Zusammenfassung
In der Bundesrepublik Deutschland sind die Zuwanderer eine in strafrechtlicher Hinsicht auffällige Gruppe. Um zu untersuchen, zu welchen Anteilen Migranten unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten im Vergleich zu Personen der autochthonen Bevölkerung von der Polizei als Tatverdächtige registriert und durch ein Gericht abgeurteilt werden, haben uns die Landeskriminal-bzw. die Statistischen Landesämter aus 13 Bundesländern aus der Polizeilichen Kriminal-und der Strafverfolgungsstatistik für die Tatjahre 1995 und 1999 die Individualdaten zur Verfügung gestellt. Beide Datenquellen wurden unter Konstanthaltung möglichst vieler Variablen in Beziehung gesetzt. Unter Berücksichtigung der Alters-und Geschlechtsverteilung ergibt sich, dass für die einzelnen Migrantenpopulationen die Kriminalisierungswahrscheinlichkeit gegenüber den Deutschen zum Teil um über das Dreifache erhöht ist. Allerdings werden die jungen tatverdächtigen Migranten (im Alter von unter 25 Jahren) im Verlauf des Ermittlungsverfahrens seltener durch ein Gericht abgeurteilt als junge Deutsche. Die Höherbelastung der Migranten ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass ihr Lebensalltag durch das Ausländergesetz geregelt wird, das für die Einheimischen bedeutungslos ist. Auffällig sind die länderspezifischen Differenzen in der Kriminalisierungswahrscheinlichkeit für Migranten. So findet das Ausländergesetz in einigen Bundesländern über drei Mal häufiger Anwendung als in anderen. Geprüft wird, ob diese Unterschiede in einem Zusammenhang stehen mit a) den EU-Außengrenzen, b) der jeweiligen Ausländerdichte und/oder c) den parteipolitischen Stimmungslagen bzw. den die Regierungsmehrheit stellenden Parteien; hinsichtlich des zuletzt genannten Punktes werden deutliche Differenzen ermittelt.
Abstract
Immigrants in Germany form a significant group in terms of crime. An investigation of the rates at which migrants of different nationalities are registered as police suspects and convicted by the courts in comparison to members of the indigenous population was carried out using data supplied by thirteen German federal states. The raw data for the 1995 and 1999 police crime statistics were provided by the State Offices of Criminal Investigation, while the raw data for the 1995 and 1999 court statistics were supplied by the State Statistical Offices. The two data sources were compared while keeping as many variables constant as possible. After taking into consideration age and gender distributions, it is found that for the different migrant populations the probability of involvement with the police and the courts is in some cases more than three times as high as for the German population. However, young migrants (aged under twenty-five) were less likely than young Germans to be convicted by a court in the course of the judicial process. One reason why higher rates were found for migrants is that their everyday life is regulated by the “Ausländergesetz” (Foreign Citizen’s Act), which is irrelevant for German citizens. Significant differences in the probability of migrants becoming involved with the police and the courts were found between the German federal states. In certain states the Foreign Citizen’s Act is applied three times more frequently than in others. The study examines whether these differences are related to a) the external borders of the European Union; b) the proportion of foreigners in the population; and c) political party preferences and the parties forming the governing majority of the state; clear differences were found with respect to item c).
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Der vorliegende Beitrag entstand im Projekt „Konfliktregulierung bei Straftaten”. Die Studie wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Neben der hier vorgestellten Auswertung von Individualdaten aus der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistik werden in dem Projekt eine repräsentative Opferbefragung und eine Analyse von ca. 1000 staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten durchgeführt.
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Mansel, J., Albrecht, G. Migration und das kriminalpolitische Handeln staatlicher Strafverfolgungsorgane. Koelner Z.Soziol.u.Soz.Psychol 55, 679–715 (2003). https://doi.org/10.1007/s11577-003-0117-2
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