Michel Crozier war einer der bedeutendsten Soziologen der Nachkriegszeit und der Gründungsvater der modernen französischen Organisationstheorie. Umso überraschender ist also die Tatsache, dass er nie Soziologie studiert hat. Crozier war Jurist und Absolvent der berühmten Handelsschule „École des hautes études commerciales“ (HEC). Der Wendepunkt kam 1944, als der junge Trotzkist in die USA reiste, um eine Studie zum Klassenbewusstsein der amerikanischen Arbeiter zu realisieren. Mit Verwunderung stellte er fest, dass es keines gab. Stattdessen äußerten die amerikanischen Arbeiter Missmut über die Organisationsverhältnisse. Diese einschneidende Erfahrung setzte Crozier auf die Fährte eines neuen Akteursverständnisses. Der arbeitende Mensch ist demnach weder ein Geschöpf des Systems, noch ist er ein rationaler Individualist. Stattdessen hat er sich mit den strukturellen Gegebenheiten seiner Umwelt Tag für Tag auseinanderzusetzen, um Unsicherheiten zu bewältigen und seine Interessen zu verwirklichen. Geprägt von dem Werk Herbert Simons und den amerikanischen Behavioristen, entwickelte Crozier eine handlungstheoretisch informierte Organisationssoziologie, welche sich in zahlreichen ethnografisch anmutenden Studien zum französischen Staatssystem niederschlug. Am bekanntesten ist wohl seine Monografie Le phénomène bureaucratique (1964), welche er während seines Aufenthalts an der Stanford University auf englischer Sprache verfasste und mit der er sich später in Frankreich habilitieren sollte. Der große Erfolg des Buches, das in Deutschland oftmals verkürzt als Kritik am Weber’schen Bürokratiemodell aufgegriffen wurde, eröffnete ihm neue Möglichkeiten: Er baute das CNRS-Institut „Centre de Sociologie des Organisations“ (CSO) in Paris auf.

Es begann nun eine Phase der Schulenbildung, in der Generationen von Soziologen in die Crozier’sche Methodologie eingeführt wurden: „Zuhören, verstehen, handeln“ – die drei Begriffe fassen die Forschungspraxis des Soziologen wohl am besten zusammen. Es sind die drei Begriffe, die Croziers Schwert der „Académie des sciences morales et politiques“ zieren, eine Auszeichnung, die ihm 1999 als Dank für seinen unermüdlichen Reformeinsatz verliehen worden ist.

„Zuhören“ steht für die Kapazität des Forschers, sich in die Haut seines Gegenübers zu versetzen und herauszufinden, was ihn antreibt. „Verstehen“ muss der Soziologe, was für ein Handeln aus dieser Situation resultiert – individuell und im Kollektiv. „Handeln“ steht für eine Soziologie, die über diese Handlungsbedingungen aufklärt, um den Menschen im System die Möglichkeit der Reform zu eröffnen. Die Soziologie wird zum Ausweg aus der Krise, die in Croziers Werk im analytischen Zentrum steht. Die Studien Croziers und die seiner Schüler am CSO befassen sich mit den unterschiedlichsten Milieus und Organisationssystemen, wie zum Beispiel mit der französischen Tabakindustrie, dem Versicherungsgewerbe, der Post oder aber auch neuerdings mit der Literaturszene (François und Dubois 2013), den Universitäten (Musselin 2004) und den Krankenhäuser (Bergeron und Nathanson 2012). Es ist die empirische Reichhaltigkeit dieser Studien, die auf mehreren hundert Interviews beruhen, um aus dem Komplex individueller Handlungsbedingungen und Motiven das jeweilige „System“ zusammenzupuzzeln, die sie zu einzigartigen Momentaufnahmen der französischen Gesellschaft machen.

Crozier war Brückenbauer, Institutionenbildner und ein ausgesprochen feinfühliger Zuhörer. James G. March beschreibt ihn als „the essence of a French scholar. He is elegant; he is gracious; his words, his movements, and his eyes exude a Gallic presence that is unpretentiously serene, exquisitely subtle, and hopelessly erotic“ (March 2012). Sein unermüdliches intellektuelles Engagement für die Reform des französischen Staatswesens, das er in zahlreichen Büchern (La société bloquée 1970; On ne change pas la société par décret 1979; La crise de l’intelligence 1995), im Club Jean Moulin oder in der Zeitschrift „Esprit‟ auslebte, veranlasste ihn dazu, sich wieder und wieder an Reform- und Evaluationskommissionen zu beteiligen. In Erinnerung bleibt vor allem seine unvergessliche und dialogbasierte Moderation im Fall der Air-France-Krise in den Jahren 1993 und 1994.

Michel Crozier ist im Alter von 90 Jahren gestorben. Sein Erbe lebt jedoch weiter: in der renommierten Zeitschrift Sociologie du Travail, die er 1959 zusammen mit Alain Touraine gegründet hat, in den Generationen von Schülern, die er ausgebildet hat, und vor allem in einem Soziologieverständnis, das er in seinen Memoiren À contre-courant aus dem Jahr 2004 mit folgenden Worten resümierte: „Im Gegensatz zur kritischen Soziologie geht es mir vor allem darum, eine positive Soziologie zu praktizieren; eine realistische Soziologie, die auf gegenseitigem Zuhören basiert ist. Ich will Menschen mit Wissen und Instrumenten ausstatten, damit sie Verantwortung übernehmen und Wandel realisieren können.“

Mehr Informationen zu Michel Crozier sowie zahlreiche Erfahrungsberichte seiner Zeitgenossen, Kollegen und Freunde finden sich auf der Homepage des neugegründeten Vereins „Les amis de Michel Crozier“ unter http://www.michel-crozier.org/assoc/amismc/.