben von Kindern und Jugendlichen oder das aktuelle Lebensmittelangebot.

Die vorliegende Arbeit bietet für die oft individuell gestalteten familiären vegetarischen Kostformen spezifische Empfehlungen und Hinweise zur Verminderung bekannter Risiken anstatt generalisierter, supplementierter Speisepläne an. Anhand von praxisnahen Vorschlägen wird versucht, vegetarische Kost im Kindesalter im Rahmen der hierzulande üblichen Lebensmittel, soweit möglich, zu verbessern, anstatt ungewöhnliche oder exotische Lebensmittel oder spezielle vegetarische Produkte zu verwenden.

Guidelines und Ernährungsempfehlungen

Eine gesunde Kinderernährung soll bei adäquater Energiezufuhr die Versorgung mit allen benötigten Nährstoffen für eine möglichst gute körperliche und geistige Entwicklung sicherstellen. Außerdem soll eine gesunde Ernährung zur Prävention späterer ernährungsmitbedingter Krankheiten beitragen, z. B. Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs oder Diabetes. Allgemeine Ernährungsempfehlungen sollen eine hohe Sicherheit der ausreichenden Nährstoffzufuhr für möglichst viele Individuen einer Population sicherstellen.

Diesen Public-Health-Kriterien entsprechen der Ernährungsplan für das 1. Lebensjahr und die sich nahtlos anschließende Optimierte Mischkost (OMK) für Kinder und Jugendliche. Diese lebensmittel- und mahlzeitenbasierten Ernährungskonzepte wurden auf der Basis des Lebensmittelangebots und der Ernährungsgewohnheiten in Deutschland entwickelt ([4], Forschungsdepartment Kinderernährung [FKE] Bochum). Das Konzept der OMK vereint das präventive Potenzial einer pflanzenbetonten Kost mit der Sicherheit einer ausreichenden Nährstoffversorgung. In einem „Ernährungskontinuum“ bildet die OMK gleichzeitig die Grundlage der Ernährung in Schwangerschaft und Stillzeit. Aus wissenschaftlicher Sicht ist zu beachten, dass der Ernährungsplan für das 1. Lebensjahr und die OMK in vielen Punkten nicht evidenzbasiert sind. Die meisten der Empfehlungen sind auf dem Niveau von Expertenmeinungen und auf der Basis von Plausibilitäten, Analogieschlüssen oder Pragmatismus entstanden und sollten daher nicht überinterpretiert werden (Abb. 1 und 2).

Abb. 1
figure 1

Ernährungsplan für das erste Lebensjahr. Vit. Vitamin. (www.klinikum-bochum.de/fachbereiche/kinder-und-jugendmedizin/forschungsdepartment-kinderernaehrung.html)

Abb. 2
figure 2

Optimierte Mischkost für Kinder und Jugendliche: Orientierung für die Lebensmittelauswahl [5]

Der Ernährungsplan für das erste Lebensjahr und die OMK sind einerseits Referenzinstrumente für die Kinderernährung in Deutschland [6]. Durch die praktische und lebensnahe Formulierung haben sie sich gleichzeitig als Grundlage für die tagtägliche Ernährungsberatung durch Kinder- und Jugendärzte und ebenso für Ernährungsfachkräfte auf dem Gebiet der Kinderernährung bewährt [7]. Diese durchkalkulierten Konzepte wurden von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA) als vorbildlich in der Entwicklung lebensmittelbasierter Richtlinien für die Kinderernährung in Europa herausgestellt [8].

Die Nährstoffzufuhr bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist im Rahmen ausgewogener gemischter Kost in der Regel ausreichend, sodass mit Ausnahme einiger kritischer Nährstoffe eine generelle Supplementierung oder Anreicherung unnötig ist.

Mit ausgewogener gemischter Kost nehmen Kinder/Jugendliche in Deutschland genügend Nährstoffe zu sich

Als „kritische“ Nährstoffe, bei denen die Zufuhr in den Konzepten und in aktuellen Verzehrstudien unter den Empfehlungen liegt und die durch Biomarkerdaten in Blut bzw. Urin verifiziert wurden, verbleiben Eisen bei Säuglingen im 2. Lebenshalbjahr sowie Vitamin D und Jod bei Kindern und Jugendlichen. Die definitive Beurteilung der Eisenversorgung von Säuglingen wird allerdings durch die spezifische Dynamik des Eisenhaushalts in diesem Alter erschwert [9, 10]. Zur Sicherung der ausreichenden Jodversorgung trägt neben dem Verzehr von Milch (und in geringerem Umfang) Seefisch v. a. die Verwendung von jodiertem Speisesalz bei [11]. Bei Säuglingen bleibt die Jodzufuhr im Fall von Selbstherstellung der Beikost und fortgeführtem Stillen gemäß dem Ernährungsplan im 2. Lebenshalbjahr weit unter der empfohlenen Menge. Die Jodzufuhr kann dann z. B. über einen kommerziellen angereicherten Milchbrei oder ein Supplement effektiv erhöht werden. Die neu aufgelegte Onlinedatenbank zur Beikost des FKE weist u. a. kommerzielle Beikostprodukte mit Jodzusatz aus (www.fke-bo.de). Zur Sicherung der Vitamin-D-Versorgung wird bei Bedarf eine Supplementierung auch jenseits des Säuglingsalters empfohlen [12].

Generell sind aber Nahrungsergänzungsmittel und angereicherte Lebensmittel kein Ersatz für eine ausgewogene, gesunde Kinderernährung. Zum einen liefert eine Ernährung mit viel Gemüse, Obst und Vollkornprodukten die meisten Nährstoffe in ausreichenden Mengen. Zum anderen können präventivmedizinisch relevante Imbalanzen (z. B. ein hoher Anteil gesättigter Fettsäuren) durch Ergänzungsmittel nicht korrigiert werden.

Formen vegetarischer Ernährung und reduzierte Nährstoffe

Unter dem Oberbegriff Vegetarier oder vegetarische Kost/Vegetarismus lassen sich je nach Strenge der Kost mehrere Kategorien unterscheiden: Lakto-Ovo-Vegetarier lehnen den Verzehr von Fleisch und Fisch (getötete Tiere) ab, akzeptieren aber Eier und Milch. Diese Kostform wird unter Vegetariern am häufigsten praktiziert. Laktovegetarier lehnen den Verzehr von Fleisch, Fisch und Eiern ab, verzehren aber Milch. „Semivegetarier“ bzw. „Flexitarier“ essen gelegentlich Fleisch oder Fisch, ähnlich wie Siebenten-Tags-Adventisten, die häufig auch in Studien als „Vegetarier“ eingeordnet werden.

Veganer ernähren sich ausschließlich von pflanzlicher Kost; sie lehnen also neben Fisch und Fleisch auch Milch, Milchprodukte und Honig ab. Als eine Untergruppe können die Makrobiotiker betrachtet werden, die Fisch zulassen, aber andere tierische Nahrungsmittel ablehnen und von den pflanzlichen Lebensmitteln hauptsächlich Getreide und bestimmte Gemüsesorten sowie Algen und Sojaprodukte bevorzugen ([13]; Tab. 1).

Tab. 1 Ausprägung vegetarischer Kostformen. (Forschungsdepartment Kinderernährung Bochum)

Theoretisch können für die jeweilige Kostform im Kindesalter kritisch reduzierte Nährstoffe benannt werden (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Potenziell „kritische“ Nährstoffe in der vegetarischen Ernährung von Kindern. Ca Kalzium, Fe Eisen, LM Lebensmittel, Vit. Vitamin, Zn Zink. (Kersting et al. [14])

Zur definitiven Bewertung der Eignung der vegetarischen Kostformen im Kindesalter sind aktuelle Daten über die Ernährung sowie den Nährstoff- und Gesundheitsstatus in den verschiedenen Altersgruppen in der Praxis notwendig. In einem aktuellen Review aus dem Jahr 2018 wurden entsprechende Studien betrachtet. Die meisten Studien stammen aus den Jahren 1980–1990; oft wurden kleine Kollektive untersucht, darunter nur eine sehr kleine Studie mit Säuglingen aus Deutschland [14]. Die derzeitige Datenlage erlaubt somit keine validen Rückschlüsse auf die heutige Ernährungspraxis und den Gesundheitsstatus bei vegetarisch ernährten Kindern in Deutschland.

Interventionsbedarf erkennen

In der Praxis finden sich meist fließende Übergänge zwischen verschiedenen vegetarischen Kostformen.

Cave.

Lediglich stichwortartige Selbstangaben zu einer einzelnen Kostform erlauben keine sicheren Rückschlüsse auf die konkrete Ernährung im Einzelfall. Für die Ernährungsberatung unter einer „vegetarischen“ Kost ist immer die sorgfältige und genaue individuelle Ernährungsanamnese, und bei Bedarf ein Ernährungsprotokoll, notwendig [15].

Je stärker das Nahrungssortiment von Kindern eingeschränkt ist, umso größer das Nährstoffdefizitrisiko

Werden ganze Lebensmittelgruppen aus der Kinderernährung ausgeschlossen, wie bei der vegetarischen Ernährung, besteht ein erhebliches Risiko, dass einzelne Nährstoffe nur in kritisch knapper Menge oder sogar unzureichend zugeführt werden. Je stärker das Lebensmittelsortiment eingeschränkt ist und je jünger die Kinder, umso größer wird das Risiko für Nährstoffdefizite [16], und umso wichtiger werden die individuelle sorgfältige Ernährungsanamnese und -beratung, einschließlich einer medizinischen Begleitung.

In der Beratung können den Familien Möglichkeiten einer ergänzenden Zufuhr aufgezeigt werden, um die durch den Lebensmittelausschluss induzierte Minderversorgung zu kompensieren. Das kann entweder über sinnvolle Nahrungsmittelauswahl, über angereicherte Lebensmittel oder aber über Nahrungsergänzungsmittel (Supplemente) geschehen. Restriktive Kostformen, die dauerhaft eine differenzierte Substitution von Nährstoffen einfordern, führen aber im Hinblick auf die bekanntermaßen ungenügende Einhaltung von therapeutisch begründeten Ernährungsempfehlungen [17] zu Besorgnis, sodass regelmäßige Kontrollen angezeigt sind.

Interventionsmöglichkeiten

Für die ärztliche Beratung und Betreuung sind die lakto-ovo-vegetarische Ernährung als häufigste vegetarische Kostform und die vegane Ernährung als restriktivste Kostform besonders zu beachten.

Lakto-ovo-vegetarische Ernährung

Obwohl in der lakto-ovo-vegetarischen Kost neben tierischem Protein auch Nährstoffe wie Eisen, Zink, Vitamin B12 (in Fleisch) sowie Jod und langkettige mehrfach ungesättigte Omega-3-Fettsäuren (in Fisch) reduziert sind, besteht bei summarischer Betrachtung für Kinder und Jugendliche kein erhöhtes Risiko hinsichtlich Wachstum und Entwicklung [18].

Eisen.

Für einzelne Personengruppen, die bereits bei Orientierung an den FKE-Konzepten das Risiko einer unzureichenden Eisenversorgung aufweisen, muss die Situation differenziert betrachtet werden. Das gilt etwa für weibliche Jugendliche, aber v. a. für Säuglinge im zweiten 2. Lebenshalbjahr. Neuere Daten zeigen, dass sich der Eisenstatus bei Säuglingen in Deutschland im 2. Lebenshalbjahr trotz Beratung anhand des Ernährungsplans in den letzten Jahren verschlechtert hat. Bei etwa 30 % der untersuchten Säuglinge waren im Alter von 10 Monaten die Eisenspeicher (Serumferritin) erschöpft, noch ohne Entwicklung einer Anämie oder klinischer Auffälligkeiten. Parallel waren in der Ernährung der Eisengehalt in Formulanahrung und der Fleischgehalt der kommerziellen Gläschenkost vermindert [9, 19]. Auch in anderen Studien wurde ein Eisenmangel bei Säuglingen im 2. Lebenshalbjahr und bei Kleinkindern in Europa beschrieben [20]. Die EFSA setzt als Referenz eine noch höhere alimentäre Eisenzufuhr an [21] als die Deutsche Gesellschaft für Ernährung.

Unter einer lakto-ovo-vegetarischen Kost wird mit dem Verzicht auf Fleisch das zweiwertige Eisen als besonders gut bioverfügbare Form (ca. 20 %) aus der Ernährung ausgeschlossen. Zusätzlich erhöht Fleisch per se die Bioverfügbarkeit von Eisen in der Mahlzeit. In der Beratung einer Familie mit lakto-ovo-vegetarischer Kost geht es also v. a. darum, eine geeignete Alternative für Fleisch und das darin enthaltene besonders gut bioverfügbare Eisen zu finden (Tab. 2 und 3).

Tab. 2 Potenzielle Nahrungsquellen für Eisen bei vegetarischer Ernährung. (Forschungsdepartment Kinderernährung Bochum)
Tab. 3 Eisengehalt von Lebensmitteln für die Beikost. (Forschungsdepartment Kinderernährung Bochum, nach Souci et al. [22])

Als hilfsweiser Kompromiss kann in der Beikost anstatt Fleisch Vollkorngetreide (idealerweise Haferflocken) mit (schlechter resorbierbarem) dreiwertigem Eisen (ca. 3 %) in Kombination mit Vitamin-C-reichen Zutaten zur Verbesserung der Resorption empfohlen werden (Abb. 4). Für diese ernährungsphysiologisch zwar plausible Empfehlung liegen in Deutschland aber keine Daten zur tatsächlichen Umsetzung und zum darunter erzielten Eisenstatus vor. Im Ernährungsplan wird in den anderen Breien durch Verwendung von Vollkorngetreide und Vitamin-C-reichem Obst für eine Verbesserung der Eisenbioverfügbarkeit gesorgt.

Abb. 4
figure 4

Vegetarische Ernährung bei Säuglingen? Hilfsweiser Kompromiss. (Kersting et al. [14])

Nach diesem Prinzip zusammengestellte vegetarische Mahlzeiten für Kinder und Jugendliche sind beispielsweise:

  • Müsli aus Vollkornflocken + Orangensaft oder Frischobst,

  • Vollkornbrot mit Frischkäse + Gemüserohkost,

  • Vollkornreis- oder Vollkornnudelauflauf + Paprika.

Jod.

Bei Verzicht auf Fisch fällt eine potenziell wichtige Quelle für Jod weg. In der Praxis der Kinderernährung sind Milch und Jodsalz aber bedeutendere Jodquellen [11], die für Lakto-Ovo-Vegetarier weiter zur Verfügung stehen. Bei Milch ist wichtig zu wissen, dass der Jodgehalt in „Biomilch“ aufgrund der Tierfütterung geringer ist als in Milch bei konventioneller Tierhaltung. Werden vorgefertigte Lebensmittel (v. a. Brot und Backwaren) verwendet, ist darauf zu achten, dass diese mit jodiertem Speisesalz (Jodgehalt: 15–25 mg/kg Salz) und nicht einfach nur (Meer‑)Salz hergestellt wurden [23], da sonst der Kompromiss zwischen der allgemein empfohlenen Salzrestriktion und andererseits ausreichender Jodversorgung über das Konzept der Jodprophylaxe in Deutschland nicht greifen kann. Algen sind zur gezielten Supplementierung von Jod ungeeignet, da ihr Jodgehalt nicht standardisiert ist.

Protein.

Bei gut gemischter Kost und in Deutschland üblichen Ernährungsgewohnheiten ist allein der Verzicht auf Fleisch und Fisch noch kein Risiko für eine unzureichende Proteinversorgung. Damit besteht meist auch kein Grund für eine Supplementierung, z. B. über den Einsatz von Soja, dessen Aminosäuremuster dem von Protein aus tierischen Lebensmitteln nahekommt. Getreide und Hülsenfrüchte im Rahmen der OMK tragen neben Milch zur ausreichenden Proteinversorgung bei.

Für weitere Nährstoffe mit potenziell reduzierter Zufuhr unter einer lakto-ovo-vegetarischen Kost wie etwa Vitamin B12, Zink, Jod, „long-chain polyunsaturated fatty acids“ (LC-PUFA) liegen nur unzureichende Erhebungen über die Zufuhr in kritischen Phasen wie in der Säuglings- und Kleinkindzeit vor [24].

Vegane Ernährung

Bei veganer Ernährung drohen multiple Nährstoffdefizite und auch ein Energiemangel; so kommt es über die Einschränkungen unter der lakto-ovo-vegetarischen Kost hinaus zur Reduktion von Kalzium, Jod, Vitamin B2 (Riboflavin, z. B. in Milch). Vitamin B12 und tierisches Protein mit hoher biologischer Wertigkeit fehlen (gemessen am Aminosäuremuster; [13]).

Milchersatzgetränke auf pflanzlicher Basis wie Reis‑, Mandel- oder Getreidedrinks sind weder als Ersatz für Muttermilch bzw. Säuglingsanfangs- oder Folgenahrung im 1. Lebensjahr noch für herkömmliche Kuhmilch (pasteurisiert oder ultrahocherhitzt) im Kindes- und Jugendalter geeignet. Ihre Zusammensetzung trägt nicht zur Erfüllung der speziellen Nährstoffbedarfe in diesen Altersgruppen bei (Tab. 4).

Tab. 4 Vegane Drinks als vermeintliche Milchalternativen im Lebensmittelmarkt. (Forschungsdepartment Kinderernährung Bochum)

Infobox 1 Sojanahrung als „Milchersatz“?

In der Säuglingsernährung bietet sich als Option bei einer tierisch eiweißfreien Ernährung der Einsatz industriell hergestellter Sojanahrung für Säuglinge als Alternative zu kuhmilchbasierter Anfangs- oder Folgenahrung an. Die auf der Basis von Sojaproteinisolaten hergestellten Produkte unterliegen der Gesetzgebung für Säuglingsanfangs- und Folgenahrung und sind entsprechend mit Nährstoffen angereichert. Sojanahrungen für Säuglinge sind grundsätzlich auch über das Säuglingsalter hinaus eine Option als Milchersatz bei tierisch eiweißfreier Ernährung im Kindesalter. Am Markt angebotene „Sojadrinks“ des allgemeinen Verzehrs sollten mit milchtypischen Nährstoffen angereichert sein. Die Eignung und Sicherheit von Milchersatznahrungen für Kinder werden allerdings diskutiert. Bedenken gegenüber Sojanahrungen betreffen etwa östrogene Verbindungen, das eigenständige allergene Potenzial von Soja oder auch die weltweit zunehmende Herstellung aus gentechnisch veränderten Pflanzen.

Individualisierte Ernährungsstrategien und regelmäßige Substitutionen sind sicherzustellen

Die alimentär induzierten Defizite gegenüber dem altersentsprechenden Nährstoffbedarf können allein durch die in der veganen Kost zulässigen Lebensmittel nicht oder nur teilweise kompensiert werden. Der vollständige Ausgleich der Defizite ist sehr aufwendig und erfordert spezielle Kenntnisse über die Zusammensetzung der Lebensmittel und den Einsatz von nährstoffangereicherten Lebensmitteln und Supplementen. Bei dem heterogenen Marktangebot von Lebensmitteln und Präparaten ist dies selbst für versierte Ernährungsfachkräfte und Ärzte extrem schwierig. Entsprechend zeigten Studien in Deutschland Tendenzen zur Unterversorgung mit Protein und vielen Mikronährstoffen bei erwachsenen Veganern [25] sowie bei Kindern in Osteuropa unter veganer Ernährung erniedrigte Spiegel von Vitamin D und eine verminderte Knochenmasse gegenüber omnivor ernährten Kindern [26]. Damit entsteht insbesondere bei veganer Ernährung im Kindesalter ein erhöhtes Risiko für gesundheitliche Gefährdungen bzw. Entwicklungsstörungen [27].

Bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen mit veganer Kost müssen anhaltend differenzierte und individualisierte Ernährungsstrategien und regelmäßige spezifische Substitutionen sichergestellt werden (in allen Altersgruppen ist die regelmäßige Vitamin-B12-Substitution notwendig). Darüber hinaus gelten die allgemeinen Empfehlungen hinsichtlich der Supplementierung von Vitamin D und Fluorid wie auch für omnivor ernährte Säuglinge [6]. Jod sollte im Beikostalter supplementiert werden (50 µg/Tag), wenn die Beikost selbst hergestellt wird oder wenn keine mit Jod angereicherten kommerziellen Beikostprodukte verwendet werden, wie Milchgetreidebreie, die als Trockenprodukte angeboten werden.

Beratung und Betreuung

Die Auswahl des Essens für Kinder wird weitgehend über diesbezügliche Wertvorstellungen ihrer Eltern festgelegt. Die Hinwendung zu vegetarischer Ernährung in wohlhabenden Ländern basiert häufig auf ethischen tierbezogenen Gründen (Ablehnung der Massentierhaltung, Lebensrecht für Tiere), Erwägungen für die eigene Gesundheit (vitamin- und mineralstoffreiche Pflanzenkost, Gewichtsabnahme) und ökologischen Gründen (Nachhaltigkeit von Pflanzenkost, Welternährungssituation, Methangasproblem). Vegetarische Eltern möchten ihre Ernährungsvorstellungen in guter Absicht meist auch bei ihren Kindern anwenden. Oft sind sie sich nicht darüber bewusst, dass die Folgen einer Fehlernährung bei Kindern wesentlich schwerwiegender sein können als bei Erwachsenen.

Deshalb sollte bereits bei lakto-ovo-vegetarischer Kost die sichere Versorgung mit kritischen Nährstoffen in Risikophasen wie etwa Schwangerschaft, Säuglings- und Kleinkindalter sowie bei weiblichen (menstruierenden) Jugendlichen durch eine individuelle Ernährungsanamnese geklärt werden. Im Bedarfsfall sollte eine Ernährungsfachkraft hinzugezogen werden, etwa zur Erstellung eines Ernährungsprotokolls (siehe Infobox 1). Im Einzelfall können ergänzende Labordaten z. B. zum Status von Eisen, Vitamin D, Vitamin B12 oder zur Jodversorgung notwendig sein (Tab. 5).

Tab. 5 Ergänzende Labordiagnostik. (Rudloff et al. [16], Herrmann und Obeid [28], Obeid [29])

Ernährungsanamnese und weitere Diagnostik

Folgendes Vorgehen für die orientierende Anamnese wird vorgeschlagen:

  1. 1.

    Lebensmittelabfrage:

    • Wie oft (täglich, >3-mal/Woche, seltener, nie) isst Ihr Kind Fleisch bzw. Wurst oder Fisch?

    • Wie oft (täglich, >3-mal/Woche, seltener, nie) verzehrt Ihr Kind Mich- und Milchprodukte?

  2. 2.

    Identifizierung typischer Risikonährstoffe:

    • Bei „selten“ und/oder „nie“ als Antwort auf die Frage nach Fleisch, Wurst oder Fisch: laktovegetarische Ernährung möglich, also etwa Eisenversorgung beachten.

    • Bei „selten“ und/oder „nie“ als Antwort auf die Frage nach Milch- und Milchprodukten: Kalziumversorgung beachten und nach Jod fragen. (Wenn kein Jodsalz verwendet wird, auf Jodstatus achten).

    • Bei „selten“ und/oder „nie“ auf beide Fragen: vegane Ernährung möglich (kein Verzehr tierischer Produkte), also zusätzlich auf Kalzium, Vitamin B12 und Vitamin D und Protein achten.

Wenn Unklarheiten bestehen, geben Ernährungsprotokolle genauere Hinweise auf mögliche Risikonährstoffe und zur Notwendigkeit ergänzender Diagnostik unter der individuellen Kostform. Bei Verdacht auf einen Mangelzustand für einzelne Nährstoffe können ergänzende Laboruntersuchungen (Tab. 5) indiziert sein. Wie bei den anderen vegetarischen Kostformen ist der Wachstums- und Entwicklungsverlauf unter veganer Diät regelmäßig zu protokollieren.

Unter veganer Kost ist der Aufwand zur Deckung der Ernährungsdefizite vergleichbar mit komplexen Ernährungsplänen zur Risikovermeidung bei medizinisch notwendigen Diäten in der Pädiatrie. Beispiele sind die engmaschige medizinische und diätetische Betreuung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen mit komplexen Nahrungsmittelallergien oder angeborenen Stoffwechselerkrankungen wie Phenylketonurie. Für Kinder und Jugendliche unter veganer Kost sind also Beratung und Begleitung der Familie in Kooperation von Kinder- und Jugendarzt und Ernährungsfachkräften notwendig (Infobox 2). Eine gute Compliance ist zwingend erforderlich.

Infobox 2 Weitere Informationen zum Thema

Spezialfall des Vitamin B12

Gestillte Säuglinge langjährig vegan ernährter Mütter

Mit einer rein pflanzlichen Ernährung ist das Risiko einer Unterversorgung mit verschiedenen Nährstoffen auch bei optimal zusammengestellter Ernährung hoch. Vor allem die ausreichende Zufuhr von Energie, Eiweiß, langkettigen Omega-3-Fettsäuren, Eisen, Kalzium, Jod, Zink sowie den Vitaminen B2, B12 und D ist bei veganer Ernährung in der Schwangerschaft kritisch. Eine vegane Ernährungsform birgt daher erhöhte gesundheitliche Risiken für das Kind und die werdende Mutter.

Ein besonderes medizinisches Problem ist die unzureichende Versorgung von gestillten Säuglingen veganer Mütter mit Vitamin B12. Säuglinge, die von Frauen mit Vitamin-B12-Mangel geboren wurden, haben wenig Vitamin in der Leber gespeichert. Wenn diese Säuglinge gestillt werden und die Mutter kein Vitamin-B12-Supplement erhält, setzt sich der Vitaminmangel des Kindes nach der Geburt fort. Zahlreiche Fallberichte [30] beschreiben ausgeprägte Mangelzustände von Vitamin B12 mit klinischen Manifestationen wie muskulärer Hypotonie, Fütterungsschwierigkeiten und Gedeihstörung sowie megaloblastärer Anämie. Der Mangel kann langfristige und teilweise irreversible neurologische Auswirkungen haben, wenn er nicht frühzeitig festgestellt wird oder sich die Behandlung verzögert.

Substitution unter veganer Ernährung und Vorgehen beim Mangelzustand

Für die Supplementierung ist zwischen der Prävention bei veganer Ernährung und der Therapie bei eingetretenem Mangelzustand zu unterscheiden.

Präventiv.

Beim Wechsel zu vegetarischen Kostformen wird zum Erhalt normaler Vitamin B12-Spiegel die regelmäßige tägliche Supplementierung mit Vitamin B12 empfohlen, entweder über Zufuhr angereicherter Produkte oder über Nahrungsergänzungsmittel. Dabei ist die unterschiedliche Bioverfügbarkeit zu beachten. Die in vegetarischen Zirkeln oder Internetblogs häufig empfohlenen pflanzlichen Quellen wie Shiitake-Pilze oder Algen enthalten ein biologisch unwirksames B12-Analogon und sind daher als Vitamin-B12-Quelle zur Supplementierung ungeeignet [16].

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat kürzlich in ihren gemeinsamen Empfehlungen mit den Ernährungsgesellschaften aus Österreich und der Schweiz den Referenzwert für die Vitamin-B12-Zufuhr überarbeitet und erhöht. Der abgeleitete Schätzwert der angemessenen Zufuhr beträgt für Säuglinge im Alter von 4 bis 12 Monaten jetzt 1,4 µg/Tag; der entsprechende Wert für Kinder von 10 bis unter 13 Jahren 3,5 µg/Tag [31]. Die Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin (DGKJ) empfiehlt für vegan ernährte Kinder je nach Ausgangslage die tägliche Substitution mit 5–25 µg B12 [16].

Mangeltherapie.

Tritt ein Vitamin-B12-Mangel auf, sind mehrere Stadien in der Entwicklung des Mangelzustands zu beobachten, die über die Bestimmung von Biomarkern beurteilt werden können (Infobox 3).

Infobox 3 Entwicklung des Vitamin-B12-Mangelzustands

  • 1. Stadium: Die negative Bilanz von Vitamin B12 wird frühzeitig über die Erniedrigung der Konzentration von Holotranscobalamin (Holo-TC oder „aktives B12“) angezeigt

  • 2. Stadium: Die Entleerung der Vitamin-B12-Speicher kann über den Anstieg des funktionellen Markers Methylmalonsäure (MMA) diagnostiziert werden

  • 3. Stadium: Der metabolische Vitamin-B12-Mangel kann über die Erniedrigung der Konzentration von Holo-TC sowie den Anstieg von MMA- und Homocysteinwert diagnostiziert werden

  • 4. Stadium: Die typischen klinischen Manifestationen eines Vitamin-B12-Mangels treten oft als letztes funktionelles Stadium auf [28]

Ein Vitamin-B12-Mangel im Frühstadium (Stadien 1 und/oder 2) zeichnet sich also durch erniedrigte Holotranscobalaminkonzentrationen in Serum/Plasma oder/und erhöhte Methylmalonsäurespiegel in Plasma oder Urin aus; er kann schon bei Schwangeren etwa über die Bestimmung des Biomarkers Methylmalonsäure im Urin nachgewiesen werden. Wenn sich die Vitamin-B12-Mangelsituation bereits bei den Säuglingen, Kindern oder deren Müttern klinisch manifestiert hat, wird häufig eine Initialtherapie des Mangels mit 1 mg Vitamin B12 i.m. empfohlen; damit ist das Vitamin sofort und vollständig bioverfügbar [29].

Infobox 4 Beratungstelefon Kinderernährung

Beratungstelefon Kinderernährung des Forschungsdepartment Kinderernährung (FKE): Eltern, Multiplikatoren und andere Interessierte können sich montags von 9:00–13:00 Uhr unter der Telefonnummer 0234/509-2649 mit ihren Fragen zur Ernährung von Kindern direkt an das FKE der Universitätsklinik Bochum wenden.

Fazit für die Praxis

  • Bisher fehlen überzeugende Argumente für gesundheitliche Vorteile vegetarischer Kostformen gegenüber den bewährten Standards der Ernährung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen.

  • Restriktive Ernährungsformen im Kindesalter, unabhängig davon, ob sie aufgrund medizinischer Erfordernisse, z. B. bei angeborenen Stoffwechselerkrankungen oder Nahrungsmittelallergien, indiziert sind oder von Eltern selbst gewählt werden, sind mit Risiken für die ausreichende und sichere Nährstoffversorgung sowie für Wachstum und Entwicklung der Kinder verbunden. Sie erfordern, je nach Strenge der Diät, entsprechende Sicherheitsvorkehrungen.

  • Bereits bei lakto-ovo-vegetarischer Kost sollte die sichere Versorgung mit kritischen Nährstoffen in Risikophasen wie Schwangerschaft sowie Säuglings- und Kleinkindalter durch Ernährungsanamnese, ggf. Labordiagnostik, geklärt werden.

  • Bei veganer Kost besteht das Risiko multipler Nährstoffdefizite mit erhöhter Gefährdung der Gesundheit und Entwicklung. Individuelle Beratung und Betreuung sind angezeigt (Infobox 4).

  • Praktische Beratung und Betreuung bei vegetarischer Kinderernährung bedeutet kenntnisreiche und behutsame Optimierung der bestehenden Ernährung und die Bereitschaft zu Kompromissen auf beiden Seiten.