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1 Vorbemerkung

Die Vertretung von Überlebenden des Holocaust („Survivors“) in den NS-Prozessen in Deutschland seit der Spätverfolgung von NS-Unrecht seit ca. 2014 unterscheidet sich gravierend von einer üblichen Nebenklagevertretung entsprechend den Regeln der Strafprozessordnung. Hier trifft gerade nicht die Aussage zu, dass die Nebenklagevertretung deutsche Gerichtssäle (mit Ausnahme bei Verkehrsstrafsachen) nicht wirklich geprägt hat.Footnote 1 Dauster weist zu Recht darauf hin, dass die Nebenklage lebendig ist und von niemandem in Frage gestellt wird, weil der Blick auf die Opfer der Straftat gerichtet ist.Footnote 2

Die folgenden Überlegungen basieren auf Erfahrungen als Rechtsanwalt für Holocaust-Überlebende als Nebenkläger in NS-Verfahren der Neuzeit seit dem Verfahren gegen Oskar Gröning 2015 beim Landgericht Lüneburg.Footnote 3

Zunächst ist darauf abzustellen, dass jede Geschichte, die Überlebende durchlitten und erfahren haben, in ihrem Ablauf, in ihren Folgen und der Beobachtung des erlittenen NS-Unrechts einzigartig ist. Die Überlebenden wollen nicht nur Zeugen oder Opfer sein, nein, die Überlebenden sind auch heute in den Verfahren die Stimmen aller Geschändeten, die Stimmen, die von ihrem unsäglichen Leid aus eigener Beobachtung und Erfahrung berichten können. Sie sind eine der wichtigsten Erkenntnisquellen für die Gerichte.

Jeder anwaltliche Vertreter in diesen Nebenklagepositionen ist als Organ der Rechtspflege nahe bei diesen Opfern und hat die unschätzbare, aber einmalige Erfahrung gemacht, dass Nebenkläger ihren Auftritt bei Gericht, insbesondere, wenn er weit mehr als 70 Jahre nach Kriegsende noch möglich geworden ist, mit großer Spannung erwarten und vorbereiten. Diese Nähe zum Opfer haben die weiteren Organe der Rechtpflege, Staatsanwaltschaft und Gericht, nicht.

In der Vorbereitung ist der Anwalt besonders gefordert, da es primär darum geht, die Anspannung bei den Nebenklägern durch Sachinformationen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Hinzu kommt die Überraschung, Ratlosigkeit und positive Haltung der Überlebenden, dass sie doch noch 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges von deutschen Ermittlungsbeamten und Gerichten angehört werden. Der Nebenkläger oder die Nebenklägerin ist wenig an der bloßen Rechtsposition des Nebenklägers interessiert, sondern allein an der Möglichkeit, doch endlich einmal auf der Anklageseite sein zu dürfen und sich an dem Verfahren zu beteiligen. Hinzu kommt die Möglichkeit, als Zeuge in dem Verfahren anwesend zu sein oder sonst mit Informationen zum Verfahren beizutragen und einem der mutmaßlichen Täter gegenüberzutreten. Daher werde ich im Folgenden nur noch davon sprechen, dass diese Überlebenden Zeugen von unerträglichem Leid geworden sind und ihre Position im prozessualen Ablauf nicht auf die eines bloßen Zeitzeugen reduziert werden kann.

Besonders eindrucksvoll hatte diese Einschätzung der Bedeutung der Überlebenden der israelische Generalstaatsanwalt Gideon Hausner beschrieben, als er 1961 den Eichmann-Prozess in Jerusalem mit der Bemerkung eröffnete: „Mit mir sind 6.000.000 Ankläger“.Footnote 4

In der Regel beginnt das Gespräch mit den Überlebenden mit der Beschreibung der Rechtssituation in Deutschland und dem Versuch einer kritischen Erklärung, warum denn diese NS-Prozesse so spät stattfinden. Dies beginnt in aller Regel im Jahre 2015 mit dem Verfahren gegen Oskar Gröning. Es fällt dem Anwalt zunächst nicht leicht, dem Mandanten/der Mandantin zu erläutern, wieso es dazu gekommen ist, dass erst so spät Anklage erhoben wurde. Die Übersetzung und Erklärung der Rechtsbegriffe Beihilfe zum Mord und Beihilfe zum versuchten Mord erweist sich als besonders schwierig, da die Aufnahmebereitschaft der Überlebenden immer nur aus der Opferperspektive zu verstehen ist. Diese Opferperspektive ist gemischt mit dem erfahrenen eigenen Leid der Überlebenden, die zudem sehr häufig sich schmerzlich an viele in Konzentrationslagern ermordete, andere Familienmitglieder erinnern.

Zu diesem Leidensprozess gehört auch, dass sie damals wie heute als Häftlinge bezeichnet werden. Große Zustimmung erfährt die Tatsache, dass wir Nebenklageanwälte uns in den Verfahren dagegen wenden, überhaupt den Begriff Häftling für diese geschändeten, entführten und der Freiheit beraubten Menschen zu verwenden. Der Begriff Häftling für Überlebende und natürlich auch für Verstorbene des NS-Unrechts im Holocaust taucht immer wieder in einer Vielzahl von Veröffentlichungen auf. Allein die Verwendung eines unzulänglichen Begriffes, um Rechtmäßigkeit zu suggerieren, belegt die Tatsache der kollektiven Verdrängung von NS-Unrecht.

Umso bedeutender ist es für diese Zeugen und den strafprozessualen Erkenntnisprozess, dass sie bereits im Vorfeld den Nebenklägeranwälten ihre Erinnerungen schildern und nur noch wenige gesundheitlich in der Lage sind, im Gerichtssaal an einem Tag aufzutreten oder ausnahmsweise per Video (§ 247 StPO) gehört zu werden.

2 Nebenklage in NS-Verfahren: ein kurzer historischer Rückblick

Die Rolle der Nebenkläger gerade bei der späten Verfolgung von NS-Unrecht lässt sich leichter einordnen, wenn man die fehlende anwaltliche Nebenklagevertretung für die bedeutenden Zeugen im Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 sieht. Hilfreich ist auch ein Blick auf die eher reduzierte Rolle der Nebenklage in den ersten beiden Auschwitz-Prozessen 1963 und 1965 in Frankfurt am Main. Hinzu kommt, dass in den neueren NS-Verfahren alles in einer völlig anderen medialen Welt mit einem globalen Zugriff auf die insgesamt vorhandenen Informationen stattfindet.

2.1 Der Eichmann-Prozess 1961 ohne Rechtsanwälte als Nebenklagevertreter

Peter Krause legt zunächst dar, wie der westdeutsche Anwalt Dr. Servatius, der für Adolf Eichmann aufgetreten ist, ausgewählt wurde, nachdem er den Beweis erbringen konnte, dass er nie Mitglied der NSDAP gewesen war. Krause beschreibt weiterhin, dass es für einen Moment so aussah, als ob Servatius als Verteidiger ausfallen würde, da Servatius nach einer Veröffentlichung der „Sassen-Interviews“ beabsichtigte, sein Mandat niederzulegen. Er berief sich darauf, dass die in diesem Interview enthaltenen Äußerungen Eichmann belasteten. Wenn diese wahr seien, könne er Eichmann nicht vertreten. Eichmann überzeugte Dr. Servatius offensichtlich davon, dass diese Äußerungen zum Teil nicht wahrheitsgemäß seien, woraufhin Servatius weiter als Verteidiger tätig blieb.Footnote 5

Entscheidend für die Frage der Nebenklage als generelle Thematik in NS-Prozessen ist allerdings die Feststellung, dass von israelischer Seite 1961 im Eichmann Prozess die klare Absicht bestand, weitere Anwälte aus Deutschland an diesem Prozess nicht teilnehmen zu lassen. Krause zitiert eine deshalb in Kraft getretene Gesetzesänderung der Knesset, die bewirkte, dass bei Verbrechen, bei denen die Todesstrafe drohte, eine Nebenklage unzulässig war.

Krause legt allerdings dar, dass Hintergrund und gegebenenfalls einziger Grund für diese Einschränkung waren, dass Israel verhindern wollte, dass der ostdeutsche Rechtsanwalt Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul, der auch SED-Mitglied war, im Gerichtssaal für die Opfer auftritt, da er für mehrere jüdische Bürger aus der damaligen DDR als Nebenkläger am Eichmann-Prozess teilnehmen wollte. Diese Gesetzesänderung wurde auch zeitweise als „lex Kaul“ bezeichnet. Es sollte damit erreicht werden, dass bei dem weltweit beobachteten Eichmann-Prozess in Israel kein Missbrauch dieses Prozesses für Propaganda gegen die Bundesrepublik Deutschland stattfindet.Footnote 6

Kein anderer Vorgang im Zusammenhang mit NS-Prozessen ist so geeignet, die bedeutende Rolle des Nebenklägers in NS-Verfahren zu unterstreichen. Letztlich wurde durch die „lex Kaul“ der Eichmann-Prozess beschränkt auf Anklage und Verteidigung einerseits und das Gericht andererseits. Die zahlreichen Opfer, die in Jerusalem vernommen wurden, wurden trotz der markanten Ankündigung des Generalstaatsanwalts Gideon Hausner zur Eröffnung des Prozesses auf die Rolle von Zeugen, die ohne anwaltlichen Beistand auftraten, reduziert. Hausner als im Verfahren anwesender Generalstaatsanwalt würdigte die Aussagen der Überlebenden dahin, dass sie ermöglichten, das Leiden der Opfer nachzuvollziehen. Bei Krause wird Hausner mit folgender Ausführung zitiert:

„Der einzige Weg, die Katastrophe überhaupt zu konkretisieren, bestand darin, so viele überlebende Zeugen aufzurufen, wie der Rahmen des Prozesses überhaupt zuließ und jeden zu bitten, ein winziges Bruchstück dessen zu erzählen, was er gesehen und erlebt hatte […]“Footnote 7

Bereits im Eichmann-Prozess wird der Auftritt der Überlebenden im Zeugenstand so beschrieben, dass viele Zeugen bei ihrer Aussage die Beherrschung verloren. Eichmann wiederum saß dabei in seinem kugelsicheren Glaskasten und zeigte keinerlei Regung. Der Zeuge Yehiel Dinoor, Schriftsteller und Autor mehrerer Bücher über Auschwitz, brach in der Vernehmung zusammen und musste aus dem Gerichtssaal getragen werden.Footnote 8

Es lässt sich gut vertreten zu sagen, dass der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 das erste NS-Strafverfahren war, in dem die Opfer – auch ohne formal Nebenkläger zu sein – gehört wurden und die Öffentlichkeit in Israel und in der Welt dies wahrnahm. Krause führt aus:

„Die Strategie der Anklage, den Prozeß zum Anlass zu nehmen, um die Gesamtheit der nationalsozialistischen Verbrechen in Erinnerung zu rufen und zu verurteilen, und nicht ‚nur‘ die Person Eichmann zu richten, sah [der Journalist] Pendorf auf eine differenzierte Weise. Auf der einen Seite hielt er die zahlreichen Aussagen der Überlebenden, die als Zeugen in diesem Prozeß auftraten, für wichtig, da sie die Dimension und das Grauen der Verbrechen verdeutlichen halfen, auch wenn sie diese nie vollständig verstehbar machen könnten. Auf der anderen Seite merkte er wiederholt kritisch an, dass die Anklage die Bedeutung Eichmanns für die Umsetzung der ‚Endlösung‘ überbewertete, und sah letztlich die Bemühungen, ‚Eichmann als den Erfinder, Planer und Ausführer des scheußlichen Völkermordes darzustellen‘, als gescheitert an.“Footnote 9

Auf der anderen Seite wird Pendorf in einer Fußnote zitiert:

„Es ist der Einzelfall, in dem beide – Mörder und Opfer – Gestalt gewinnen, an dem offenbar wird, wie weit in jenen Tagen unter Hakenkreuz, SS-Runen und Totenkopf, ‚normale‘ Menschen in eine barbarische, atavistische Mordlust zurückgefallen waren, die sich rückschauend jeder Möglichkeit des Begreifens, Erklärens, Verstehens entzieht.“Footnote 10

2.2 Die Nebenklage in den ersten beiden Frankfurter Auschwitz-Prozessen 1963 und 1965

Mit dem Dritten Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953 erfolgte eine Stärkung der Opferrechte, um Hinterbliebenen die Möglichkeit zu geben, sich einer öffentlichen Klage anzuschließen. Dies gewann gerade bei dem unermüdlichen Einsatz des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer an Bedeutung, weil mit der Nebenklage eine weitere „Instanz“ zur Verfolgung von NS-Unrecht geschaffen wurde. Zu der damaligen Zeit war bei Staatsanwaltschaften, Bundeskriminalamt und weiteren Behörden noch immer eine große Anzahl früherer NS-Verantwortlicher und NSDAP-Mitgliedern tätig. Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der NS-Zeit war noch sehr gering, nach Kriegsende war eher Ruhe als Bewältigung der NS-Vergangenheit gewünscht.Footnote 11

Diese Rahmenbedingungen machten das Erfordernis der Nebenklage gerade in Verfahren zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen wie im Frankfurter Auschwitz-Prozess bedeutungsvoll.

Nach der Zurückweisung als Nebenklägeranwalt in Israel trat der ostdeutsche Anwalt Dr. Kaul in Frankfurt als Nebenklagevertreter auf und machte selbst zu den Überlebenden nicht unbedeutende Ausführungen in seinem Schlussvortrag. Er stellte dem israelischen Generalstaatsanwalt Hausner die Frage, ob er annehme, dass Eichmann auch nur einem Menschen hätte ein Haar krümmen können, wenn nicht andere die Voraussetzungen für seine Verbrechen geschaffen hätten. Hausner wies daraufhin, in der Hauptverhandlung gegen Eichmann auf die Zusammenhänge einzugehen, „die sich aus dem Wirken Hitlers und Himmlers, […] Kaltenbrunners und Heydrichs ergäben“. Kaul antwortete darauf: „Sie nennen nur die Toten. Warum schweigen Sie von den Lebenden?“Footnote 12

Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess begann am 20. Dezember 1963 in Frankfurt am Main gegen 20 Angeklagte. Insgesamt wurden 357 Zeugen vernommen, davon waren 211 Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz.

Rechtsanwalt Ormond sah als Vertreter der Nebenklage seine Aufgabe im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess wie die Staatsanwaltschaft darin, neben der Bestrafung der Angeklagten die Stimmen der Opfer zu Gehör zu bringen und formulierte damit eine über die juristische Dimension hinausreichende Intention.Footnote 13

Die Funktion der Nebenklage wird beschrieben als eine strafprozessuale, eine prozessatmosphärische und in ihrer als eine über die Verfahren hinausgehende gesellschaftspolitische Auswirkung. Dieser kommt als Eckpfeiler der Nebenklagekonzeption eine ebenso große Bedeutung zu wie dem im Namen der Opfer erhobenen Strafanspruch.Footnote 14

Die Opferstimmen in der lebendigen Zeugenaussage anzuhören, ist grundsätzlich bis heute das Kernelement aller NS-Verfahren, welches mit Abnahme der Anzahl der Überlebenden und fortschreitender Zeit seit Frankfurt bis heute immer bedeutender geworden ist. Nur als eine temporäre Zwischenlösung kann im Einzelfall die Videovernehmung sein, um die Stimme des einen oder anderen Opfers noch in den Gerichtssaal zu bringen. Kein Aktenstück kann diese immer beeindruckenden Opferstimmen über das erfahrene unfassbare Leid ersetzen.

3 Die besondere Bedeutung der Nebenklage in den aktuellen NS-Prozessen

Die Rolle und Bedeutung der Nebenkläger und ihrer Vertretung durch Anwälte in den neueren NS-Prozessen weicht grundsätzlich ab von dem, was üblicherweise als Bedeutung der Nebenklage definiert wird.

Über die Nebenklage (§§ 395 ff. StPO) kann sich der Verletzte bestimmter, meist gegen höchstpersönliche Rechtsgüter gerichteter Straftaten am Strafverfahren gegen den Beschuldigten beteiligen und Einfluss nehmen. Die Nebenklage gewährt ihm hierzu eigene prozessuale Rechte, die über jene hinausgehen, die jedem Verletzten zustehen (Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen). Besonders wichtig für den Nebenklägerstatus in diesen Verfahren ist, dass der Nebenkläger Auskunfts-, Akteneinsichts- und Beistandsrechte nach §§ 406d ff. StPO hat. Das Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff. StPO) spielt in der Praxis dieser Verfahren keine Rolle. In den NS-Prozessen ist die Grundregel der Nebenklage, dass der Verletzte in der Hauptverhandlung eben nicht nur auf die eher passive Funktion des Zeugen reduziert wird, von besonderer Bedeutung.

Nach Zulassung ist der Nebenkläger zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt. Er ist vor jeder gerichtlichen Entscheidung zu hören, kann Fragen und Anträge stellen und Erklärungen abgeben und sich durch einen Anwalt vertreten lassen. Rechtsmittel kann er unabhängig von der Staatsanwaltschaft einlegen, jedoch nicht mit dem Ziel der Verhängung einer anderen Strafe oder Rechtsfolge oder der Verurteilung wegen eines nicht zum Anschluss als Nebenkläger berechtigenden Delikts (§§ 396, 397, 400, 401 StPO).

3.1 Frühe Zeugenvernehmungen der heutigen Nebenkläger

Es fällt auf, dass in vielen Verfahren in den 1950er-, 1960er-, und 1970er-Jahren Überlebende als Zeugen entweder durch damalige Untersuchungsrichter, Staatsanwälte oder Kriminalbeamte vernommen wurden. Wenn es dem Nebenklageanwalt möglich wird, Akteneinsicht zu nehmen und er zum ersten Mal Einblick in die Aktenlage erhält, kommt zeitweise großes Erstaunen auf.

So geschieht es, dass in einem Fall aus einem der Stutthof-Verfahren der Zeuge E. Jessner bereits 1974 ausführlich, ohne dass er damals bereits anwaltlich vertreten war, erstmals vernommen wurde. Bei seiner polizeilichen Zeugenvernehmung 44 Jahre später (2016) wurde er auf diese Vernehmung angesprochen, konnte sich aber nicht mehr erinnern, dass er jemals vernommen wurde. Das ist nicht ungewöhnlich. Besonders ist allerdings die Tatsache, dass im Gespräch mit dem Nebenkläger dann deutlich wird, dass er bereits Anfang der 1970er-Jahre den Ermittlungsbehörden eine grundsätzliche Beschreibung des selbst erlebten mörderischen Unrechts im Konzentrationslager Stutthof gegeben hat. So hatte der Zeuge damals – zwar kurz, aber deutlich – Anhaltspunkte für massive Verdachtsgründe gegen das SS-Wachpersonal wegen etwaiger Beihilfe zum Mord und der Beihilfe zum versuchten Mord geliefert, ohne dass diese auch nur im Ansatz weiterverfolgt wurden. Ebenso wenig wurde beim Zeugen detailliert nachgefragt. Diese Chance der frühen Erinnerung wurde nicht genutzt.

Betrachtet man die gesamte Vernehmungsniederschrift, stellt man fest, dass sie nicht mehr als eine Seite Umfang hat und von dieser Seite etwa ein Drittel für die Einleitung und die Personalien und den Abschluss verwendet wird. Der eigentliche Inhalt der Vernehmung beschränkt sich dann auf wenige Zeilen, gibt aber im Kern das Geschehen von Mord und versuchtem Mord und Beihilfe zum versuchten Mord wieder. Man kann sich leicht vorstellen, dass ein anwesender Rechtsanwalt dafür gesorgt hätte, dass diese Angaben detaillierter gemacht, durch Zwischenfragen vertieft worden wären und dann ein weitaus maßgeblicher Sachverhalt niedergeschrieben worden wäre.

Allein diese Situation führt zu einer intensiven Bearbeitung des erlebten Sachverhaltes mit dem Überlebenden und Nebenkläger. Es fällt dem Anwalt in der Regel nicht leicht, den Opfern gegenüber zu erklären oder gar zu rechtfertigen, warum es seit den 1970er- Jahren zu keinerlei echten aufklärenden Schritten gekommen ist. In dem konkreten Fall hat sich herausgestellt, dass eine Vielzahl von Nebenklageanwälten der Zentralen Ermittlungsstelle in Ludwigsburg und der Staatsanwaltschaft in Dortmund ab 2015 bekannt gegeben hatten, dass die in der Regel in den USA lebenden Zeugen jederzeit zu einer Vernehmung bereit waren und dankbar wären, auch im Vorfeld des Verfahrens einvernommen zu werden. In diesem Moment stellte sich heraus, dass diese Zeugen niemals mehr nach einer solchen frühen Vernehmung aus den 1970er-Jahren ein zweites Mal einvernommen wurden. Im konkreten Fall war es dann nicht mehr möglich, den Nebenkläger als Zeugen zu dem Verfahren in Münster/Westfalen (Verfahren gegen Rehbogen) zu bringen, da zwischenzeitlich wegen seines hohen Lebensalters und seiner schlechten Gesundheit eine Reise von New York nach Deutschland nicht mehr möglich war.

3.2 Die Beratung der Überlebenden

Die Opfer, auch Survivors genannt, benötigen von Anbeginn ihrer Vertretung umfangreiche Beratung und Unterstützung, bevor es gegebenenfalls zu deren Aussage an einem Prozesstag kommt. Häufig ist es gerade der Anwalt, dem es gelingt, das Opfer davon zu überzeugen, überhaupt sich als Nebenkläger anzuschließen. Eine Teilnahme aber an mehreren Prozesstagen im Gerichtssaal nach in der Regel langer Anreise findet schon aus gesundheitlichen Gründen in dieser späten Zeit nicht statt. In der Tätigkeit des Anwaltes enthalten sind wichtige persönliche Betreuungsaufgaben und eine Beratung bezogen auf folgende Schwerpunkte:

  1. a.

    Beratung des Nebenklägers und Zeugen über seine rechtliche Einordnung in die Prozessordnung. Dass die Überlebenden neben der Anklagebehörde stehen, hat für diese Mandanten eine fundamentale Bedeutung, die gerade der englische Begriff des co-plaintiff gut beschreibt, weil der englische Ausdruck „mit“ ein Mehr an Beteiligung verdeutlicht als ein „Neben“ beim Nebenkläger.

  2. b.

    Historische und juristische Erläuterung, warum diese Verfahren so spät stattfinden.

  3. c.

    Erklärung der Bedeutung der Zeugen, die noch heute in der Lage sind, das Grauen und das erlittene eigene Leid und die Trauer um in KZs ermordete Angehörige aus dem eigenen direkten Erleben zu vermitteln.

  4. d.

    Information über den Verlauf und Inhalt des Verfahrens und der Versuch, ergänzende Informationen zu gewinnen. Gerade die in die Muttersprache der Überlebenden übersetzte Anklageschrift ist dabei hilfreich und führt zu einem besseren Verständnis, was Verfahrensinhalt ist.

  5. e.

    Tatsächliche und mentale Vorbereitung der Reise zum Gerichtstermin und Betreuung der Zeugen. Das gilt ebenso für die Vorbereitung einer Videovernehmung. Diese kann sehr gut eine persönliche Vernehmung ersetzen, muss aber vom Anwalt mit Mandanten gut – auch in technischer Hinsicht – vorbereitet werden.

  6. f.

    Erläuterung der Fragen zur Verhandlungsfähigkeit des/der betagten Angeklagten.

  7. g.

    Zeugenbeistand und Unterstützung bei der Übersetzung in der jeweiligen Hauptverhandlung.

  8. h.

    Betreuung und Beratung bei etwaigen Erklärungen gegenüber der Presse und Absprache für etwaige Pressestatements.

  9. i.

    Tägliche schriftliche Email-Information über den Prozessverlauf in englischer Sprache.

  10. j.

    Erläuterung des Urteils und der juristischen Begründung.

  11. k.

    Erläuterung des gegebenenfalls stattfindenden Rechtsmittelverfahrens.

3.3 Bedeutung der Nebenkläger, insbesondere durch ihre Aussagen am Beispiel des Verfahrens gegen Oskar Gröning

Die erste starke und internationale Bedeutung der Opfer, der Survivors, der früheren Gefangenen, wurde deutlich im Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem. An vielen Stellen ist geäußert worden, dass mit diesem Verfahren zum ersten Mal die Opfer eine „Stimme“ bekommen haben.

In dem Urteil des Landgerichts Lüneburg gegen Oskar Gröning vom 15. Juli 2015, rechtskräftig seit dem 20. September 2016,Footnote 15 wird dargelegt, dass die Überlebenden, die als Zeugen gehört wurden, dahin verstanden wurden, dass es ihnen mehr um Aufklärung und Erinnerung der Opfer geht als um Bestrafung des Angeklagten. Durch Beschluss des 3. Strafsenates des Bundesgerichtshofes wurde dieses Urteil am 20. September 2016 rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof hat das entsprechende Urteil des Landgerichts Lüneburg, das auf Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen lautet, bestätigt.

Letztlich hat auch im Verfahren gegen Bruno Dey bei dem Landgericht Hamburg die persönliche Vernehmung der Überlebenden eine herausragende Bedeutung gewonnen. Dort erging am 23. Juli 2020 ein Urteil, in welchem zu Lasten des Verurteilten der Tatbestand der Beihilfe zum versuchten Mord wegen der lebensfeindlichen Lebensbedingungen angenommen wurde. Hier hat das Landgericht Hamburg in den Urteilsgründen besonders detailliert die schriftlichen und mündlichen Aussagen der Nebenkläger zusammenfassend inhaltlich erwähnt und berücksichtigt.

Peter Huth hat verdienstvoll in dem von ihm herausgegebenen Buch „Die letzten Zeugen – Der Auschwitz-Prozess von Lüneburg 2015“ eine genaue Inhaltsangabe auch der Zeugenaussagen im Gröning-Verfahren zusammengestellt.Footnote 16 Der Titel „Die letzten Zeugen“ ist bereits für sich die Unterstreichung der besonderen Bedeutung dieser Zeugen, die allesamt mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und Befreiung der Konzentrationslager sich erstmals als Nebenkläger an einem Strafverfahren in Deutschland beteiligen durften.

Der Nebenkläger-Anwalt Thomas Walther wird dort auch zitiert mit der Äußerung in seinem Plädoyer, was in den Zeugen vorgeht: „Wer nun gern glauben möchte, dass im hohen Alter der Menschen, die 1944 in Auschwitz noch Kinder waren, das Grauen abnimmt und die Seele Frieden finden kann, irrt gründlich.“Footnote 17

Besser kann man nicht formulieren, warum diese Beschreibung noch mit eigenen Worten von den Überlebenden dem Gericht mitgeteilt werden musste. Diese Emotion, Betroffenheit und Leid können von der Verlesung eines Dokumentes oder einer schriftlichen Aussage nicht gewonnen werden.

Walther berichtet anlässlich des Demjanjuk-Verfahrens davon, dass als Maxime für sein eigenes Handeln als Vertreter von Nebenklägern gilt, dass den Opfern Gerechtigkeit geschuldet ist.Footnote 18 Im Demjanjuk-Verfahren haben die Aussagen der Nebenkläger mit ihrer Anwesenheit im Gerichtssaal die Bedeutung der Nebenklage in einem solchen Verfahren besonders deutlich gemacht.Footnote 19

Walther führt aus, dass er die Bürde der Sprachlosigkeit festgestellt hat und legt dar, dass viele Zeugen auch nach Jahren nicht mehr zu sprechen vermocht haben. Er beschreibt diese Menschen als im nie endenden Leid stumm geblieben, verbunden mit dem Leid ihrer eigenen Sprachlosigkeit.Footnote 20

Im Folgenden stellt Walther drei Thesen auf: Der Ausgleich mit den Opfern schafft Gerechtigkeit.Footnote 21 Das Erkennen der Verletzungen bei den Überlebenden schafft Gerechtigkeit.Footnote 22 Das Zuhören im Fluss der Erinnerung schafft Gerechtigkeit.Footnote 23

Dies erläutert Walther damit, dass zwar die Rede von Gerechtigkeit ist, doch müsste man eigentlich über das schreiende Unrecht sprechen, welches durch das Wegschauen der verantwortlichen Juristen in der Justiz und auch der Politik entstanden ist.Footnote 24

Nicht zu unterschätzen ist sein Hinweis, dass die Nebenkläger der ersten Generation zur gleichen Altersgruppe wie die heutigen Angeklagten zählen.Footnote 25

Walther kommt zu dem Fazit:

„Die Überlebenden haben vor Gericht als Zeugen ausgesagt. Es fand der geistige Austausch mit dem Gericht, den Angeklagten, Verteidigern, allen weiteren Verfahrensbeteiligten und mit der Öffentlichkeit unmittelbar und über die Medien statt. Ein ‚geistiger Austausch‘ ist nicht auf allen Ebenen mit Worten, sondern auch nonverbal geführt worden. Die Erfahrung zeigt, dass dennoch Wirkungen unausweichlich erzielt werden.“Footnote 26

Jens Lehmann schreibt sehr treffend über das Gröning-Verfahren aus Sicht von Polizei und Staatsanwaltschaft, dass die Nebenkläger oft schriftliche Erklärungen verlasen. Durch das Gericht wurden sie in sehr behutsamer Weise zu ergänzenden Fragen gehört. Richtig ist die Beobachtung, dass diese Zeugen den Angeklagten immer aufmerksam beobachteten.

Antworten im Zusammenhang mit dem jeweiligen Arbeitseinsatz waren immer sehr bewegend und hinterließen einen dauernden Eindruck. Die Zeugin Pollack wird beschrieben, dass sie eine schwere Nähmaschine in das ungarische Ghetto mitgenommen habe. Der persönlich besonders schmerzhafte Ablauf wird deutlich, wenn die Zeugin erklärte, dass sie damals geglaubt habe, auf diese Weise für ihre Familie sorgen zu können. Erst in Auschwitz sei diese Nähmaschine wohl in einem der beiden Viehwaggons zurückgelassen worden.Footnote 27

In allen Verfahren der Neuzeit und in der Öffentlichkeit wurde häufig die Frage gestellt, ob sich der Angeklagte in irgendeiner Weise gegenüber den Nebenklägern äußern soll, gar um Vergebung bitten sollte. Nicht selten war das ein echtes Anliegen der nicht hasserfüllten Nebenkläger, wobei die Bereitschaft zu vergeben eher gering war. Vorhanden war aber grundsätzlich die fordernde Erwartung, der Angeklagte solle sich zum unermesslichen Leid, das sie durch NS-Unrecht erlitten haben, äußern.

Hans Holtermann, der der Verteidiger von Oskar Gröning war, hatte sich dazu geäußert, ob Gröning die Angehörigen der Opfer von Auschwitz oder stellvertretend für diese die Nebenkläger um Vergebung bitten sollte. Dass Gröning dies nicht tat, begründet Holtermann damit, dass die Dimension der in Auschwitz verübten Verbrechen und deren Auswirkung auf die Überlebenden eigentlich keine Vergebung zulassen könne. In diesem Zusammenhang erwähnt Holtermann die Nebenklägerin Eva Mozes Kor, die als erste der Überlebenden vor dem Landgericht Lüneburg aussagte und selbst erklärte, sie habe für sich den Nazis vergeben. Eva Mozes Kor hatte in einer Verhandlungspause direkt mit dem Angeklagten Gröning gesprochen und ihn als Zeichen der Versöhnung sogar umarmt.Footnote 28 Dies löste etwas Zustimmung und viel Widerspruch bei den übrigen Nebenklägern und Nebenklägerinnen aus.

Auch wenn Holtermann die Nebenkläger in der Position der Zeugen, vernommen als Angehörige von Menschen, die in Auschwitz ermordet worden waren, anerkennt und zugesteht, dass ihnen ihre Aussage ausgesprochen wichtig war, kommt er zu dem unverständlichen Ergebnis, dass es zur Entscheidung über den Anklagevorwurf die Vernehmung der Zeugen nicht erfordert hätte.Footnote 29

Dieser Fehleinschätzung des Verteidigers von Oskar Gröning muss entgegengetreten werden. Gerade die Vernehmung der Nebenkläger als Zeugen hat in diesem Verfahren gegen Oskar Gröning und in anderen NS-Verfahren zu einer erheblichen weiteren Aufklärung über das Maß des angerichteten und immer andauernden persönlichen Leids beigetragen.

In den Verfahren der jüngeren Zeit, beginnend ab Oskar Gröning, waren die Auftritte und Aussagen der Nebenkläger nach so langer Zeit nicht nur beeindruckend, sondern auch im Sinne der Wahrheitsfindung besonders erhellend. Das Gericht muss entsprechend der Regelung des § 46 StGB eine etwaige Schuld des Angeklagten feststellen. Hierzu sind die Auswirkungen der Tat gerade bei einem Verbrechen, das weit über 70 Jahre nach der Tatzeit im Gerichtsverfahren aufgeklärt wird, von besonderer Bedeutung. Deswegen ist die Aussage des Verteidigers Holtermann aus dem Verfahren Gröning absolut unrichtig. Das ein Leben lang andauernde Leid der Nebenkläger, die sich zu Recht als Überlebende bezeichnen, ist für die Erkenntnis des Gerichts in einem derartigen Strafverfahren von maßgeblicher Bedeutung.

Hier ist die Aussage der Zeugin Éva Pusztai-Fahidi im Gröning-Verfahren von Bedeutung. Sie hatte ihre Hoffnung ausgedrückt, dass der Angeklagte während des Verfahrens einsieht, was das bedeutet hat, dass er an der Rampe seinen Dienst tat. Dort seien die Opfer angekommen, dort wurde ihnen ihr Hab und Gut genommen. Überzeugend drückt die Zeugin aus, dass dort auch 49 Mitglieder ihrer Familie und Bekannte ankamen, die alle im KZ starben.Footnote 30

Éva Pusztai-Fahidi sagte hierzu wörtlich: „Kann er meinen 49 Familienmitglieder das Leben zurückgeben? Wird er mir sagen, dass er nur dort gestanden hat?“Footnote 31

Der anwaltliche Vertreter der Nebenklägerin Éva Pusztai-Fahidi, Rechtsanwalt Walther, drückt aus, dass eine Aussage Grönings, er sei unschuldig, nur eine persönliche Auffassung, nicht aber die Rechtslage zum Ausdruck bringt.Footnote 32

Immer wieder wird über die Rolle der Nebenkläger in diesen neueren NS-Prozessen diskutiert. Man muss es drastisch ausdrücken: Die Nebenkläger haben in ein Verfahren, wo es um millionenfachen Mord geht, im wahrsten Sinne des Wortes Leben hineingebracht und das persönliche noch heute fortbestehende Leid ausdrucksvoll geschildert, wie es in einer schriftlichen Vernehmung nicht möglich ist. Diese Nebenkläger haben eine besondere historische Bedeutung, die zur Beurteilung des gesamten NS-Unrechts, insbesondere im Bereich des gut organisierten Genozids, von Bedeutung ist.

Die Dokumentation „Die letzten Zeugen. Der Auschwitz-Prozess von Lüneburg 2015: Eine Dokumentation“ ist ein Fundus der Aussagen der Überlebenden und Nachkommen im Gröning-Verfahren.Footnote 33 Dieses wird völlig zurecht beschrieben als „eine der letzten Gelegenheiten, unmittelbar Zeugnis abzulegen über die Verbrechen in Auschwitz und die Art und Weise, wie sie das Leben der Opfer und ihrer Familien bis heute geprägt haben“.Footnote 34

Sowohl auf der Webseite des United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C.,Footnote 35 als auch bei Steven Spielberg findet man Filme mit Interviews der Überlebenden. Diese dienen wie jeder Strafprozess, der NS-Unrecht untersucht, auch dem Ziel, Erinnerungen zu dokumentieren.

Regisseur Steven Spielberg gründete ein Projekt zur Dokumentation von Zeitzeugenberichten des Holocaust. Dazu rief er im Jahre 1994 die gemeinnützige Organisation „Survivors of the Shoah Visual History Foundation“ (Shoah Foundation) ins Leben.Footnote 36 Diese sollte die Schilderungen der Überlebenden auf Video aufnehmen, um sie nachfolgenden Generationen als Unterrichts- und Ausbildungsmaterial zugänglich zu machen.

Die Shoah Foundation zeichnete von 1994 bis 1999 an die 52.000 Interviews in 56 Ländern und 32 Sprachen auf. Erklärte Absicht war es, die persönlichen Erfahrungen möglichst vieler noch lebender Zeugen des Holocaust zu dokumentieren.Footnote 37

Die filmischen Interviews im Originalton mit Holocaust-Überlebenden zeigen eindrucksvolle Schilderungen teilweise über 2 Stunden und schildern deren Erfahrungen aus der Zeit ihres Gefangenenseins in jeweiligen Konzentrationslagern. Selbst diese filmischen Dokumente können aber die dargestellte Erlebniswelt in einer Hauptverhandlung durch die Darstellung des persönlichen Leids, der persönlichen Haltung und auch des Blickkontaktes der Nebenkläger zu dem jeweiligen Angeklagten nicht ersetzen.

Die im Gröning-Verfahren aufgetretenen Zeugen waren sämtlich im Vorfeld anwaltlich durch ihre Nebenklagevertreter beraten. Nur die Auseinandersetzung mit dem Inhalt ihrer Aussage unterstreicht deren Bedeutung und die Unterstützung durch die Anwälte, die als Nebenkläger-Vertreter mandatiert waren.

Ein Beispiel dafür sind einige Auszüge aus „Die letzten Zeugen. Der Auschwitz-Prozess von Lüneburg 2015“.Footnote 38

„Ich will ihnen zeigen: Die Nazis haben uns nicht alle weggemacht. Für diesen Prozess kam ich extra aus Kanada. Es ist das Letzte, was ich tun kann.“Footnote 39 (Zahavi spricht Gröning direkt an.)

Im Verfahren sagte der Rechtsanwalt Donat Ebert: „Meine Mandanten sind deshalb froh, dass dieser Prozess in Deutschland gegen einen SS-Soldaten möglich ist. Sie wünschen sich so etwas auch für Ungarn.“Footnote 40

Die Zeugin Susan Pollack führte aus:

„Körperlich ging es mir langsam besser, aber emotional hat es mich mein Leben lang beschäftigt. Bis heute bin ich damit noch nicht fertig.“Footnote 41

„Den Wert, den man hier auf meine Zeugenaussage legt, schätze ich sehr. Dafür möchte ich mich bedanken.“Footnote 42

„Gröning guckt während der Aussage auf die gegenüberliegende Wand, dann sinkt sein Kopf nach unten – er wirkt gezeichnet, wie es scheint, nicht nur vom hohen Alter, sondern auch von dem, was er hört.“Footnote 43

Rechtsanwalt Walther führte in seinem Plädoyer aus:

„Dies ist nicht ein Verfahren, dessen Legitimität sich wie bei jedem ‚normalen‘ Strafverfahren allein formal bemisst, nämlich nach der Frage, ob es einen hinreichenden Tatverdacht gibt. […] Die Durchführung dieses Verfahrens war notwendig, um den Opfern Genugtuung und letzte, allzu späte Gerechtigkeit zu verschaffen und den Nebenklägern den Raum zu geben, die Stimme für die Opfer zu erheben.“Footnote 44

So berichtet der in dem Gröning-Verfahren auftretende Nebenkläger-Vertreter Cornelius Nestler.

Huth beschreibt, wie es zu der Dokumentation gekommen ist und beschreibt diese Arbeit als die vollständige Dokumentation eines der letzten Auschwitz-Prozesse.Footnote 45

Huth zitiert Oskar Gröning damit, dass dieser bereits am ersten Prozesstag ein Geständnis abgelegt und Reue zeigen will, wörtlich: „Für mich steht außer Frage, dass ich mich moralisch mitschuldig gemacht habe. Ich bitte um Vergebung. Über die Frage der strafrechtlichen Schuld müssen Sie entscheiden.“Footnote 46 Die Nebenkläger sahen überwiegend in dieser Aussage kein echtes Geständnis.

Am zweiten Prozesstag, dem 22. April 2015, tritt in dem Gröning-Verfahren als Zeugin die damals 81-jährige Eva Mozes Kor auf. Die Zeugin berichtet davon, dass sie mit ihrer Zwillingsschwester im Mai 1944 in Auschwitz ankam und nach nur 30 Minuten nach der Ankunft an der Rampe sie und ihre Schwester für immer von ihrer Familie getrennt wurden.Footnote 47

In einer Vernehmungspause kommt es an diesem Prozesstag zu einer besonderen Begegnung Nebenklägerin – Angeklagter. Eva Mozes Kor reichte dem Angeklagten Oskar Gröning die Hand, umarmte ihn und sprach ihm ihre persönliche Vergebung aus. Bei Huth wird die Szene wie folgt beschrieben:

„Eva Kor reicht ihm die Hand zur Versöhnung. ‚Ich habe den Nazis vergeben. Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei. Ich habe dadurch wieder Macht über mein Leben. Viele Menschen haben Schmerz und Zorn in sich, aber damit überlebt man nicht. Vergebung ist ein Akt der Selbstbefreiung, kostenlos und ohne Nebenwirkungen. Das Nazi-Regime hat nicht funktioniert. Sagen Sie das der Jugend, Herr Gröning!‘“Footnote 48

Kurz nach diesem Vorgang im Gerichtssaal tauchten entsprechende Fotos in den sozialen Medien auf, die zu einer intensiven Diskussion führten. Es ist viel geschrieben worden über den so genannten Täter-Opfer-Ausgleich. Diese Szene dürfte wohl eine der markantesten sein, die das Verhältnis Täter-Opfer nach weit über 70 Jahren nach der Tat besonders deutlich beschreibt. Ohne Anwesenheit der Nebenklägerin und Zeugin in diesem Verfahren wäre weder diese Szene bekannt geworden noch die entsprechende Diskussion über Versöhnung in Gang gekommen. Die besondere Wirkung einer Nebenklägerin wird hier unterstrichen, die zudem noch aus Eigenmacht durch den Gerichtssaal auf den Angeklagten, der im Rollstuhl saß, in einer Verhandlungspause zuging.

Verschiedene zu dieser Zeit anwesende Zeugen und Zeuginnen haben diesen Vorgang untereinander diskutiert und die Mehrheit der Überlebenden hat sich verbal dieser Aussage der Nebenklägerin und Zeugin Eva Mozes Kor nicht angeschlossen. In einer persönlichen Unterredung habe ich nach diesem Vorgang in der Hauptverhandlungspause mit Eva Mozes Kor gesprochen und mir ihre Motivation persönlich erklären lassen. Mit einfachen Worten hat sie mir gesagt, dass für jeden, der sich so verhält und in einer gewissen Weise vergeben kann, das Leben danach wesentlich einfacher wird. Diese plausible Erklärung und die gesamte Aussage Eva Mozes Kors konnten nur gewonnen werden, weil sie persönlich im hohen Alter so viele Jahre nach der Tatzeit im Gerichtssaal anwesend war. Zudem konnte sie anschaulich berichten, dass Anfang der 1990er- Jahre ihre Zwillingsschwester – auch an den Folgen der menschenunwürdigen Behandlung durch den Lagerarzt Dr. Mengele – in den Vereinigten Staaten verstorben ist.

Am dritten Prozesstag am 23. April 2015 wird Zeuge Max Eisen vernommen, der wörtlich bei Huth mit seiner letzten Passage aus der Vernehmung wiedergegeben wird. Der Zeuge berichtete, wie sein Vater und sein Onkel eines Abends ‚selektiert‘ wurden. Wörtlich führte er aus:

„Als ich am nächsten Morgen zu ihrer Baracke lief, waren sie nicht mehr da. Sie waren im Quarantäne-Bereich von Auschwitz I. Ich konnte mich am Fenster zwei Sekunden von ihnen verabschieden. Mein Vater hat mich gesegnet, und er sagte mir, wenn ich überlebe, muss ich der Welt sagen, was hier passiert ist. Ich war am Boden zerstört, und ich wusste: Das ist das Ende meiner Familie. Gerechtigkeit muss ihren Platz haben, auch wenn es 70 Jahre später erfolgt. Vielen Dank.“Footnote 49

Aus dieser Zeugenaussage des Nebenklägers Max Eisen entspann sich ein Dialog des Vorsitzenden Richters mit Oskar Gröning. Die Frage des Richters, ob er diese Schilderung übertrieben fand, beantwortete Gröning mit Nein und er bezeichnet die Aussage des Zeugen als nicht übertrieben.Footnote 50 Eine solche Dynamik konnte nur durch die Aussage des Zeugen im Gerichtssaal bewirkt werden und ist ein Gewinn im Erkenntnisprozess.

Am dritten Prozesstag, dem 23. April 2015, hatte auch der damals 84-jährige Zeuge William Glied ausgesagt und wies auf seine persönliche Verpflichtung hin, „den Menschen seine Geschichte zu erzählen, damit Unmenschliches dieser Art nicht wieder passieren kann.“Footnote 51

Am vierten Prozesstag, dem 28. April 2015, sagte die Zeugin Éva Pusztai-Fahidi aus Ungarn aus und beendete ihre Aussage mit dem Ausdruck der Genugtuung, dass sie vor einem deutschen Gericht aussagen durfte. Sie verdeutlichte, dass es ihr nicht um Strafe, sondern um ein Urteil und eine Stellungnahme der Gesellschaft ging.Footnote 52

An diesem vierten Prozesstag wurde auch die Zeugin Hedy Bohm vernommen und richtete sich an den Angeklagten Oskar Gröning. Sie sagte, dass sie nicht einmal in ihren schönsten Träumen sich hätte vorstellen können, in einem deutschen Gerichtssaal zu sprechen. Erst vor zehn Jahren habe sie angefangen, ihre Geschichte zu erzählen. Sie habe keine Rachegefühle dem Angeklagten gegenüber, könne aber den Mördern ihres Vaters und ihrer Mutter nicht vergeben.Footnote 53

Noch heute habe ich in Erinnerung, wie die Zeugin auch davon berichtete, welche Ängste sie erfüllt hatten, als sie sich von Kanada zu dieser Zeugenvernehmung nach Deutschland aufmachte. Nach ihrer Vernehmung reiste sie ab und kam zur Urteilsverkündung wieder. Am Rande der Urteilsverkündung erzählte mir die Zeugin, dass es ihr nunmehr überhaupt nicht mehr schwergefallen sei, nach Deutschland einzureisen. So kann durch diese Zeugin belegt werden, dass die persönliche Erfahrung der Überwindung der Angst, nach über 70 Jahren zu einem deutschen Gericht zu fahren, um einem Angeklagten gegenüberzutreten, auch die Erfahrung, dass die deutsche Justiz noch so viele Jahre nach dem Tatzeitpunkt diese Verfahren führt, helfen kann.

Am sechsten Prozesstag wurde als Zeugin Ilona Kalman vernommen. Sie begann ihre Aussage mit der Bemerkung:

„Ich möchte dem Gericht und dem deutschen Volk dafür danken, dass Sie mir die Gelegenheit geben, zu Ihnen über den Verlust der vielen Mitglieder meiner Familie zu sprechen. Diese vielen Verwandten habe ich nie kennengelernt, denn ich wurde in den Verlust hineingeboren. Anders als die meisten anderen Nebenkläger bin ich keine Überlebende, sondern Kind zweier Überlebender.“Footnote 54

Am Ende der Vernehmung dankte sie für die Gelegenheit, die Geschichte ihrer Familie zu erzählen. Sie legte dar, dass das ungeheure Ausmaß dessen, was ihrer Familie widerfuhr, im Gerichtssaal und damit vor der Welt anerkannt wurde. Sie finde darin die Quelle eines gewissen Trostes.Footnote 55

4 Schlussbetrachtung

Die Verfahren der Neuzeit hätten ihre Bedeutung ohne Zeugen und ohne deren Beistand durch Nebenklagevertreter nicht erhalten. Auch die mediale Bedeutung der Zeugenvernehmungen haben den Verfahren der Neuzeit einen besonderen Stellenwert im In- und Ausland gegeben. Dies entspricht dem klaren Interesse der Nebenkläger. Sie vertreten zu Recht die Auffassung, dass das erlittene unsägliche Leid gerade nicht mit dem Lebensende der Überlebenden auch wirklich beendet wurde. Der Zeugenbeweis hat in diesen Verfahren seine Wirkung deutlich entfaltet. Dem Ansehen Deutschlands hat das gerade im In- und Ausland genutzt und zudem eine besondere Message an Rechtsradikale und gewaltbereite Dritte und diskriminierende Tätergruppen geschickt.

Es wurde bereits über den im Jahre 1961 stattgefundenen Eichmann-Prozess in Israel berichtet, dass die Zeugen Brand und Christ in ihren Zeugenaussagen ihr Zusammentreffen mit Eichmann beschrieben und die Härte und den Ehrgeiz des Obersturmbannführers Eichmann bei der Verfolgung der Juden durch ihre mündliche Aussage beschreiben konnten.Footnote 56

Ebenso wird berichtet, dass insbesondere die Zeugenaussagen der Überlebenden aus den Lagern und Gettos über die Deportationen und Todesmärsche bewirkten, dass diejenigen, die den Prozess mitverfolgten, sich der Konfrontation mit den Schrecken der Vergangenheit kaum entziehen konnten.Footnote 57 Dieser Schrecken und die brutale und unmenschliche Grausamkeit können mit Dokumenten nicht so intensiv für die richtig verstandene umfassende Wahrheitsfindung erfasst werden. Gerade die niedergeschriebenen Zeugenaussagen im Gröning-Prozess spiegeln diese durch nichts zu ersetzende Bedeutung für das Verständnis des unsagbaren Unrechts wider.

Im Eichmann-Prozess 1961 waren diese Zeugen noch ohne anwaltlichen Beistand, aber wesentlich näher zum vergangenen und erlebten zeitlichen Ablauf. Es ist gut vorstellbar, was diese Zeugen deutlicher, präziser und effektiver hätten berichten können, wenn sie anwaltlichen Beistand gehabt hätten. Im Gröning-Verfahren und den danach folgenden Verfahren in Detmold, Münster, Hamburg und Itzehoe wurde diese zeitliche Distanz umso größer. Dies beschreibt eindrucksvoll die notwendige Betreuungs- und Beratungsaufgabe der Nebenklagevertreter.

Zieht man zudem in Betracht, dass in den Prozessen der Neuzeit seit Gröning im Jahre 2015 und danach mehr als 70 Jahre zum Tatgeschehen verstrichen waren, ist die notwendige anwaltliche Hilfe durch Nebenklagevertreter gut zu verstehen. Die betagten Zeugen brauchen nicht nur deren Hilfe zur Vorbereitung, sondern nur mit deren Hilfe können sie ihre große innere Unsicherheit und Angst, in Deutschland im Gerichtssaal aufzutreten und einem früheren SS-Mann oder einer SS-Frau gegenüberzustehen, einigermaßen überwinden. Ähnliches gilt für die Zeugen, die selbst nicht mehr auftreten und entweder im Videobeweisverfahren vernommen werden oder ihren Anwalt das Erlebte an ihrer Stelle vortragen lassen.

Nur im Rahmen der anwaltlichen Beratungsaufgabe und Verschwiegenheit liegt der Schlüssel für die Nebenklagevertretung in der Neuzeit. Sie ist der überzeugende Ausdruck des Rechtsstaats. Es lässt sich vertreten, dass der Anwalt als Nebenklagevertreter in diesen Verfahren eine Zusatzaufgabe zu den rein prozessualen Rechten und Pflichten bekommt. Er muss besonderes menschliches Engagement und Gespür entwickeln, um den Mandanten durch diese für sie nicht einfache Zeit zu helfen. Der als Nebenkläger-Vertreter auftretende Rechtsanwalt in den NS-Verfahren der Neuzeit hat zusätzlich eine besonders verantwortungsvolle soziale Betreuungsaufgabe zu leisten.