5.1 Herausforderung der Planung der Integration automatisierten Fahrens angesichts fehlender Normen

Das Kapitel setzt sich mit der Frage auseinander, wie die künftige Planung von Verkehrsräumen erfolgen könnte, die die Integration eines automatisierten ÖPNV berücksichtigt. Dabei wird davon ausgegangen, dass es in den nächsten Jahrzehnten noch keinen relevanten vollautomatisierten SAE Level 5 motorisierten Individualverkehr geben wird.

5.1.1 Die aktuelle Planungssituation

Ob Verkehrsentwicklungsplan, Mobilitätskonzept oder die neueste Generation verkehrsplanerischer Planwerke Sustainable Urban Mobility Plan (SUMP), sie alle haben eins gemein: Sie schaffen für die kommunale Verkehrsplanung den Handlungsrahmen für die kommenden 10 bis 15 Jahre. Dieser Planungshorizont ist absolut notwendig. Und doch bergen die Planwerke das Problem, dass sie kaum im Stande sind, mit der Veränderung im Bereich der Mobilität mitzuhalten, die exponentiell zunimmt. Insbesondere der SUMP ist zwar so ausgelegt, dass er kein starres Planwerk darstellt, sondern sich an die Veränderungen anpassen kann. Teilbausteine und Maßnahmen dieser Planwerke sind jedoch entweder aufgrund der derzeitigen Normen und Gesetze nicht so flexibel – man denke an Ausbaumaßnahmen für Straßen- und Stadtbahnen mit den dazugehörigen Planfeststellungsverfahren – oder es fehlen sogar – wie im vorliegenden Fall des automatisierten Fahrens – Normen oder auch nur Hinweise für die Planung.

Die Fragestellung beginnt dabei bereits im Vorfeld und vor der genauen Ausgestaltung und Aufteilung des Straßenraums. Jede Kommune verfügt über ein Straßennetz, das mindestens in Haupt- und Nebenstraßen unterteilt ist. Für Nutzende ist dies meist über den Ausbaustandard und die entsprechend geltende Geschwindigkeitsbegrenzung erkennbar. Planerisch hingegen liegt hier ein deutlich komplexeres System dahinter. So können großräumig betrachtet die Straßen nach Verbindungsfunktionen eingruppiert werden (siehe Abb. 5.1).

Abb. 5.1
figure 1

Eingruppierung von Straßen nach Verbindungsfunktionen entsprechend der Richtlinie für die Anlage von Stadtstraßen (RASt) FGSV 2006

Daraus ergibt sich für den Entwurf der Straßen beispielhaft dargestellt die in Abb. 5.2 dargestellte Situation.

Abb. 5.2
figure 2

Typische Entwurfssituation aus der Richtlinie für die Anlage von Stadtstraßen (RASt) FGSV 2006

Abb. 5.3
figure 3

(Quelle: FGSV 2006)

Beispiele für Verkehrsräume und lichte Räume beim Begegnen, Nebeneinander- und Vorbeifahren ausgewählter Kombinationen von Bemessungsfahrzeugen (Klammermaße: mit eingeschränkten Bewegungsspielräumen).

Entsprechend der Verbindungsfunktion stellt die Richtlinie für die Anlage von Stadtstraßen (RASt) sodann typische Entwurfssituationen zu den Straßenkategorien vor. Bereits an dieser Stelle stellt sich den Planenden die Frage, welche Straßenkategorien gleichermaßen für automatisierte Fahrzeuge geeignet sein sollen und unter welchen Umständen und/oder Anpassungen es möglich sein soll, bestimmte Straßen mit einem automatisierten Fahrzeug zu befahren. Denkbar wäre auch das Aufzeigen einer zeitlichen Perspektive, da sicherlich die anbaufreie Straße – ebenso wie eine Autobahn – durch automatisierte Fahrzeuge bereits heute besser genutzt werden kann als eine Quartiersstraße mit vielen Bäumen, parkenden Autos und spielenden Kindern. Da viele Straßen Bestandsstraßen sind und in den beschriebenen Planwerken die Netzstruktur und die Kategorisierung nicht unumstößlich sind, ist eine allgemeine auf die Straßenkategorie bezogene Feststellung der Tauglichkeit für das automatisierte Fahren nicht möglich. Diesem Aspekt hat der deutsche Gesetzgeber in der Novelle des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) 2021 Rechnung getragen, in dem er die Nutzungsumstände für die Betriebszulassung eines automatisierten Fahrzeugs SAE Level 4 mit berücksichtigt und somit die Zulassung nur für ein bestimmtes Straßennetz oder ein bestimmtes Gebiet erfolgt.

Je tiefer und genauer die Planung im Anschluss geht, je weiter wir uns in den Bereich der Entwurfsplanung bewegen, desto mehr Fragen zum Umgang mit automatisierten Fahrzeugen tun sich auf. Dazu fehlen jedoch noch die notwendigen Leitlinien und Planungsinstrumente.

Bei Neubauten einer Straße werden diese in der Regel auf eine Lebensdauer von 30 Jahren angelegt. Das Verwaltungsgericht Lüneburg stellt hierzu fest: „Nach der Rechtsprechung der Kammer liegt die übliche Nutzungsdauer bei asphaltierten Fahrbahnen bei 25 Jahren (VG Lüneburg, Urt. v. 06.03.2018 – 3 A 105/15). Für gepflasterte Verkehrsflächen ist von einer Nutzungsdauer von etwa 30 Jahren auszugehen“ (OVG Lüneburg, Beschl. v. 30.06.2006 – 9 LA 200/04). Dies ist aus dem Grunde wichtig, dass in vielen Bundesländern Anwohnende bei der Erneuerung von Straßen zu entsprechenden Straßenbeiträgen verpflichtet werden. Auch bei der Vergabe von Fördergeldern für den Straßenbau und anderen Infrastruktureinrichtungen wird die Vergabe der Gelder oftmals an eine bestimmte Nutzung sowie an bestimmte Gestaltungen geknüpft. Dies bedeutet, wenn für eine Straße die Aufteilung des Straßenraums vorgenommen und die Straße entsprechend gebaut wurde, darf sie ohne relevante Begründung auf Jahrzehnte nicht verändert werden.

Wie aber sollen wir die Straßen der Zukunft in Hinblick auf automatisiertes und vernetztes Fahren gestalten? Bedarf es einer besonderen Gestaltung oder kann der Straßenraum so bestehen bleiben, wie er ist? Bedarf es besonderer Gestaltungselemente, Beschilderungen oder anderer Elemente zur Kommunikation für die Fahrzeuge? Sind die derzeit geplanten Schleppkurven sowie die Parkverbotsbereiche rund um Knotenpunkte ausreichend für das Sichtfeld und die Sensorik der Fahrzeuge? Sind die Abstände parkender Fahrzeuge zum Fahrbahnrand ausreichend?

Mit Blick auf die in der RASt angegebenen Maße wird bereits deutlich, dass diese den gestiegenen Fahrzeugbreiten der Pkw nicht mehr gerecht werden. Insbesondere hinsichtlich des ruhenden Verkehrs stellt sich die Frage, wie sich etwaige in den Fahrbahnbereich hereinragende, parkende Fahrzeuge auf automatisiert fahrende Fahrzeuge auswirken. Es finden sich nicht einmal Richtlinien oder Hinweise für die Berücksichtigung der Ladeinfrastruktur der Elektromobilität in der RASt 2006. Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) ist sich der Notwendigkeit bewusst, dass die Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt) einer Neuauflage bedürfen. Ob und in welcher Weise diese den vielfältigen Ansprüchen an automatisiertes Fahren gerecht werden kann, ist allerdings noch nicht geklärt.

5.1.2 Grundsätze und mögliche Lösungsansätze für die Integration eines automatisierten ÖPNV

Bis zur Neuauflage der RASt ist es notwendig, innerhalb der bestehenden Bedingungen die Integration eines automatisierten ÖPNV als ein wichtiges Instrument zur Mobilitätswende zu ermöglichen. Hierfür sind sowohl Grundsätze sowie Lösungsansätze aus einer ganzheitlichen Sicht auf das Ökosystem Mobilität und auf Grundlage der Ziele der Mobilitätswende zu formulieren.

Hierfür kann im Planungsprozess von den folgenden Annahmen ausgegangen werden, die einen künftigen Rahmen der Stadtentwicklung beschreiben oder sich aus der Notwendigkeit des Klimaschutzes ergeben:

  • Der Bestand an Pkws wird sich deutlich reduzieren.

  • Der öffentliche Parkraum für Pkw wird deutlich reduziert bzw. zum Teil nur noch in Parkhäusern oder auf dem eigenen Grundstück gestattet sein.

  • Der Verkehrsraum innerhalb der Quartiere wird zum Teil zu öffentlichem Raum mit hoher Aufenthaltsqualität.

  • Bestimmte Straßen im Quartier werden aufgeteilt auf Nahmobilität und ÖPNV.

  • Die Geschwindigkeit innerhalb des Stadtgebiets wird auf 30 km/h reduziert. Ausnahmen dazu könnten Verbindungsstraßen (VSII und VSIII) sowie Hauptstraßen (HSIII) sein.

Diese Annahmen gründen auf der Überzeugung, dass die Integration eines automatisierten ÖPNV ausschließlich als Teil einer Mobilitätsstrategie mit einer klaren Vision von der Entwicklung der Stadt und deren Mobilitätssystem erfolgen kann. Insofern stellen diese Annahmen zu errichtende Rahmenbedingungen dar. Diese Vision bedarf einer ganzheitlichen Planung, die ein besonders sorgfältiges und interdisziplinäres Vorgehen verlangt.

Für die Planung des Verkehrsraums unter Berücksichtigung des automatisiert fahrenden ÖPNV kann von den folgenden Grundsätzen und Lösungsansätzen ausgegangen werden:

  • Der Aufbau und die Dimensionierung des Straßenraumes sollten nicht an den aktuellen Fähigkeiten der automatisierten Fahrzeuge ausgerichtet werden.

  • Wenn die Notwendigkeit besteht, eine Bestandsstraße anzupassen, sollte darauf geachtet werden, dass durch die Anpassung automatisiertes Fahren nicht verhindert oder erschwert wird. Hier muss es aus der Industrie in den nächsten Jahren entsprechende Richtlinien geben.

  • Es ist darauf zu achten, dass öffentlicher Parkraum erst dann gestrichen wird und die Nutzung von bestimmten Straßen mit dem Pkw nicht mehr erlaubt ist, wenn gleichzeitig der automatisierte ÖPNV im Quartier als Alternative zum Auto zur Verfügung gestellt wird.

  • Durch Streckenführung des automatisierten ÖPNV, durch die Reduktion von öffentlichem Parkraum sowie durch Widmung von bestimmten Verkehrsräumen ausschließlich für die Nahmobilität und den automatisierten ÖPNV kann auf anderen Straßen in den Quartieren eine Anpassung des Aufbaus und der Dimensionierung der Straßen vermieden werden. Eine bauliche Trennung zwischen dem Fahrstreifen der Nahmobilität und dem Fahrstreifen für den automatisierten ÖPNV könnte ggf. jedoch sinnvoll sein.

  • Auf starken Achsen besteht mit spurgebundenen, insbesondere schienengeführten Lösungen ein Ansatz, der aufgrund seiner starren, daher absehbar unveränderten und folglich planbaren Abmessungen indisponibel mitzudenken ist. Eigene Fahrwege wirken sich hier positiv aus.

  • Planung und Zulassung des automatisierten ÖPNV-Fahrzeugs gemeinsam mit der gewählten Strecke entsprechend StVG 2021.

Für die Integration des automatisiert fahrenden ÖPNV lassen sich für den Planungsprozess von Verkehrsanlagen im kommunalen Bereich folgende Lösungsansätze formulieren:

  • LP1: Grundlagenermittlung

    Hier wird im oben beschriebenen Zusammenhang geprüft, um welche Straßenkategorie (nach RASt) es sich handelt sowie ob eine Integration automatisiert fahrender ÖPNV-Fahrzeuge sinnvoll und notwendig ist.

  • LP2: Vorplanung

    Anhand der festgestellten Straßenkategorie werden die Dimensionen der Straße sowie in Zusammenhang damit erste Überlegungen der Straßenraumverteilung vorgenommen. Sollte eine Integration automatisierter Fahrzeuge nötig sein, so sollte der Nahmobilität und dem ÖPNV Priorität eingeräumt und die Fahrbahnränder möglichst „clean“ gehalten werden. Auch besondere Einrichtungen wie Sensoren und weitere Bestandteile der V2X-Kommunikation müssen berücksichtigt werden.

  • LP3: Entwurfsplanung

    Die erste grobe Dimensionierung wird näher definiert. Nutzungen im Seitenraum in direkter Angrenzung an die Fahrbahn werden so angelegt, dass sie eine möglichst geringe Beeinträchtigung des fahrenden Fahrverkehrs darstellen. Flächen für den ruhenden Verkehr im Seitenraum werden nicht eingeplant und angeordnet, stattdessen werden (hochstämmige) Grünstrukturen und Aufenthaltsflächen angelegt.

  • LP4: Genehmigungsplanung

    Es wird noch einmal explizit geprüft, ob neben den verkehrlichen Belangen sowie den Belangen der Aufenthaltsqualität auch die des autonomen Fahrens hinreichende Berücksichtigung finden.

  • LP5: Ausführungsplanung

    In der Ausführungsplanung werden die bereits vorgenommenen Planungen noch einmal weiterentwickelt und dienen als Grundlage für eine ausführungsreife Lösung. Hierfür müssen alle Dimensionierungen durchgeführt werden und in Schnitten und Ausschnittsvergrößerungen dargestellt werden. Berücksichtigung finden sollten mit Sicht auf das automatisierte Fahren vor allem notwendige Abstandsflächen zwischen Fahrbahn und Seitenraum, die Sicherstellung von Sichtbeziehungen der Sensorik sowie die Berücksichtigung weiterer Belange der V2X-Kommunikation.

Fazit zu Abschn. 5.1

Kommunen und Regionen stehen vor der großen Herausforderung, ohne entsprechende Richtlinien und Planungsvorgaben in den kommenden Jahren die Mobilitätswende voranzutreiben und dafür ihr ganzes Mobilitätssystem umzuplanen. Die Integration eines automatisierten Quartiers-, Orts- oder Dorfbusangebots zur Erhöhung der Versorgungsqualität scheint dafür ein notwendiges Instrument.

Mit Mut, einer klaren Vision von der Entwicklung der Stadt, des Quartiers oder des Dorfes und im Austausch mit den Bürger:innen können jedoch Planungsvorhaben angegangen und der automatisierte ÖPNV zum alltagstauglichen Teil des Mobilitätssystems der Bürger:innen gemacht werden.

Aus der ganzheitlichen Sicht auf das Ökosystem Mobilität und den Zielen der Mobilitätswende liegen mit den formulierten Grundsätzen für die Planung sowie den genannten Lösungsansätzen im Planungsprozess von Verkehrsanlagen im kommunalen Bereich konkrete Möglichkeiten und Hinweise vor, wie die Belange des automatisierten ÖPNV berücksichtigt werden könnten. Diese sollen trotz derzeit fehlender Rahmenbedingungen und Richtlinien den Mut und die Perspektive für die Integration des automatisiert fahrenden ÖPNV fördern.

5.2 Herausforderung der Planung angesichts eines veränderten Mobilitätsverhaltens bzw. einer noch nicht bekannten Verkehrsnachfrage

Neue, teil- oder vollautomatisierte Verkehrssysteme, Verkehrsmittel oder Verkehrsangebote werden derzeit von Seiten der Infrastruktur und der vorhandenen Technologien in bestehende Umgebungen integriert. Das Rückgrat der angestrebten Verkehrswende, eine Reduktion des motorisierten Individualverkehrs (MIV) und der Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) wird stark durch zukünftige Verkehrssysteme und -angebote definiert werden. Dabei spielen neben den immer weiter wachsenden Ballungsräumen, wie im difu-Bericht-Beitrag „Ausweitung kommunaler Wohnbestände“ (difu-Bericht 02/2021) dargestellt, auch zu erschließende Nicht-Ballungsräume eine große Rolle. Nicht alle Menschen werden in durch räumliche Nähe relativ einfach zu erschließenden Bereichen leben können, da die derzeit vorherrschenden Preisentwicklungen als Engpass wirken. Diese Menschen sind dann in schwach erschlossenen Gebieten, wie etwa regionalen Siedlungsgebieten, auf spezielle Verkehrssysteme und -ergänzungssysteme zusätzlich zu bereits bestehenden Lösungen angewiesen. Viele Anbieter könnten mit ihren Produkten, von Micro-Scootern bis zu vollautomatisierten Shuttlebussen, im Bereich des Mikro-ÖV und On-Demand-Verkehrs einen wertvollen Beitrag dazu liefern (Distler et al. 2018).

Mit zunehmendem Fortschritt in der Entwicklungstätigkeit und langjähriger Forschungsarbeit im Bereich der Sharing-Systeme, des On-Demand-Verkehrs und des automatisierten Fahrens wird ein Einsatz nicht nur in urbaner Umgebung immer zielführender und effektiver. Ein Umdenkprozess im Angebotsdesign von „Welche Strecke ist für mein Fahrzeug verträglich?“ hin zu „Wie viele Fahrgäste können möglichst optimal versorgt werden, indem Routen oder Nachfrage gebündelt werden?“ ist allenfalls notwendig, auch bei der Planung und Nachfragemodellierung, um den neuen Angeboten und damit verbundenen Möglichkeiten gerecht zu werden.

Daraus wird ersichtlich, dass die neuen Mobilitätsformen neben einer möglichst aktuellen Datenlage zu physischer und digitaler Infrastruktur für die Angebotsplanung und die Ausrichtung des Angebots auf Kenngrößen der Stadtplanung auch die Einbindung der Nutzer in das Gesamtsystem notwendig sind. Will man Sharing-, Pooling- oder On-Demand-Systeme etablieren, sind Vorhersagen zu Nachfrage und Änderungen in der Nachfrage notwendig. Gleichzeitig braucht es jedoch auch Echtzeitinformation über verfügbare Angebote.

5.2.1 Planungsveränderungen durch neue Mobilitätsformen

Durch neue Mobilitätsformen werden herkömmliche Planungsansätze mit neuen Fragestellungen konfrontiert. Neben der geänderten Form der Fortbewegung selbst ist eine Tendenz hin zu Optimierungsansätzen erkennbar, die anstatt vom Menschen gelenkten Fahrzeugen nundurch Digitalisierung und Automatisierung des Verkehrssystems den Einsatz automatisierter Fahrzeuge zur Optimierung des Verkehrssystems fordern. In den beiden zeitnahen Projekten auto.bus seestadt (Millonig A. et al. 2019) und Drive2TheFuture (Drive2TheFuture Konsortium et al. 2019) wurden zwei autonome (SAE Level 3–4) Shuttle-Busse in einem Stadtentwicklungsgebiet in der Österreichischen Bundesauptstadt Wien in einem über zweijährigen Testbetrieb eingesetzt. Dabei wurden die Shuttles nicht auf einer abgesperrten Route eingesetzt, sondern direkt in den Linienbetrieb integriert und fuhren somit sowohl auf eigenen als auch auf Mischverkehrouten im Passagierbetrieb. Als Forschungsprojekt klassifiziert, wurden neben Passagierbefragungen auch Tests zur Integration von vulnerablen, nicht direkt in den Informationsfluss integrierten Verkehrsteilnehmern durchgeführt. Diese Verkehrsteilnehmer wurden durch eine Informationskampagne und Anzeigen am Fahrzeug selbst über Fahrmanöver und Funktion der Routentests informiert. Die Ergebnisse zeigten eine breite Akzeptanz, die durch Weiterentwicklungen im Technologiebereich noch gesteigert werden könnte. Somit sieht sich die Planung rund um neue Mobilitätsformen mit zwei Herausforderungen konfrontiert:

  • Die Nachfragemodellierung ist mit einer großen Unbekannten versehen: Eine Abschätzungen hinsichtlich der Verfügbarkeit der Technologie ist derzeit nicht ausreichend genau möglich und so lässt kein genauer Zeitpunkt für die Inbetriebnahme festlegen.

  • Neben der eigentlichen Erschließungsplanung müssen OptimierungsAnforderungen zeitnah und nachfrageabhängig berücksichtigt werden.

Diese beiden markanten Herausforderungen lösen das bisher lineare Planungsdenken nach direkten Anbindungen in Gebiete steigender Nachfrage ab. Gleichzeitig erfordern sie aber eine neue Herangehensweise bei der Initiierung der Datengrundlage zur generellen Planung.

5.2.2 Neue Form der Datenerhebung notwendig

Um Auswirkungen auf Nachfrage für neue Verkehrsmittel und -services abzuschätzen, werden in der Verkehrsplanung meist Simulationsmodelle eingesetzt. Um Verkehrssimulationsmodelle aufzubauen, werden meist Varianten des Vierstufenmodells verwendet, bei dem die Schritte

  • Verkehrserzeugung,

  • Verkehrsverteilung,

  • Verkehrsmittelwahl und

  • Verkehrsumlegung

durchlaufen werden. Eine gute Zusammenfassung zu derzeitigen Entwicklungen im Bereich der Verkehrsplanung für Fahrzeuge ist in Narayanan et al. (2020) zu finden. Die ersten beiden Schritte werden dabei zumeist als konstant und von der Einführung neuer Verkehrsmittel unabhängig angesehen. Natürlich kann es durch Einführung neuer, automatisierter Verkehrsmittel auch zu Änderungen in der Flächennutzung oder räumlichen Verteilung der Bevölkerung kommen, aber diese Effekte werden durch Annahmen in unterschiedlichen Simulationsszenarien abgedeckt. Die Verkehrsmittelwahl hingegen hängen natürlich von den neu in das Verkehrssystem eingeführten autonomen Fahrzeugen ab. Diese müssen z. B. über veränderte Reisezeitbewertungen in die Verkehrsmittelwahlmodelle übernommen werden. Derzeit gibt es noch sehr wenige Daten zur Nachfrage nach automatisierten Fahrzeugen, vor allem, da es derzeit nur wenige Experimente, insbesondere mit automatisierten Shuttles auf festen Strecken gibt (Antonialli, F. 2019). Zusätzlich sind die Experimente noch weit entfernt von realen Einsätzen von automatisierten Fahrzeugen. So muss derzeit noch ein Operator im Fahrzeug mitfahren und die Fahrzeuge fahren aus rechtlichen Gründen nur mit sehr geringen Geschwindigkeiten, was beides die gefühlte Sicherheit in den Fahrzeugen erhöht (Hilgarter und Granig 2020) und was es wiederum schwer macht, aus den Fahrgastzahlen verlässliche Nachfrageschätzungen abzuleiten. Um Daten für die Schätzung der Verkehrsmittelwahlmodelle für neue Mobilitätsformen zu erhalten, wird daher meist auf Umfragen zurückgegriffen. Gerade im Bereich der Bewertungen von Reisezeiten gibt es schon eine Vielzahl von Veröffentlichungen, in denen Choice-Experimente beschrieben werden, um die Reisezeitbewertungen in Verkehrsmittelwahlmodellen zu schätzen. Beispiele finden sich in der Publikation „Assessing the effect of autonomous driving on value of travel time savings“ (Kolarova, V. et al. 2019), in der die Values of travel time für unterschiedliche Fahrzeuge untersucht wird. Man sieht in Abb. 5.4, dass die Bewertung von allein genutzten automatisierten Fahrzeugen nahe bei denen im öffentlichen Verkehr liegen, die generell am besten bewertet werden, während geteilte autonome Fahrzeuge etwas schlechter bewertet werden als konventionelle Autos.

Abb. 5.4
figure 4

Value-of-Travel-Time-Bewertungen (aus Kolarova, V. et al. 2019) für Pendelwege und verschiedene autonome Fahrzeugklassen im Vergleich zu konventionellen Verkehrsmitteln in Euro pro Stunde

Auch in anderen Veröffentlichungen kann man vergleichbare Werte finden, bei denen automatisierte Fahrzeuge besser bewertet werden als konventionelle Autos. In de Almeida Correia, Gonçalo Homem et al. (2019) werden z. B. die Value-of-Travel-Time-Werte von konventionellen Autos und automatisierten Fahrzeugen bei Freizeit- und Arbeitswegen verglichen. Dabei zeigt sich, dass automatisierte Fahrzeuge bei „leisure trips“ schlechter als konventionelle Fahrzeuge bewertet werden (8,71 $/h im Vergleich zu 7,8 $/h), während die Bewertung für Arbeitswege mit 5,85 $/h besser ist als die von konventionellen Fahrzeugen.

Ein Kritikpunkt an den meisten Veröffentlichungen ist, dass in den Ergebnissen von reinen „stated preference“ Choice-Experimenten es zu hypothetischen Verzerrungen kommt, da die Befragten die Auswirkungen von ihnen unbekannten Alternativen nicht richtig einschätzen können. In de Almeida Correia, Gonçalo Homem et al. (2019) wird auch untersucht, inwieweit das Design von „stated preference“ Choice-Experimenten diese hypothetische Verzerrung ausgleichen kann. Dabei wird gezeigt, dass man die Verzerrung der Modelle dadurch klar verringern kann, indem man die im Choice-Experiment angebotenen Alternativen auf Referenzalternativen aufbaut, die den wahren Alternativen der befragten Personen entsprechen. Eine solche auf Referenzalternativen gestützte Befragung wurde z. B. in Zhong, Haotian et al. (2020) angewendet. Hier werden geteilte automatisierte Fahrzeuge anders als in der Abb. 5.4 nach Kolarova, V. et al. (2019) etwas besser bewertet als konventionelle Fahrzeuge. Was hier beobachtet wird, ist allerdings, dass die Values of travel Time in ländlichen Gebieten und am Stadtrand klar kleiner sind als in urbaneren Gegenden, was für eine Einführung von automatisierten Angeboten gerade dort erfolgversprechend sein könnte. Einen Schritt weiter gehen sogenannte SP-off-RP Choice-Experimente (Train, Kenneth E. und Wesley W. Wilson 2009), bei denen wahre Alternativen aus der Befragung hypothetischen Alternativen gegenübergestellt werden, um zu garantieren, dass das Setting der Alternativen den Befragten geläufig ist. Ein Beispiel für ein Befragungswerkzeug, das es ermöglicht, wahre Routenalternativen der Befragten solchen z. B. in geteilten Verkehrsmitteln gegenüberzustellen, wird in Rudloff, C. und Straub M. (2021) vorgestellt. Eine beispielhafte Auswahlsituation in MyTrips für den Fall eines Mikro-OEV-Systems im ländlichen Raum ist in Abb. 5.5 zu sehen. MyTrips bietet natürlich genauso die Möglichkeit, automatisiertes Fahren zu integrieren.

Abb. 5.5
figure 5

Auswahlsituation aus dem MyTrips-Befragungstools

Neben Daten aus realen Experimenten gibt es auch schon Studien, die Daten aus konventionellen, bedarfsgesteuerten Verkehrsangeboten nutzen, um mit Hilfe einer Simulationen dann die Nachfrage für und die Modal-Split-Veränderungen vorherzusagen. Beispiele dafür findet man z. B. in Studien zu Ride-Sharing in Hamburg, in der eine komplette Studie zu einem Ride-Sharing-Service mit Hilfe einer Verkehrssimulation beschrieben ist (Ergebnisbericht Kagerbauer, M. et al. 2021; Methodenbericht Kagerbauer et al. 2021). Dabei werden Daten eines Anbieters konventioneller Ride-Sharing-Fahrzeuge durch „stated preference“ Umfragen (Abb. 5.6) ergänzt, in denen Verhalten der Befragten im Fall von Automatisierung abgefragt wird. Damit wird dann ein Simulationsmodell erstellt, mit dem unterschiedliche Szenarien modelliert werden, um die Nachfrage nach automatisierten Ride-Sharing-Fahrzeugen zu modellieren.

Abb. 5.6
figure 6

(Nach Kagerbauer, Martin, et al. 2021)

Befragungsdesign aus der Ride-Sharing-Studie.

Die Studie zeigt auch auf, wie man andere Datenquellen, auch zu konventionellen Fahrzeugen, nutzen kann, um damit Vorhersagen für die Nachfrage automatisierter Fahrzeuge abzuschätzen. Gute Datenquellen sollten durch die Mobility as a Service (MaaS) Anwendungen geboten sein, die oft mögliche Anwendungsfälle für neue automatisierte Services beinhalten. So werden Car-Sharing- und Ridepooling-Anwendungen dort derzeit noch mit konventionellen Angeboten integriert. Die Nachfrage, die für diese konventionellen Anwendungen in den MaaS-Anwendungen beobachtet wird, kann dann mit Hilfe von Umfragen auf automatisierte Fahrzeuge übertragen werden.

Eine weitere Datenquelle, die genutzt werden kann, sobald automatisierte Fahrzeuge zu einem größeren Teil des Verkehrs werden, sind Daten aus den Fahrzeugen selbst. Die in den Fahrzeugen verbauten Sensoren zeichnen ständig Daten auf, die teilweise auch für Nachfrageabschätzungen genutzt werden können. Gerade wenn Fahrzeuge auch noch vernetzt sind, können so viele Daten zu Verkehrsfluss oder Verkehrsstärken erhoben werden, die bei der Kalibrierung von Verkehrssimulationsmodellen eingesetzt werden können.

5.2.3 Analyse

Auch ohne Verkehrssimulation können aus Umfragedaten erste Erkenntnisse über die Nachfrage nach automatisierten Angeboten ermittelt werden. So kann man z. B. Likert-Skalen nutzen, um abzufragen, wie wahrscheinlich die Nutzung neuer Verkehrsmittel für die Befragten ist. In Abb. 5.7 sieht man z. B. die Wahrscheinlichkeiten, dass Befragte ein Mikro-ÖV-System nutzen, wobei hier zusätzlich noch nach der selbsteingeschätzten Erreichbarkeit des Systems an derzeitigen OEV-Haltestellen unterschieden wird.

Abb. 5.7
figure 7

Wahrscheinlichkeit, dass Befragte Mikro-OEV im ländlichen Raum nutzen werden, nach Erreichbarkeit der an OEV-Haltestellen verfügbaren Fahrzeuge

Natürlich hat man hier keine quantifizierbare Abschätzung der Nachfrage, aber man kann sich einfach einen ersten Eindruck verschaffen, wer an solchen neuen Systemen überhaupt Interesse hat.

Um genauere Analysen zu interessierten Personengruppen zu erhalten, lohnt es sich, diese nicht nur geografisch oder nach soziodemografischen Faktoren zu unterscheiden. Typologien wie die pro:motion-Typologie (siehe Markvica, Karin, et al. 2020), die sechs Typen ausweist, die unterschiedlich auf Reize und Information im Verkehrssystem reagieren (Abb. 5.8).

Abb. 5.8
figure 8

pro:motion Typologie (Quelle: Markvica, Karin et al. 2020)

Die pro:motion-Typologien sind auch sehr gut geeignet, um das Verhalten von Personen bei der Einführung neuer Verkehrsmittel zu bewerten. In Abb. 5.9 sieht man z. B. das erwartete Nutzungsverhalten für unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten von automatisiertes Fahren für unterschiedliche pro:motion Typen.

Abb. 5.9
figure 9

Angegebene Nutzungswahrscheinlichkeiten von autonomen Fahrzeugen nach pro:motion Typ für unterschiedliche Nutzungsszenarien

5.2.4 Modellierung

Neue Verkehrsmittel und -systeme in bestehende Modellierungen aufzunehmen, ist stark mit gesetzlichen Rahmenbedingungen und technologischen Entwicklungen verbunden. Wird ein neues Verkehrsmittel in eine bestehende und für die Benutzer gewohnte Umgebung integriert, entscheiden aber auch andere Parameter über Erfolg oder Nichterfolg.

Der Modellierung dieser nicht bekannten Nachfrage ist in den letzten Jahren eine immense Bedeutung zugekommen, sowohl aus Planungssicht der Betreiber des Verkehrssystems als auch aus Sicht der Infrastrukturbetreiber. Neben der physischen Infrastruktur (Straße und Stationsumgebung) wird für das automatisierte Fahren ein konstanter Informationsfluss mittels digitaler Infrastruktur benötigt, um andere Verkehrsteilnehmer erkennen und einbinden zu können. Vor allem in der Forschung sind ebendiese Verknüpfungen derzeit stark nachgefragt, das automatisierte Fahren wird im Vergleich zu Hochleistungsstrecken in der Stadt als Mittel zur Unterstützung der Verkehrswende gesehen.

Neben der Modellierung der Infrastrukturbestandteile sind die Nachfrage und das Verhalten sowohl der Fahrzeuge als auch der beförderten Personen eine große Unbekannte, deren Erforschung in vielen weltweiten Projekten Zielsetzungen gewidmet sind. In den Projekten auto.bus Seestadt (Millonig et al. 2017) wurden zwei SAE Level 3/Level 4 Fahrzeuge, nach einem dreiwöchigen Testbetrieb inklusive Operatoren-Training auf gesperrtem Gelände, einem zweijährigen Betrieb in einem bestehenden ÖV-System unterzogen. Neben den operativen Fähigkeiten des neuen Verkehrssystems wurden auch Akzeptanz und Inklusion vulnerabler Verkehrsteilnehmer untersucht. In der Begleitforschung wurden neben Verkehrssicherheitsanalysen auch Simulationen zur Auswirkungsanalyse der eingesetzten Shuttles im Mischverkehr herangezogen. Mit dieser Herangehensweise sind auf der einen Seite Ausblicke in die Zukunft und der simulierte Einsatz angepasster Busflotten und Linienführungen möglich, gleichzeitig wurde aber ein Problem mit der Erstellung einer geeigneten Nachfrage ersichtlich. Während die Parameter der eingesetzten Fahrzeuge inklusive aller weiteren relevanten Parameter der Linienführung und des Stationsdesigns eindeutig identifizierbar sind, ist die Nachbildung der Akzeptanz der Shuttle erweiterter Gegenstand der Forschungsarbeit.

Mit der klassischen Modellierung wie der Vier-Stufen-Modellierung ist es möglich, die generelle Nachfrage basierend auf Eingangsdaten, wie etwa soziodemografischen Daten und Flächennutzung, und zugehörigen Erzeugungsraten zu erarbeiten. Klassische Verkehrsnachfrageabschätzungen sind jedoch auch durch die starren Einsatzmöglichkeiten, oftmals Abschätzungen von Verkehrserzeugungen und Ortsveränderungen in vorgefertigten statistischen Einheiten, beispielsweise Zählbezirke oder Gemeindegrenzen, limitiert. Für die beschriebenen neuen Verkehrssysteme wird ein adressscharfes Erzeugen und Abschätzen der Nachfrage notwendig, welches durch neue Formen der Nachfrageerzeugung möglich gemacht wird, das agentenbasierte Modellieren (ABM).

Diese Form der Modellierung erlaubt das Abbilden von Verkehrs- und Nachfrageverhalten einer synthetischen Population, die der echten Population im Untersuchungsgebiet nachempfunden ist. Durch diese Modellierungsart lassen sich neben den Interaktionsebenen im soziökonomischen Bereich auch makroskopische Ebenen und damit Prozesse abbilden, die neben anderen Fragestellungen vor allem im Bereich der neuen dynamischen Verkehrssysteme und -services maßgebliche Vorteile bringen. Die modellierten Agenten sind dabei Regeln unterworfen, die eine Beeinflussung der Entscheidungsfindung, Informationshandhabe und des Netzwerkaustauschs der Agenten untereinander darstellt. Jeder Agent wird dabei mit individuellen Präferenzen ausgestattet und trifft dabei, regelbasiert, eigene Entscheidungen (Weyer und Roos 2017).

Diese Art der Modellierung ermöglicht eine detailliertere Abbildung von individuellem Wahlverhalten, Entscheidungsfindung in Bezug auf die individuelle Route und den derzeit realitätsnahen Blick in die Zukunft. Für neue Verkehrssysteme und -services fundamentales Wissen, das genutzt werden sollte.

Fazit zu Abschn. 5.2

Neue Verkehrsmittel werden einen starken Einfluss auf das bisherige Mobilitätsverhalten der Menschen haben. Neben Automatisierung spielen infrastrukturelle Bedingungen eine große Rolle. Bisher etablierte Nachfragemodellierungen scheitern in Zukunftsszenarien vor allem an der Kenngröße des nicht bekannten technologischen Einflusses und der induzierten Nachfrage selbst, sowie an den Elastizitäten rund um On-Demand- und Nachfrageoptimierung. Diese Systeme zu verbessern, widmen sich die Forschungsbereiche rund um das agentenbasierte Simulieren, das neben der Generierung synthetischer Populationen und dem damit verbundenen Nachempfinden von realem Verkehrsverhalten auch Änderungen, sowohl im Angebot, als auch in der Nachfrage, zeitgemäß abbilden kann. Die dafür notwendigen Daten und Erfahrungswerte müssen mit neuen Erhebungsmethoden festgeschrieben werden und für Modellschätzungen bis zur Einführung der geplanten Mobilitätssysteme trainiert werden.

5.3 Es besteht kein Platz für reservierte ÖPNV-Spuren – Optionen zur Neugestaltung des Straßenraums

Die Probleme und Bedürfnisse unterschiedlicher Verkehrsteilnehmer bei der Aufteilung des Straßenraums wurden in Abschn. 2.3 erläutert. In vielen Fällen bestehen keine ausreichenden Flächen für reservierte ÖPNV-Spuren, insbesondere nicht in einem zusammenhängenden Netz. Soll der ÖPNV strukturiert bevorrechtigt werden, und das nicht allein an Knotenpunkten, sondern bestenfalls auch auf Strecken, so müssen die Kategorisierung und Hierarchisierung des Straßennetzes neu gedacht oder neue Verkehrswege geschaffen werden.

Nicht alle Straßen können alle Funktionen wahrnehmen und gleichzeitig leistungsfähig für den Kfz-Verkehr sein, Sonderspuren für Busse und Bahnen aufweisen, ausreichend Fläche für den (schnellen) Radverkehr zur Verfügung stellen und zusätzlich barrierefreie und ausreichend dimensionierte Flächen für Zu-Fuß-Gehende aufweisen sowie den weiteren Ansprüchen an den Straßenraum wie Beleuchtung, Beschilderung, Begrünung, Aufenthalt oder ruhendem Verkehr gerecht werden.

Nicht überall ist dies notwendig – in Quartieren mit zumeist schon heute flächendeckendem Tempo 30 werden nur in Ausnahmefällen eigene Fahrwege für den Radverkehr oder den ÖPNV benötigt. Hier gilt es, den ruhenden Verkehr so zu ordnen, dass er den Umweltverbund nicht behindert oder durch leicht verfügbare und flexible (automatisierte) Sharing-Systeme den Parkverkehr erheblich reduziert und somit freiwerdende Flächen anderweitig genutzt werden können. Priorität für die Einrichtung reservierter ÖPNV-Spuren besteht daher auf Hauptverkehrsstraßen bzw. Haupterbindungen.

Neben der Flächenneuaufteilung bestehender Straßen rücken gegebenenfalls alternative Lösungsansätze in den Fokus. Dies können eigene, zusätzliche Verkehrswege sein, eine neue Hierarchisierung der Straßennetze oder auch die flexiblere Nutzung bestehender Verkehrsräume.

Der Ansatz, zusätzliche Verkehrswege zu schaffen, scheitert oftmals an der Flächenverfügbarkeit und ist auch hinsichtlich des Flächenverbrauchs nicht uneingeschränkt zu befürworten. Dennoch mag es partiell der richtige Weg sein, um Verkehre zu entflechten und attraktive Angebote für Rad- und Fußverkehr sowie (automatisierten) ÖPNV zu schaffen. Bei hohen Potenzialen bieten sich im Umweltverbund auf hohe Geschwindigkeiten ausgerichtete Verkehrsstraßen an.

Im kommunalen ÖPNV sind dies in erster Linie U-Bahn-Verkehre. Bereits seit 2008 bieten die U-Bahn-Linien 2 und 3 in Nürnberg ein vollautomatisches und vom sonstigen Verkehr unabhängiges Nahverkehrsangebot (Stadt Nürnberg 2022). Auch die geplante und im ersten Abschnitt im Bau befindliche neue U-Bahn 5 in Hamburg wird vollautomatisiert und unabhängig verkehren und Stadtteile wie Bramfeld deutlich schneller und zuverlässiger anschließen (vgl. Stadt Hamburg 2022). Der bestehende Busverkehr fließt hingegen im Verkehr mit, ist auf funktionierende Beschleunigungsmaßnahmen an den Knotenpunkten angewiesen und nicht davor geschützt, dass die Bussonderfahrstreifen durch andere Verkehre fremdgenutzt werden.

Selbstverständlich stellen U-Bahnen aufgrund ihrer hohen Investitions- und Betriebskosten nur auf wenigen Korridoren darstellbare Projekte dar. Genauso wichtig ist daher der Blick auf integrierte Straßenbahn/Stadtbahn-Systeme, die abschnittsweise auf eigenem Bahnkörper, aber auch im Straßenverkehr beschleunigt mitschwimmende, leistungsfähige, attraktive und vor allem konkurrenzfähige Angebote schaffen können. Deshalb fokussieren sich unterschiedliche Städte mit bestehenden U-Bahn-Systemen auch auf den Erhalt und Ausbau ihrer Straßenbahnsysteme oder haben in den letzten zwei Jahrzehnten die Renaissance der Tram eingeläutet. Hier geht es dann häufig um Tangenten oder Ringlinien, die den Schienen-Personen-Nahverkehr (SPNV) oder U-Bahn-Verkehr besser anbinden sollen. Beispielhafte Projekte befinden sich in Paris, Madrid, Kopenhagen, Helsinki und München. Mit der Stadt-Umland-Bahn zwischen Nürnberg und Herzogenaurach über Erlangen entsteht auch in der Beispielstadt für automatisierte U-Bahnen in Deutschland ein Projekt, das einen eigenen Verkehrsweg für den ÖPNV schafft, hier aber als Stadtbahn implementiert, sodass zwar ein hochleistungsfähiger Korridor entsteht, aber auf aufwendige Tunnelbauten, Stationen und vollständige Unabhängigkeit verzichtet wird. Bei allen Beispielen ist noch konventioneller Fahrbetrieb vorgesehen, aber gerade solche Strecken sind eigentlich prädestiniert für die Erprobung automatisierter Fahrzeuge. Versuche mit automatisiert fahrenden Straßenbahnen finden seit 2018 in Potsdam statt. Anforderungen an Fahrwege und den Anspruch an eigene Bahnkörper dürften sich absehbar durch das automatisierte Fahren nicht verändern.

Mit dem Neubau von neuen Straßenbahnstrecken sind zudem auch häufig kombinierte Umweltverbundtrassen entstanden, bei denen beispielsweise neue Brückenbauwerke ausschließlich ÖPNV, Rad und zu Fuß Gehenden vorbehalten sind, z. B. die Passerelle de la Citadelle in Straßburg über ein Hafenbecken oder eine Brücke über die autobahnähnliche Schenkendorfstraße in München im Zuge der Linie 23.

Neue Verkehrswege im ÖPNV können auch im kombinierten Schienen-/Busverkehr oder ausschließlichem Busverkehr geschaffen werden. Bereits 1996 wurde in Oberhausen eine weitestgehend kreuzungsfreie ÖPNV-Trasse geschaffen, die teilweise aufgeständert einen völlig neuen Verkehrsweg für die wieder durch die Stadt fahrende Straßenbahn und verschiedene Buslinien schafft und damit das Angebot deutlich verbessert hat.

Bus Rapid Transit, kurz BRT, ist hochwertiger Busverkehr, der Eigentrassen nutzen kann. Beispiel ist hierfür die französische Stadt Metz. Solche Systeme können vor allem für Mittelstädte interessant sein, in denen kommunale Schienenverkehre wirtschaftlich nicht darstellbar sind. Moderne BRT-Projekte wurden bislang in Deutschland nicht umgesetzt. Ein Vorläuferprojekt ist der Spurbus in Essen, der partiell im Mittelstreifen der Autobahn 40 verläuft, wenn gar hierfür, aus heutiger Sicht fragwürdig, eine ehemalige Straßenbahnstrecke umgenutzt wurde.

Klar ist: Die meisten ÖPNV-Verkehre werden auch zukünftig an der Oberfläche verbleiben und sich den Verkehrsraum teilen müssen. Und diese werden auch bei einem automatisierten Verkehr in SAE Level 5 weiterhin benötigt werden. Würden alle Nutzenden des hochkapazitativen SPNV, des kommunalen Schienen- und Busverkehrs – deren Aufgabe die Fahrtenbündelung ist – auf automatisierte Kleinstfahrzeuge umsteigen, hätte dies deutlich mehr Verkehr zu Folge. Eine verträgliche Abwicklung dieser Verkehre ist so nicht möglich.

In der Folge führen auch automatisierte Verkehre dazu, dass der ÖPNV weiter erweitert werden muss und starke Achsen zu leistungsfähigen Korridoren ausgebaut werden müssen, auf denen ein Maximum an Wegen auf Busse und Bahnen als Distanzverkehrsmittel verlagert werden sollte.

Insbesondere hinsichtlich der Beschleunigung des ÖPNV an Knotenpunkten stellt sich die Herausforderung, dass Knotenpunkte derzeit nach ihrer Leistungsfähigkeit und hier vornehmlich im Kfz-Verkehr bewertet werden. Dabei muss dringend vor dem Hintergrund notwendiger Push-Maßnahmen zu Gunsten des Umweltverbunds über eine neue Definition der Leistungsfähigkeit diskutiert werden.

Chancen bieten automatisierte Fahrzeuge vor allem bei der Anbindung der Fläche an diese starken Achsen. Durch Personalkosten, aber auch fehlende Personalressourcen sind die vielen nachfrageschwachen Querverbindungen, aber auch nachfrageschwachen Orte, die in der Summe einen erheblichen Teil des Verkehrs ausmachen, aktuell wirtschaftlich nicht durch den ÖPNV erschließbar. Die neuen On-Demand-Ridepooling-Systeme, welche diese Lücke zu schließen versuchen, sind ohne weitere Förderungen durch Bund und Land aufgrund der hohen Kosten ohne eine fortschreitende Automatisierung wenig zukunftsfähig. Dabei ist es im ÖPNV der integrierte Ansatz aus starken Achsen (Schiene/Bus im dichten Takt, gegebenenfalls automatisiert) und Flächenverkehr (automatisierte Kleinstfahrzeuge zur Anbindung der starken Achsen ohne Fahrplan), der die Zukunft des Nahverkehrs darstellen kann.

Im Radverkehr sind in den letzten Jahren ebenfalls vielerorts eigene, unabhängige Trassen entstanden oder sind geplant. Beispielhaft sei hier der Radschnellweg Ruhr, RS1, genannt, der zum einen – durchaus diskutabel – stillgelegte Bahntrassen nutzt und zum anderen innerhalb der Städte möglichst kreuzungsfrei geführt werden soll. Hierfür entstehen neue Wegeverbindungen, werden bestehende Straßen zu Fahrradstraßen umgebaut oder sind neue Brückenzüge über zu kreuzende Hauptverkehrsstraßen vorgesehen. Die Führung des Radverkehrs über eigene Verkehrswege findet sich auch in Kopenhagen mit der Cykelslangen oder in Eindhoven mit der Radbrücke Hovenring – ein Rad-Kreisverkehr, der einen vielbefahrenen Knoten überspannt (Zukunft Mobilität 2014).

Aufgrund der kaum zur Verfügung stehenden Optionen von neuen Verkehrswegen oder neuen Flächenaufteilungen bestehender Verkehrswege stellt sich ergänzend die Frage, inwieweit die Hierarchisierung des Straßennetzes neu gedacht werden kann, um Vorrangachsen für unterschiedliche Verkehrsmittel vorzuhalten. In vielen Städten gibt es, wenn auch nicht in unmittelbarer Parallelität zu ein und demselben Ziel, mehrere Hauptverkehrsstraßen. Hier sollte die Parallelität genutzt werden, indem der Fokus bei verschiedenen, parallelen Hauptverkehrsstraßen auf unterschiedlichen Verkehrsmitteln liegt. Gleichzeitig gilt es zu hinterfragen, ob der Individualverkehr jedes Ziel erreichen muss und soll. Auf letzteres bezogen verfolgt die niederländische Stadt Houten ein viel beachtetes Konzept. Insgesamt sollte bei Hauptverkehrsstraßen die Priorität auf dem fließenden Verkehr – aller Mobilitätsformen und Ausprägungen – liegen. Dabei problematisch ist der platzraubende ruhende Verkehr. Dieser sollte bei Hauptverkehrsstraßen nur in Ausnahmefällen zugelassen werden. Sollte bei automatisierten MIV auch das Prinzip „Teilen statt Besitzen“ wünschenswerterweise stärker verfolgt werden, wäre die Anzahl notwendiger Fahrzeuge für den Individualverkehr deutlich kleiner. In der Folge könnten heute zweckentfremdete Gehwege wieder dem Zu-Fuß-Gehen zur Verfügung stehen, der Radverkehr hätte mehr Raum und auch der ÖPNV könnte störungsfreier verkehren. Bislang dem ruhenden Verkehr zugeschlagene Flächen wären, wie bereits in Bezug auf städtische Quartiere aufgezeigt, frei für eine neue Nutzung – z. B. mehr Grün, mehr Aufenthaltsqualität oder mehr eigene Fahrwege für den Radverkehr. Automatisiertes Fahren bietet somit auch erhebliche Chancen für die Nahmobilität.

Im Zuge der weiteren Digitalisierung und des zunehmenden automatisierten Fahrens ist zukünftig darüber hinaus fraglich, inwiefern die derzeit noch starre Einteilung des Straßenraums in einzelne Fahrspuren in dieser Art und Weise auch in Zukunft notwendig ist. An mehrspurigen Straßen besteht teilweise bereits heute eine gewisse Flexibilität. Dabei werden die Öffnung und Schließung einzelner Fahrspuren zum Beispiel zu unterschiedlichen Tageszeiten bzw. in unterschiedlichen Fahrtrichtungen vorgenommen (z. B. morgens stadteinwärts und nachmittags stadtauswärts). Im vollautomatisierten Verkehr stellt sich dabei die Frage, ob eine solch starre Einteilung inklusive entsprechend (physisch) markierter Fahrspuren überhaupt notwendig ist oder ob nicht vielmehr die Fahrbahnbreite und mögliche Fahrtrichtung in Echtzeit eine für ein automatisiertes Fahrzeug ausreichende Datengrundlage darstellen.

Fazit zu Abschn. 5.3

Es kann festgehalten werden, dass für die weitere Entwicklung des Straßenraums weiterhin eigene Fahrspuren für den ÖPNV sowie Rad- und Fußverkehr vorgesehen werden müssen. Insbesondere in Bezug auf die notwendigen Flächenverfügbarkeiten des ruhenden Verkehrs liegt in der Automatisierung die Hoffnung, durch mehr geteilte Mobilität weniger Fahrzeuge im öffentlichen Raum zu haben und die heutigen Flächen anderweitig zu nutzen. Andererseits ist es auch vorstellbar, dass die Reduktion von Parkraum als Push-Maßnahme in Städten genutzt wird, um die Menschen zum Umstieg auf den ÖPNV oder den Radverkehr zu motivieren.

Wenn eine Neuaufteilung nicht möglich ist, kommen alternativ neue Verkehrswege in Betracht. Eine neue Hierarchisierung des Straßennetzes zur Differenzierung zwischen Verkehrswegen und -arten kann in Einzelfällen zu einer verträglichen Abwicklung führen.