Schlüsselwörter

Law in literature bezeichnet jenen Aspekt innerhalb der law and literature-Forschung, der literarische Texte mit rechtlicher Stoffgrundlage untersucht (vgl. Binder/Weisberg 2000, 3).Footnote 1 Vorbehalte gegen den Ansatz bestehen nur solange zu Recht, als die Forschung bei der stoffgeschichtlichen Erfassung stehenbleibt. Relevant sind die Beiträge, sobald die Modalitäten des Zugriffs von Literatur auf Gegenstände des Rechts eigens analysiert werden. Dieser Prozess einer ‚Vergegenständlichung‘Footnote 2 wird im Druck der Erzählungen des französischen Juristen und Literaten François Gayot de Pitaval manifest. Unter Rückgriff auf authentische Akten und die reiche Mémoirenliteratur des Ancien Régime sind die Causes célèbres et intéressantes (1734–1743, 20 Bände) Gerichtsverhandlungen vornehmlich des 17. und frühen 18. Jahrhunderts gewidmet. Anders als im Kriminalroman geht es weniger um das Verbrechen und seine kriminologische Aufklärung als um die judikative Beurteilung des Falls. So intendieren die Pitavalgeschichten sowohl Rezipienten, die an der literarischen Entfaltung, als auch solche, die an fachlichen Details interessiert sind.

Der Aufsatz legt zunächst die Genese der Gattung ‚Pitavalgeschichte‘ aus der rechtspraktischen Textsorte der ‚Relation‘ dar. Jenseits des rein semantischen Textes ihres Verfassers Gayot werden die Geschichten im zweiten Teil als verlegerische Erzeugnisse in Buchform untersucht. Unter der Forschungsperspektive der material philology wird dabei der Anteil von Typographie und verlegerischem Paratext am Prozess der Vergegenständlichung des rechtlichen Materials gewürdigt. Im dritten Teil spezifiziere ich den Prozess der Vergegenständlichung hinsichtlich der Textsorten des integrierten Materials. Abschließend prüfe ich anhand der weiteren Adaptionsgeschichte bei François Richer und Friedrich Schiller die These einer zunehmenden Literarisierung der Gattung mithilfe des entwickelten Analyseinstrumentariums.

1 Genese der Gattung ‚Pitavalgeschichte‘ aus den Relationen der Aktenversendung

Der weltliche Inquisitionsprozess des Ancien Régime läuft in wesentlichen Teilen schriftlich ab. Anklage, Verteidigung, Verhör, Gutachten und Urteil produzieren Aktenberge, die unterschiedlichen Textsorten des Rechtswesens zuzurechnen sind. Dass ein studierter Jurist und praktizierender Anwalt wie Gayot de Pitaval auf den Gedanken kommt, dieses Material seinen literarischen Ambitionen dienstbar zu machen, definiert einen neuen Anspruch der Literatur auf Authentizität und Wahrheit (vgl. Lüsebrink 1983, 108). Auch wenn aufgrund ihres Erfolgs die Causes célèbres als ein Geniestreich Gayots bezeichnet wurden,Footnote 3 handelt es sich gerade nicht um den avantgardistischen Wurf eines autonom schreibenden Autors. Vielmehr bildet er eine zwar neue literarische Gattung heraus, die aber viel, wenn nicht alles, der juristischen Praxis seiner Zeit verdankt. So gesehen sind die Pitavalgeschichten Zeugnis einer produktiven Heteronomie.

Inhaltlich und formal stehen die Causes der juristischen Textsorte der ‚Relation‘ äußerst nahe. Relationen werden notwendig, wo Richter und Urteiler räumlich getrennt sind. In der frühneuzeitlichen Praxis der Aktenversendung holt ein Richter von einem universitären Spruchkollegium externen Sachverstand ein, um einen gesetzeskonformen Entscheid zu fällen. Mitunter geht die Abhängigkeit so weit, dass die rechtsetzende Spruchformel bereits wörtlich vorformuliert wird (vgl. Schild 1991, 164). Das bedeutet, dass das Urteil allein auf der Grundlage der versandten Akten beruht und nicht etwa auf eigenem Augenschein oder nochmaligem Verhör des Beschuldigten durch das angefragte Kollegium (vgl. Ignor 2002, 155; Oestmann 2015, 189–194). Entsprechendes Gewicht kommt den Relationen zu. Sie sollen Ordnung schaffen und den Wust des angefallenen Materials mit Fokus auf den justiziablen Sachverhalt in eine im Lauf der Zeit verfestigte Form bringen, was auch die Anwendung rhetorischer Schreibregeln einschließt (vgl. Meyer-Krentler 1991, 125–137; Schild 1991, 165–169). Die Relationen umfassen eine sogenannte ‚Geschichtserzählung‘ und einen Auszug aus den Akten. Wolfgang Schild charakterisiert sie als „wissenschaftliche[s] Kunstwerk[…]“ (alle 1991, 169–171), das mit „Sachlichkeit, Nüchternheit, Trockenheit des Stils“ eine „juristische[…] Ästhetik“ oder auch eine „juristische Poetik“ zum Ausdruck bringe. Dabei diene die vorangestellte Geschichtserzählung „der Wohlabgerundetheit und Abgeschlossenheit des Kunstwerks“. Innere Stimmigkeit sei Kriterium einer „‘schöne[n]‘ Relation“.

Doch sind claritas, veritas und elegantia hier keine ästhetischen Normen um ihrer selbst willen (vgl. Becker 2005, 67–73). Sondern sie sind zweckdienlich, funktional im Hinblick auf Rechtsprechung als einer sozialen Praxis. Schon bei der Verfertigung der Verhörprotokolle werden die Aussagen von Zeugen und Beschuldigten nicht nur verschriftet, sondern verschriftlicht, was in diesem Fall bedeutet, dass nicht nur formal eine Anpassung an die Normen der Schriftsprache – hier genauer: an die juristische Schriftsprache – stattfindet, sondern darüber hinaus auch inhaltlich eine Anpassung an die geltenden Rechtsnormen stattfindet (vgl. Becker 2005; Niehaus 2003). Die Einbettung in den praktischen Zusammenhang bedingt, dass es nicht darum gehen kann, alles aufzuzeichnen, was geäußert wird, und auch nicht im genauen Wortlaut. Die gemeinsprachlichen Äußerungen werden für die intendierten Rezipienten bereits in Fachtermini übersetzt. Alles, was nicht zur Sache gehörig ist, fällt weg. Die relevanten Teile der Aussagen werden gebündelt und verdichtet, sodass dem Spruchkollegium eine funktionale Arbeitsgrundlage zur Verfügung gestellt werden kann.

Gayot de Pitaval adaptiert in seinen Geschichten dem Inhalt, aber auch der Form nach, also eine gefestigte Textsorte. Wo für die Relation die Akten im Anschluss an die Geschichtserzählung lediglich beigelegt werden, ergänzt Gayot allerdings narrative Überleitungen oder paraphrasiert das aktenmäßig Dokumentierte mit eigenen Worten. Glaubt nach dem Urteil Ludwig Hugo Franz von Jagemanns ein Laie schon angesichts der in einer Relation zusammengestellten Aktenstücke, dass sie den Verlauf eines Prozesses unmittelbar widerspiegeln (vgl. Becker 2005, 53), so intensiviert Gayot diese Illusion und nutzt sie literarisch. Außerdem kennt er – anders als in der Praxis der Aktenversendung – bereits das Urteil und kann dieses – nebst einer kritischen Würdigung – an das als authentisch präsentierte Material anfügen. Doch unterscheidet sich die neue Gattung bei aller Ähnlichkeit der Form kategorial von der juristischen Textsorte sowohl darin, was das intendierte Publikum anbetrifft, als auch hinsichtlich der Textfunktionen. Richtet sich die Relation an den besonders privilegierten Kreis des Spruchkollegiums, sind die Causes célèbres nach Angabe ihres ersten Übersetzers ins Deutsche „so eingerichtet, daß [sie] mehr als einer Gattung von Lesern gefallen“ (KW, 1, fol. *2v).Footnote 4 Denn Gayot zielt auf Gelehrte und Ungelehrte gleichermaßen (vgl. CV2, 1, xix). Richtet er seine Geschichten im Hinblick auf Unterhaltung eines breiten Publikums juristischer Laien ein, möchte er zugleich das Fachpublikum nicht verlieren. Mit der Erörterung von Spezialfragen zielt er daher auf Juristen in Ausbildung und auf seine anwaltlichen Kollegen (vgl. CV1, 3, ij).

Durch den Rückgriff auf heterogenes Aktenmaterial zeichnen sich die Pitavalgeschichten durch eine ausgesprochen hybride Faktur aus. Je nach Ausgabe wird dieses Material jeweils anders typographisch ausgewiesen und damit hervorgehoben. Das Spektrum umfasst Anführungszeichen am Beginn jeder integrierten Textzeile, Fett- oder Kursivdruck sowie die Vergegenständlichung ganzer Fremdtexte abgesetzt vom Kontinuum des Haupttexts mit eigenem Zwischentitel oder kenntlich gemacht durch eine entsprechende Marginalie. Das intertextuelle Gefüge, genauer noch: das architextuelle Wechselspiel, erinnert durchaus an moderne Montagen. Dieser Eindruck rührt aber nicht allein von der typographisch markierten Verwendung von Prozessakten her. Die Aktenstücke sind darüber hinaus selbst ganz unterschiedlichen Textsorten zuzurechnen, deren ursprüngliche Funktion jeweils ihren eigenen Ort in der juristischen Praxis haben. Normtexte, Plädoyers, Urteile und das Anführen vergleichbarer Fälle bedienen nicht nur unterschiedliche Intentionen, sondern adressieren mitunter auch unterschiedliche Rezipienten und Instanzen. Bei der Vergegenständlichung durch Gayot und im Hinblick auf die von ihm intendierten neuen Rezipienten sind daher je spezifische Prozesse zu beobachten.

2 Verlegerische mise en livre als Indikator des intendierten Gebrauchs

„Autoren schreiben keine Bücher: Sie schreiben Texte“ (Cavallo und Chartier 1999, 16). Leser hingegen lesen keine Texte, sondern Bücher (vgl. Cavallo und Chartier 1999, 12). Zur Rezeption des semantischen Autortextes kommt daher die Rezeption des Buchs als materialer Gegenstand mit seiner sinnerzeugenden Form hinzu. Die gedruckte Repräsentation der erzählten Gerichtsverfahren ist damit zugleich Gegenstand der law in literature-Forschung als auch der material philology (zu letztgenannter vgl. Nichols 1997). Im Anschluss an den British cultural materialism entwickelt Jerome J. McGann „a materialist hermeneutics“ (1991, 15), die sowohl den ‚linguistic‘ als auch ‚bibliographical code‘ eines Werks und damit den Anteil von Autor und Überlieferungsbeteiligten gleichermaßen berücksichtigt. Demnach ist bei der Interpretation neben Haupt- und Paratext gerade auch die Typographie zu berücksichtigen. Die räumliche Einteilung von Sinneinheiten in Absätze und Kapitel, der Einsatz von Weißraum und die Auszeichnung zitierter Fremdtexte unter systematischer Verwendung von Marginalien und Fußnoten sind darüber hinaus mediengeschichtlich komplexe Prozesse (vgl. Illich 1991; Martin 2000), fernab der Selbstverständlichkeit, mit der heute buchliterarisch erzählt wird.

Bei der Vergegenständlichung des juristischen Materials in Pitavalgeschichten sind sowohl die globale Perspektive der mise en livre als auch die konkrete Anordnung im Rahmen der mise en page von Belang. Macht Gayot in seinem Vorwort Vorgaben für eine gelingende Lektüre, etwa wenn er den Wahrheitsgehalt der Geschichten zu goutieren empfiehlt (vgl. CV2, 1, v), so lässt sich auch „aus der Materialität des typographischen Gegenstands“ (Chartier 1985, 272) näherungsweise erschließen, wie der Text nach Maßgabe des jeweiligen Druckers und Verlegers gelesen werden sollte. In der weiteren Textgeschichte ist gerade auch die Materialität der Textträger über Neuausgaben, Raubdrucke, Übersetzungen und Adaptionen hinweg produktiv unfest. McGann spricht von einer textgeschichtlichen Gesetzmäßigkeit, dem „law of change“ (1991, 9). Auf unser Thema bezogen heißt dies: Recht und Literatur werden in ihrem Verhältnis neu ausgehandelt.

Bereits die frühe Überlieferungssituation von Gayots Causes célèbres ist dabei durchaus komplex, da die Witwe Delaulne ihr Privileg mit Guillaume Cavelier, Theodore Le Gras und Jean de Nully teilt (vgl. Mazzacane 2003, 58, Anm. 10, sowie CV2, 1, [xxviij]). Neuauflagen erfolgen parallel zum Druck der späteren Bände. Zudem bringt Jean Neaulme ab 1735 von Den Haag aus weitere Ausgaben auf den Markt (vgl. Sgard 1974, 460–461). Aufgrund teilweise weitreichender Ergänzungen durch Gayot lege ich die zweite Ausgabe des ersten Bandes von Cavelier (Paris 1735) für meine Untersuchung zugrunde. Zunächst und weiter unten vergleichend ziehe ich die anonyme Übersetzung im Gottfried Kiesewetter-Verlag heran (Leipzig 1747–1767, 9 Bände).

In einem schmucklosen Oktavband mit Signatur Decis. 154c-1 findet sich im Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek München die gut 500 Seiten starke Ausgabe des ersten Bandes der Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont décidées in der ersten deutschen Übersetzung eines Anonymus. Auf dem Titelblatt sind der Name des ursprünglichen Verfassers „Gayott von Pitaval“, Teile der Titelformulierung („Erzählung“ sowie „Rechtshändel“) und der numerische Hinweis „Erster Theil“ nebst Verlagsangabe durch Rotdruck ausgezeichnet. Eine abgekürzte Variante des französischen Originaltitels „CAUSES CELEBRES“ ist in Form versalischer Antiqua ebenfalls hervorgehoben. Blickt man auf die Makrostruktur des Bandes, erkennt man zwei Vorreden, sechs PitavalgeschichtenFootnote 5 und ein Inhaltsverzeichnis. Hinzu kommen wenige Zierleisten und Vignetten sowie nach den Vorreden ein weiteres Einzelblatt. Hierauf steht der alternative Titel „Gerichtliche Entscheidungen berühmter und wichtiger Rechtssachen“ (KW, 1, fol. Ar.). Gegenüber der Formulierung auf dem Titelblatt („CAUSES CELEBRES, oder Erzählung sonderbarer Rechtshändel, sammt deren gerichtlichen Entscheidung“) fällt auf, dass der teleologische Aspekt des Urteilens in die Erstposition gezogen und damit zum eigentlichen Gegenstand gemacht wird: Es gehe um „Gerichtliche Entscheidungen“. Das dynamisch-prozessuale Moment des Gerichtsverfahrens wie auch das belletristisch-unterhaltende ‚Erzählen‘ entfallen dagegen völlig. Demnach hat der Rezipient eine Sammlung der Lösung kniffliger Rechtsprobleme („wichtiger Rechtssachen“) zu erwarten und weniger die eingangs angepriesene narrative Entfaltung gerichtlicher Auseinandersetzungen („Erzählung sonderbarer Rechtshändel“).

Diese Verdopplung ist nicht zufällig, sondern geradezu programmatisch für das Konzept der Sammlung. Die Titelformulierung ist als paratextuelles Schwellenphänomen sowohl für die intendierte Rezeptionssituation als auch für den zu rezipierenden Gegenstand von Relevanz. Die Formulierung des Zusatzblattes steht erkennbar in der Tradition juristischer Spruchsammlungen und zielt auf ein rechtskundiges Fachpublikum. Die intertextuelle Referenz der Formulierung des eigentlichen Titelblatts ist demgegenüber weniger spezifisch. Dies spricht dafür, dass hier ein möglichst breiter Rezipientenkreis angesprochen werden soll. Anknüpfungspunkte finden sich zum einen im Bereich vormoderner Wunderzeichenliteratur (zu denken ist an Berichte von merkwürdigen Himmelszeichen, Wetterphänomenen oder anderen Erscheinungen contra naturam), zum anderen bei den das eine Mal pikarisch, das andere Mal robinsonadisch gefärbten Abenteuerromanen. Auch in deren Titelgebung finden sich zahlreiche Hinweise auf ‚merkwürdige‘ Erzählungen. Im Hinblick auf die beworbenen Pitavalgeschichten verweisen die Titelalternativen somit auf einen Gegenstand, der gleichermaßen für Juristen wie für Laien interessant ist.

Bei den frühen französischsprachigen Ausgaben des ersten Bandes von Cavelier (1734 sowie 1735) ist der Bestand der erzählten Geschichten identisch mit Kiesewetters Übersetzung. Einen alternativen Titel gibt es bei ihm allerdings nicht. Vor Beginn der ersten Pitavalgeschichte wird lediglich die Formulierung des Titelblatts wiederholt. Vergleicht man den Bestand an Paratexten bei beiden Cavelier-Ausgaben, fällt auf, dass die Neuausgabe im Vorwort einen Absatz mit einem Nachruf auf Gayots in der Zwischenzeit verstorbenen Anwaltskollegen Mathieu Terrasson ergänzt (CV2, 1, xiijf.). An die Stelle des Druckfehlerverzeichnisses tritt ein umfangreiches Gespräch über die Erstausgabe der Causes célèbres (vgl. CV2, 1, xxj–xxvj).

Von dieser gesellschaftlichen Unterhaltung habe ihm ein Freund brieflich berichtet. Der Gegenstand seien „divers Jugemens sur mon Ouvrage“ gewesen (CV2, 1, xxj). Damit ist den Causes célèbres mit ihren „JUGEMENS qui les ont décidées“ (CV2, 1, Titelblatt), ein autopoetisches Urteil vorangestellt, das der Perspektive der (fingierten und gleichsam intendierten) Leserinnen und Leser zugeschrieben ist. Die Zusammensetzung dieses Publikums (zwei Anwälte, eine Marquise, ein Komödienautor und der Gayot persönlich bekannte ‚Sieur Regalite‘) bedingt dabei Äußerungen sowohl hinsichtlich des juristischen Gehalts als auch die literarische Qualität betreffend.

Die Marquise steht für das von Gayot umworbene weibliche Publikum, dem juristische Vorbildung fehlt, das aber seichte Unterhaltung ablehnt. So lobt sie, durch die Lektüre mit „les questions du Palais“ bekannt gemacht worden zu sein (CV2, 1, xxj). Es zeichne den Gelehrten aus, wenn er sein Wissen verständlich ausdrücken könne („nous familiariser leur science“, CV2, 1, xxiv). Demgegenüber nimmt sich der Advokat ad honores wie eine Figur des Komödienschreibers aus. Er ist der ‚Scharlatan‘, der von den Juristen eine möglichst unverständliche Sprache fordert, damit das gemeine Volk vor ihrem vermeintlichen Wissen in Ehrfurcht erblasse (CV2, 1, xxiij), und dessen Fachbibliothek gleichzeitig ungenutzt verstaubt (vgl. CV2, 1, xxv). Gayot zeichnet ihn als seinen persönlichen Antagonisten und lässt ihn den Vorwurf erheben, Gayot entweihe die Jurisprudenz, wenn er ihre Geheimnisse offenbare („Il a profané notre science, en la voulant rendre vulgaire.“, CV2, 1, xxiij). Zugleich seien die Causes célèbres aus seiner Perspektive nicht besser als Romane (vgl. CV2, 1, xxv) und für die juristische Praxis völlig unbrauchbar (vgl. CV2, 1, xxiv).

Legt der Verkaufserfolg mit zahlreichen Bänden und parallelen Ausgaben nahe, dass Gayot das große Publikum durchaus erreicht hat, so zeigt die prominente Stellung des zweiten, geschätzten Advokaten in der zitierten Unterhaltung, dass er vor allem auch bei den Fachkollegen reüssieren wollte. Diesen Gesprächsteilnehmer überrascht, dass Gayots Sammlung neben den Urteilen so vieles zu den Fällen zu bieten habe, das zwar „la Jurisprudence“ nicht betreffe (CV2, 1, xxiij), aber dennoch zur Sache gehöre (CV2, 1, xxiv). Sein „petit tribunal“ fällt daher positiv aus (CV2, 1, xxiv). Für das breite Publikum habe er die Sprache der Juristen vereinfacht und dennoch sei das Werk auch für den professionellen Gebrauch geeignet: Denn die angeführten Gesetze und Verordnungen werden jeweils erläutert, die entsprechenden Nachweise stehen am Rand und die Urteile sind wörtlich wiedergegeben („il a respecté le langage“, CV2, 1, xxv). Er selbst werde daher auf Gayots Werk zurückgreifen: „pour moi, je ferai usage dans les occasions des Causes Célébres [sic]“ (CV2, 1, xxv).

Nach diesem Paratext ist das Werk also für zwei Gattungen von Lesern von besonderem Interesse: Unter den belletristisch Interessierten spreche es jene an, die neben reiner Unterhaltung auch Belehrung suchen, und was das Fachpublikum anbetrifft, werde es von jenen Juristen goutiert, für die auch das Menschliche abseits der bloßen Normdeutung von Relevanz ist. Im Ansatz werden in diesem kleinen Beispiel Recht und Literatur damit Gegenstand im jeweils anderen Diskurs und zwar mit Folgen über den Lektüreakt hinaus. Der Jurist möchte das literarische Werk beruflich heranziehen, die Marquise ihre Privatbibliothek um die weiteren zu erwartenden Bände ergänzen (vgl. CV2, 1, xxvj).

Die Probe aufs Exempel, ob die Pitavalgeschichten tatsächlich für ein solchermaßen aufgefächertes Publikum geeignet sind, führe ich anhand der „Geschichte einer Giftmischerinn“ durch. Wie Gayots Original steht die deutsche Übersetzung der Brinvilliers-Erzählung unter der im ersten Satz formulierten Ausgangsfrage, „ob eine geschriebne Beichte, die einem Priester übergeben werden soll, zum Beweise wider einen Beklagten dienen könne“ (KW, 1, 331). Der konkreten juristischen Beantwortung ist sogar ein eigener Abschnitt gewidmet, der mit eben dieser Frage überschrieben ist (vgl. KW, 358–370; CV2, 1, 374–387). Gefordert scheint damit zunächst ein genuin juristischer Blick auf die Geschichte. Der genannte Abschnitt zitiert eine entsprechende Passage der Verteidigungsschrift Louis Nivelles. Letztlich beschränkt er sich auf das Argument, eine gerichtliche Verwertung verletze das Sakrament der Beichte. Dafür beruft sich Nivelle ausschließlich auf religiöse Quellen, auf juristische Verfasser beruft er sich dagegen nicht. Auch Gayot verzichtet auf eine genuin juristische Einordnung dieser Ausführungen.

Entsprechend liest sich die einleitende Geschichtserzählung weniger als eine juristische Sachverhaltsfeststellung, sondern eher als eine Sündenbiographie, die es zudem im Detail nicht allzu genau mit den historischen Fakten nimmt (vgl. Walch 2010, 13, 63 f., 237 und öfter). Gayot zeichnet die Marquise und ihren Geliebten Sainte-Croix als schwarze Seelen, die ihren wahren Geist hinter einer physio- und pathognomischen Maske verbergen (vgl. Neumeyer 2006; Speth 2021). Unter dem Einfluss der Leidenschaften vergiftet die Marquise eigenhändig ihren Vater. Die Wahl der Methode stellt, wie Michael Niehaus mehrfach zeigt, die zeitgenössische Strafverfolgung vor eine Herausforderung (zuletzt 2015). Schließlich ist es erst im 19. Jahrhundert mit der Etablierung der Marsh’schen Probe möglich, Vergiftungen mit Arsen leicht nachzuweisen. Gegenüber der französischen Vorlage hebt die anonyme deutsche Übersetzung die unkontrollierten Affekte als Ursache der Morde stärker hervor (vgl. Behrens und Zelle 2020, 273). Über die erzählte Zeit hinaus ist diese Biographie durch die schriftliche Beichte noch nach vorne erweitert. Die Marquise gibt hier an, bereits als Kind einen Brand gelegt und sich im Alter von sieben Jahren der Wollust schuldig gemacht zu haben (vgl. KW, 1, 351).Footnote 6 Auch nach ihrer Verhaftung setzt die Brinvilliers das Sündenleben fort, wenn sie – im Französischen sogar zwei Mal – versucht, sich das Leben zu nehmen (vgl. KW, 1, 352; CV2, 1, 366 und 368). Einen Abschluss findet ihr Dasein als Sünderin erst kurz vor der Hinrichtung. Ihre Konversion überhöht der Beichtvater Edmé Pirot dabei derart, dass er sie zu einer Heiligen stilisiert („une Sainte“, CV2, 1, 396, nicht in der deutschen FassungFootnote 7).

Um die sündenbiographische Grundtendenz dieser Pitavalgeschichte jedoch richtig einzuschätzen, ist Nivelles Verteidigungsstrategie zu untersuchen. Er stellt die Marquise als Opfer ihres Geliebten Sainte-Croix dar, das aufgrund der vornehmen Abkunft und einer Erziehung zur Tugend gar nicht fähig sei, derartige Verbrechen zu wünschen (vgl. KW, 1, 353–358). Dieser Versuch, die Unschuld der Angeklagten mit ihrem Charakter zu begründen, entspricht durchaus der zeitgenössischen Praxis, während bei einem männlichen Beschuldigten ein Anwalt eher auf den Mangel an Beweisen rekurrieren würde (vgl. Jenkin 2015, 115). Mehr als eine unrechtmäßige Liebschaft könne man der Marquise nach Nivelle nicht vorwerfen. In den Liebesbriefen, die man bei Sainte-Croix gefunden hat, offenbare sie vielmehr ihre wahre Natur (vgl. KW, 1, 358).

Mit dieser Strategie konvergiert die globale Faktur der Geschichte – allerdings mit negativem Vorzeichen: Der Charakter, der sich in der Ausfaltung der ganzen Biographie erzeigt, macht die Schuld der Angeklagten gerade wahrscheinlich. Gayot bleibt dabei vage, was Nivelles Behauptung, die Brinvilliers sei „in der Tugend erzogen worden“ (KW, 1, 355), anbelangt. Ihre schriftliche Beichte legt etwas anderes nahe. Von dieser ausgehend, zeichnet die Historikerin Agnès Walch ein Bild von der Kindheit der Marquise, das von Inzest und Vergewaltigung geprägt ist (vgl. 2010, 130–134). Doch hier liegt Nivelles Problem: Auf einer solchen Basis lässt sich keine Verteidigung aufbauen, welche die Tugendhaftigkeit der Angeklagten ins Zentrum rückt. Womöglich ist hier der Grund zu erkennen, weswegen er bezüglich der gerichtlichen Verwertbarkeit der Beichte eine Doppelstrategie verfolgt, die sich als inkonsistent erweist. Wie ausgeführt, entziehe sie sich als Sakrament dem weltlichen Zugriff. Zugleich zweifelt Nivelle jedoch ihr korrektes Zustandekommen an. Wie Gayot paraphrasiert, bezichtige sich die Brinvilliers „in einer Art von Raserey“ Vergehen (KW, 1, 370), derer sie sich nie schuldig gemacht habe. Beim Versuch, inhaltliche Widersprüche der Offenbarungen mit seiner Verteidigungsstrategie auszuräumen, unterminiert der Verteidiger deren theologisch geschützten Status. Raserei oder Beichte: Die Äußerungen der Brinvilliers können nicht beides zugleich sein.

Insgesamt ist festzuhalten, dass gerade auch die lebensgeschichtlichen Passagen der Sündenbiographie durchaus juristisch relevant sind und auf das Interesse eines juristisch gebildeten Rezipienten rechnen dürfen. Der Schluss von Gayots Geschichte allerdings, den Hania Siebenpfeiffer „‚Juristische Würdigung‘ (nach der ‚eigentlichen‘ Causa)“ nennt (2015, 190), diskutiert nicht etwa juristische Bewertungen des kirchlichen Verdikts. Stattdessen werden weitere historische Giftmordfälle angeführt. Den besonders spektakulären Fall der Catherine Monvoisin Deshayes nimmt Gayot zum Anlass, das Edikt wider Giftmischer, Wahrsager und Hexenmeister vom Juli 1682 umfänglich zu zitieren (vgl. CV2, 1, 404–413; KW, 1, 380–390).

Folgende Punkte sind in diesem königlichen Erlass geregelt: Wahrsagen und abergläubische Praktiken werden verboten; die Todesstrafe wird für gotteslästernde Schwarzkünstler, Zauberer und Giftmischer verordnet; jegliche Form von Giftmischerei muss fortan angezeigt werden; der Handel mit Giftstoffen wird streng reguliert und zentralisiert; ihr Weiterverkauf wird verboten; auch der erlaubte Besitz giftiger Tiere wird begrenzt; alchimistische Labore sind nun genehmigungspflichtig und für Brennereien gelten strengere Vorschriften. Allein dieser eine juristische Intertext macht ein gutes Sechstel des Umfangs der Brinvilliers-Erzählung aus. Doch welches Interesse besteht bei seiner Vergegenständlichung in einer Pitavalgeschichte?

Sind dies etwa „die Geheimnisse der Rechtsgelehrsamkeit“, die Gayot gemäß der Vorrede „offenbaren“ möchte (KW, 1, fol. *5rf.)? Das Edikt hat keinerlei direkten Bezug zum Brinvilliers-Fall. Zur Erzählgegenwart war es noch nicht geschrieben. Es besteht daher auch keine Möglichkeit, „die wahrhaften Bewegungsgründe“ zu erfahren, „welche die Richter zu diesem oder jenem endlichen Ausspruche bewogen, und angetrieben haben“ (KW, 1, fol. *8r.). Doch lässt sich der vergegenständlichte Text als realhistorischer Beleg einer in der Zwischenzeit veränderten Rechtslage und einer erleichterten Strafverfolgung lesen. Da der obrigkeitliche Erlass zur Gegenwart des Erzählens für das französische Publikum noch in Geltung ist, ermöglicht sein Zitat die alternativgeschichtliche Überlegung, ob auf dieser Grundlage Sainte-Croix und die Marquise überhaupt in der Lage gewesen wären, sich die giftigen Substanzen für ihre Mordtaten zu beschaffen.

Doch zeichnet die Brinvilliers-Geschichte schon bei Gayot ein erheblicher erzählerischer Überschuss aus, ohne den die breite Rezeptionsgeschichte kaum zu erklären wäre (vgl. den Anhang bei De Doncker 2017, 205–207). Zu denken ist hierbei etwa an das tragische Motiv, dass der Vater der Marquise den Geliebten seiner Tochter selbst in die Bastille sperren lässt, wo Sainte-Croix die Giftmischerei allererst erlernt (vgl. KW, 1, 333 f.). Auch die Tatsache, dass es die Marquise ist, die dem Vater die vergiftete Suppe reicht und hernach – ganz Meisterin der Verstellungskunst – als trauernde Waise bemitleidet wird, hat literarisches Potential (vgl. KW, 1, 335). Schließlich findet Sainte-Croix gegen den historischen Sachverhalt (vgl. Walch 2010, 13) einen poetisch gerechten Tod, wenn er sich beim Mischen gefährlicher Substanzen selbst vergiftet (vgl. KW, 1, 340 f.). Gerade das eher randständige Motiv des Lieutenant Desgrais, der sich als falscher Abt das Vertrauen der ins Kloster geflüchteten Marquise erschleicht und sie der Gerichtsbarkeit überliefert (vgl. KW, 1, 350 f.), wird gleich mehrfach literarisch aufgegriffen – etwa in Herrmann Hesses Die Verhaftung oder indirekt in E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi als Bedrohungskulisse einer Justiz, der alle Mittel recht sind. Es ist also nicht so, dass erst Richer die Rechtsfälle literarisch ausforme und sich Gayot auf rechtliche Fragen beschränken würde. Bereits die originale Fassung zielt sowohl auf rechtliche Information als auch auf belletristische Unterhaltung.

An dieser Stelle lohnt ein Blick auf das den Band abschließende Inhaltsverzeichnis (CV2, 1, 543–550; KW, 1, [509]–[512]). Die Kiesewetter-Übersetzung überschreibt diesen Paratext mit dem Zwischentitel „Verzeichnis der im ersten Theile vorkommenden Materien“ (KW, 1, [509]), was den französischen Terminus ‚table des matières‘ wiedergibt. Verzeichnet sind hier nun aber nicht nur die einzelnen Geschichten. Es handelt sich auch nicht um ein ‚Kapitularium‘, wie man es bei einigen literarischen Texten der Zeit findet und das die Überschriften von Einzelkapiteln verzeichnen würde. Eine solche Untergliederung gibt es bei Pitavalgeschichten gar nicht. Für die „Geschichte einer Giftmischerinn“ werden vier ‚Materien‘ aufgeführt: „Die Geschichte derselben wird erzählt“ (KW, 1, [512]) referiert auf die narrativ entfaltete Sachverhaltsfeststellung, den für ein breites Publikum belletristisch bearbeiteten ‚Geschichtsbericht‘. Die anderen drei Punkte verweisen auf die genuin juristisch interessanten Teile: auf die Frage nach der Zulässigkeit der Beichte als Beweismittel, auf das Endurteil des Prozesses und auf die königliche Verordnung zur Eindämmung von Giftmischerei und Zauberei.

Das Skandalon der Morde, die Flucht der Marquise, ihre Verhaftung, all das ist lediglich unter der ‚Geschichte derselben‘ subsummiert. Im Hinblick auf den Plot kann sich der Rezipient mithilfe dieses Verzeichnisses also nicht orientieren. Auffindbar sind dagegen gerade die für eine Prozessgeschichte neuralgischen Punkte Beweisführung, Urteil und Rechtsnorm. In der zweiten französischen Ausgabe von Cavelier finden sich zusätzlich zu den vier genannten Materien noch zehn weitere. Die Einträge verweisen auf Sainte-Croix’ Testament, zwei Mal auf die Beschreibung und die gutachterliche Untersuchung der bei ihm gefundenen Substanzen, auf die Liebesbriefe der Marquise, die Verurteilung eines Mittäters, die Verteidigung der Marquise und auf ein vom Verteidiger Nivelle angeführtes Beispiel des Umgangs mit dem verletzten Beichtgeheimnis. Gleich drei Einträge referieren auf die angehängten Geschichten anderer Giftmörderinnen. Die Morde der Brinvilliers, ihre Flucht und Verhaftung sind also auch hier ausgespart. Dafür sind das Prozessgeschehen und das vergegenständlichte Material deutlich differenzierter referenziert. Die besondere Prominenz der miterzählten Geschichten wertet dabei die Bedeutung des königlichen Edikts historisch auf. Denn vom alten Rom über Trufania bis zu Brinvilliers und Monvoisin erscheint das Phänomen der Giftmörderin als eine kriminelle Konstante. Der Erlass setzt dem scheinbar ein Ende, da Gayot keine weiteren Giftmordfälle berücksichtigt, die sich in der Zwischenzeit ereignet haben.

Bei den Einträgen zu den anderen Pitavalgeschichten bestätigt sich der Befund, dass es sich bei denjenigen Materien, die das Inhaltsverzeichnis aufschlüsselt, um genuin juristische handelt. Die erweiterte Cavelier-Ausgabe von 1735 enthält insgesamt 112 Einträge für alle sechs Geschichten zusammen. Übereinstimmend mit der Erstausgabe sind es in der Übersetzung immerhin 60. Für die folgende Einteilung lehne ich mich an die Typologie der Textsorten des Rechtswesens und der Justiz von Dietrich Busse an (2000, 669–675).

Das einzige Lemma, das auf einen Text verweist, der bei seiner ursprünglichen Verlautbarung normative Kraft hat, betrifft das bereits genannte königliche Edikt. Doch gleich 32 Lemmata (20 in der Übersetzung) referieren auf Äußerungen der Normtext-Auslegung, etwa wenn darauf verwiesen wird, dass bei Edelleuten die Todesstrafe in der Regel durch Enthauptung zu vollziehen ist oder dass bei nächtlichen Verbrechen Mutmaßungen wie Beweise zu behandeln sind. Weitere 13 (bzw. 8) Lemmata verweisen auf die Verkündung von Urteilen und damit auf eine Textsorte der Rechtsprechung, während 15 (13) verschiedene Textsorten des Rechtsfindungsverfahrens betreffen. Dabei handelt es sich um Formen der gerichtlichen Rede wie Plädoyers oder Repliken. Hinzu treten 11 (5) weitere Einträge, die nur auf einzelne Stellen solcher Textsorten verweisen, sei es inhaltlich im Hinblick auf die Beweisführung, sei es, um rhetorisch besonders gelungene Stellen auszuweisen.Footnote 8 In Busses Kategorie der Textsorten der Rechtsbeanspruchung und -behauptung fallen die beiden Verweise auf eine Klage sowie ein Testament (beide fehlen im Deutschen). Die restlichen 5 (1) Lemmata, die auf genuin juristische Textsorten verweisen, sind dem Bereich der juristischen Ausbildung zuzuordnen. Neben der Angabe der Anforderungen an einen guten Juristen geht es um die Ausdeutung eines Urteils sowie mehrfach um die würdigende Erinnerung an berühmte Fachkollegen. Gutachten – wie jene zu den chemischen Substanzen im Brinvilliers-Prozess (2 bzw. 0 Einträge) – zählt Busse nicht zu juristischen Textsorten im engeren Sinn, behandelt sie aber mit, insofern sie „in juristischen Kontexten involviert sein können“ (Busse 2000, 668).

81 von 112 Lemmata in der zweiten Cavelier-Ausgabe (48 von 60 bei Kiesewetter) verweisen damit intratextuell auf Textstellen, an denen juristische Textsorten oder Teile von ihnen vergegenständlicht sind. Die restlichen Einträge referenzieren die Anfänge der Pitavalgeschichten (7 bzw. 6), die intertextuelle Integration verwandter Fälle, anderer Geschichten oder Abhandlungen (12 bzw. 2) oder schließlich markante Stellen der Handlung, inklusive des Prozessverlaufs, also das, was man im narratologischen Verständnis als ‚Plot‘ bezeichnen könnte (12 bzw. 4). Neben dem alternativen Titelblatt und der Eingangsfrage der Brinvilliers-Erzählung erweist damit auch die Analyse des Materienverzeichnisses, dass die Verleger der frühen Fassungen juristisch interessierte Leser zum intendierten Publikum rechnen und ihren Lektürebedürfnissen entgegenkommen.

3 Textsorten des Rechtswesens und der Justiz in Pitavalgeschichten

Wenn Gayot de Pitaval mit den Causes célèbres die juristische Textsorte der ‚Relation‘ aufgreift und literarisiert, bedeutet dies den Wegfall des konkreten Orts innerhalb der Praxis des Rechtsfindungsprozesses. Selbst wenn es keinerlei Veränderungen der Form gäbe, würde dies neue Textfunktionen der Gattung (und der in ihr vergegenständlichten Aktenstücke) bedingen. Im Zentrum seiner Adaption steht das Vergnügen der Rezipienten, die Unterhaltungsfunktion. Gayots Ideal ist „un plaisir pur“, für das Wahres und Wunderbares in einer Erzählung vereint sein müssen (CV2, 1, v; vgl. dazu Speth 2022). Ein solches Vergnügen sei nur möglich, wenn die Neugier der Leserinnen und Leser gereizt wird, ohne dass sich ein natürlicher Widerwille einstelle.Footnote 9 Eine Reaktion, die sich beim Lesen eines Romans einstelle, sobald das Erzählte als Fiktion erkannt wird. Die historisch-faktischen Prozesse und ihre Akten erscheinen hier als das am besten geeignete Material. Daneben gewährt Gayot seinen Adressaten exklusive Einblicke in Abläufe und Funktionsweisen des weltlichen Inquisitionsprozesses, welcher der öffentlichen Anschauung ansonsten entzogen ist. Auch bei einem Publikum, das sich am Anfang eines juristischen Studiums befindet, kann er auf ein Interesse rechnen, wenn er die Beweggründe vorstellt, die für einen Richter beziehungsweise für ein Spruchkollegium in einem konkreten Fall entscheidungsleitend gewesen sind.Footnote 10 Zudem erkennen die juristischen Rezipienten den Aufbau einer Relation wieder und sehen sich bei der Rezeption von Pitavalgeschichten in die Position des Urteilers versetzt. So gesehen kann die neue Gattung im Ganzen für eine Teilmenge des intendierten Publikums als Textsorte der juristischen Ausbildung verstanden werden, die über eine bloße Urteilssammlung hinausweist (zu dieser Oberklasse vgl. Busse 2000, 663 und 674 f.). Gayots Sammlung bietet Anschauungsmaterial zu historischen Gerichtsverfahren samt deren Kommentierung, Mustertexte anwaltlichen Schreibens, exemplarische Erörterungen von Spezialfragen, Begriffsexplikationen, Informationen über berühmte Anwälte, ihre geführten Prozesse und hinterlassene Werke und vor allem das, was Martha Nussbaum zur curricularen Grundlage von ‚Poetic Judging‘ erklärt (Nussbaum 1995, 99–118). Demnach fälle ein „literary jugde“ auf der Basis literarischer Milieustudien gerechtere Urteile, da er oder sie nach identifikatorischer Lektüre einschlägiger Werke die Motivationen von Delinquenten besser verstehen und einen Fall daher empathisch einschätzen könne (vgl. Nussbaum 1995, 86–99, das Zitat, 86).Footnote 11

Beim Prozess der Vergegenständlichung der Gerichtsverhandlungen in den Pitavalgeschichten ließe sich nun für jeden einzelnen Intertext die ursprüngliche mit derjenigen Textfunktion vergleichen, die das Material im neuen Erzählzusammenhang erfüllt. Schließlich bleibt ein vergegenständlichtes Urteil kein Urteil und ein vergegenständlichtes Edikt kein Edikt. Denn weder hat dieses als Teil einer Geschichte noch normative Kraft, noch spricht jenes länger Recht über einen in der Wirklichkeit Beschuldigten. Eingedenk eines heterogenen intendierten Publikums von belletristisch interessierten Laien und Fachjuristen sind die neuen Funktionen im Hinblick auf die jeweils intendierten Rezeptionsweisen zu differenzieren.

Ich orientiere mich im Folgenden wie oben an Busses Typologisierung (vgl. 2000).Footnote 12 Er unterscheidet normative Rechtstexte (I), Texte der Normtextauslegung (II), der Rechtsprechung (III), des Rechtsfindungsverfahrens (IV), der Rechtsbeanspruchung und -behauptung (V), des Rechtsvollzugs und der -durchsetzung (VI); des Vertragswesens (VII), der Beurkundung (VIII) und der juristischen Ausbildung (IX). Es ist zu beachten, dass die oben analysierten Einträge in den Inhaltsverzeichnissen nicht alle auf Texte verweisen, die in vollem Umfang oder zumindest in textsortenkonstituierenden Teilen vergegenständlicht werden. Viele beziehen sich nur auf einzelne Formulierungen (etwa von Rechtsgrundsätzen im Bereich der Normtext-Auslegung oder aus Verhörprotokollen). Umgekehrt sind nicht alle Intertexte auch in den Inhaltsverzeichnissen referenziert.

Normtexte in Recht und Justizwesen (I) (Busse 2000, 669 f.) verlieren bei der Vergegenständlichung gerade das, was sie als Textsorte ausmacht, nämlich ihre verbindliche Geltung. Zwar können entsprechende Gesetze und Vorschriften noch zur Erzähl- oder sogar zur Rezeptionsgegenwart in der von Gayot zitierten Form in Kraft sein beziehungsweise in der juristischen Praxis Anwendung finden, doch geschieht dies unabhängig von ihrer Zitierung. Typographisch sind die entsprechenden Stellen, die etwa aus dem „Corpus Juris Civilis“ (CV2, 1, 327) oder den Ordonnanzen von 1303, 1539 sowie von 1670 entnommen sind (CV2, 1, 486 f.), durch Kursivschrift gekennzeichnet, da sie Gayot wörtlich (oder in wörtlicher ÜbersetzungFootnote 13) vergegenständlicht. Die justinianische Verordnung aus dem Kapitel „De nuptiis“ (CV2, 1, 327) regelt als Normtext beispielsweise, dass ein Kind auch dann als das eigene anerkannt werden solle, wenn zwar Urkunden fehlen, es aber mit dem Wissen der Nachbarn in dem entsprechenden Haushalt aufgewachsen ist. Der Ort, an dem sie hier angeführt wird, sind die „Moyens des Dames de Ventadour & du Lude“ (CV2, 1, 298–336) in der Geschichte von S. Geran. Der Partei dieser Damen ist es nun darum zu tun, dass die Rechtsnorm im anliegenden Fall gerade nicht angewandt werden könne, da der strittige Erbe Bernard nicht im Hause seiner vermeintlichen Eltern aufwuchs. Für die Vergegenständlichung dieses Textes innerhalb der Pitavalgeschichte ist wiederum zu beachten, dass die Rezipienten aufgrund der Geschichtserzählung bereits die wahren Zusammenhänge einschließlich der Entführung des Neugeborenen kennen. Die verzweifelten Versuche, Bernards Identität trotz des perfiden Verbrechens zu erweisen, wecken eine emotionale Anteilnahme der Rezipienten, die umso größer ist, je ausgefeilter die Winkelzüge der Gegenpartei ausfallen, welche die Erbfolge zu ihren Gunsten verändern möchte.

Auch um die Umstände der fehlenden Geburtsurkunde beziehungsweise – historisch korrekt formuliert – die Umstände eines lückenhaften Eintrags im kirchlichen Taufregister (Textsorte der Beurkundung, VIII) wissen die Leser. Hat ein solcher Eintrag tatsächlich die Funktion, die Daten rund um das Sakrament der Taufe kirchenamtlich zu dokumentieren, verhält es sich im vorliegenden Fall wiederum entgegengesetzt und die Funktion der Vergegenständlichung liegt auf einer narrativen Metaebene: Um das geraubte Baby taufen zu lassen, ohne dass die Eltern etwas von seinem Verbleib erfahren, ist es notwendig, die wahre Abkunft zu verschleiern. Diesen Umstand erklärt Gayots Erzähler und nennt die Namen der Paten sowie den Taufnamen des Kindes. Die Namen der Eltern, die im Kirchenregister einzutragen wären, und die der Rezipient bereits kennt, seien dagegen verheimlicht worden („en celant le pere & la mere“, CV2, 1, 196). Inhaltlich ist es repetitiv, wenn im folgenden Absatz mit deiktischem Gestus auf den entsprechenden amtlichen Eintrag verwiesen wird („Voici comment le Régistre fut figuré“, CV2, 1, 196). Doch fingiert das in Kursivschrift vergegenständlichte – und damit als wörtliches Zitat ausgewiesene – Dokument Evidenz. Der Rezipient kann sich von der Art und Weise der Vertuschung vermeintlich selbst überzeugen. Die mit krimineller Energie herbeigeführten Leerstellen werden sichtbar: „Le septiéme jour de Mars 1642. a été baptisé Bernard, fils de ….. & de ….. le Parrein, Maur Marmion gagne denier & Serviteur de cette Eglise, & la Marreine Jeanne Chevalier, veuve de Pierre Thibou.“ (CV2, 1, 196).

Ebenfalls wörtlich zitiert Gayot Textsorten aus dem Bereich der Rechtsprechung (III). Nach Busse zeichnen sich diese durch die Funktion aus, Recht zu setzen (vgl. 2000, 671 f.). So erfährt der Rezipient im Hinblick auf die Endurteile in den berühmten Prozessen, dass der falsche Martin Guerre als Betrüger verurteilt und wie sein Nachlass geregelt wurde (CV2, 1, 43–45), dass der Bettler von Vernon der rechtmäßige Vater von Louis Monroußeau war (CV2, 1, 163 f.), dass Bernard als leibliches Kind des Marschalls von S. Geran letztlich unter Aufhebung aller vorigen Entscheidungen dessen Erbe antreten konnte, die falsche Ziehmutter hingegen gehängt werden sollte (CV2, 1, 336–338), dass die Vater- und Brudermörderin Marquise de Brinvilliers samt ihrem Helfer la Chaussée zum Tode verurteilt wurde (CV2, 1, 361 und 389–392) sowie dass die Ehre des fälschlich beschuldigten Ehepaars d’Anglade wiederhergestellt und der Ankläger der nun verwitweten Frau zur Schadloshaltung verurteilt wurde (CV2, 1, 536–540). Welche Funktionen aber haben diese Arrêts, wenn Gayot sie in seinen Geschichten vergegenständlicht?

Aus juristischer Perspektive kann man Generalprävention als Zweck öffentlich vollzogener Strafen ansehen. Die Anwesenden bei einer Hinrichtung werden nach dieser Vorstellung abgeschreckt, ebenfalls straffällig zu werden. Die Erzählung vom grausamen Vollzug der Urteile in allen blutigen Einzelheiten könnte daher ebenfalls eine generalpräventive Funktion erfüllen. Doch endet Gayots Erzählinteresse in der Regel mit der Verkündigung des Urteils. Zwar sind auch die richterlichen Anordnungen konkret genug, um auf den Rezipienten zu wirken, doch bleiben erzählerische Möglichkeiten in einem Ausmaß ungenutzt, als Gayots Intention woanders zu suchen ist. Meines Erachtens geht es ihm weniger um Abschreckung vor etwaigen Taten, sondern um Vertrauen in die Justiz, die letztlich Gerechtigkeit zu garantieren hat und bei korrekter Ausübung auch garantiert. Selbst wenn das System anfällig ist für Fehler und etwa der unschuldig zu einer Galeerenstrafe verurteilte Herr von Anglade noch vor Antritt seiner Strafe in Haft verstirbt, werden er und seine Frau öffentlich rehabilitiert, ihre Namen aus den Listen der Gefängnisse gestrichen und die Höhe der angemessenen Entschädigung auf Livre, Sol und Denier genau angegeben (CV2, 1, 537). Und wenn andernorts wie in der „Histoire de Frillet“ mit dem gleichnamigen Staatsanwalt ein korrumpierter Teil versucht, das Rechtssystem von innen heraus zu missbrauchen, kommt den Advokaten des Ancien Régime der göttliche Beistand zur Hilfe und stellt die Gerechtigkeit providentiell wieder her.Footnote 14 Gayot vertraut in den französischen Rechtsstaat und gerade auch die angehenden Juristen unter seinen Rezipienten sollen es ihm gleich tun. Die wörtlich zitierten Urteilssprüche werden dabei als Garant der Gerechtigkeit mythisch überhöht, wenn Gayot ihre Urheber in seinem programmatischen Vorwort als „les Oracles“ bezeichnet (CV2, 1, ix). Für belletristisch interessierte Laien, die den Akt der Subsumtion des erzählten Falls unter die Normen des Rechts nicht im Einzelnen nachvollziehen können, deuten die zitierten Urteilssprüche indes das erzählte Geschehen auktorial.

Ferner markiert Gayot innerhalb der Geschichte der Marquise de Brinvilliers das Testament ihres Geliebten Sainte-Croix als wörtliches Zitat (CV2, 1, 351 f.). Es handelt sich um ein Beispiel für eine Textsorte der Rechtsbeanspruchung und -behauptung (V; vgl. Busse 2000, 672 f.). Der Letzte Wille des während der Herstellung von Giftstoffen poetisch gerecht verstorbenen Mörders kann zum Rezeptionszeitpunkt nicht mehr erfüllt werden. Die neue Funktion des vergegenständlichten Textmaterials besteht in einem Beitrag zur Zeichnung dieser Verbrecherfigur. Denn analog zu seiner pathognomonischen Verstellungskunst gibt sich der Giftmörder in diesem persönlichen Schriftstück als gottesfürchtiger und gewissensreiner Christ aus. Im Erzählzusammenhang dokumentiert das Zitat das Ausmaß seiner Camouflage.

Anders als mit den ‚Orakelsprüchen‘ der Urteile und Sainte-Croix’ Testament verfährt Gayot mit den Texten des Rechtsfindungsverfahrens (IV; vgl. Busse 2000, 672). An die Stelle des wörtlichen Zitats tritt hier ein erhebliches Maß an Bearbeitungsfreiheit. Im Zentrum stehen die Plädoyers, sie nehmen breiten Raum innerhalb der Pitavalgeschichten ein. Nicht nur, dass Gayot diese Schriften dem Publikumsgeschmack anpasst (vgl. CV2, 1, viij–xj). Im Vorwort zum dritten Band gibt er tiefere Einblicke in seine Arbeitsweise hinsichtlich dieser Oberklasse des zu vergegenständlichenden Materials. Sind die Schriften schlecht geschrieben („mal écrits“), so gieße er sie vollkommen um („je les refonds entierement“, CV2, 3, v).Footnote 15 Schließlich fiele das Schlechte in den Augen der Rezipienten auf ihn als den Verfasser der Sammlung zurück (vgl. CV2, 3, vf.) – und dies gilt sowohl für Verfehlungen im Bereich der literarischen Ästhetik als auch der anwaltlichen Argumentation.

Ein Beispiel, wie groß die Freiheiten sind, die sich Gayot in diesem Bereich herausnimmt, ist das „Plaidoyer de Renée Corbeau“ in der Geschichte „Fille qui par son eloquence empêche l’exécution d’un Arrêt qui condamnoit à mort son Amant“. In der Vorrede des Bandes fingiert Gayot einen Einwand dagegen, dass er Renées Gerichtsrede geschönt habe („On me soupçonnera d’avoir embelli le Plaidoyer“, CV2, 1, x). Dem hält er entgegen, dass er „le fonds des raisons“ in seiner Quelle, der 125. Frage von Julien Peleus, gefunden habe (CV2, 1, x). Er verweist damit auf Les Questions illustres, in welchem Werk Peleus am Anfang des 17. Jahrhunderts Fälle sammelt, die am Parlement de Paris entschieden worden sind.

Der Fall dieser Pitavalgeschichte, bei der es sich aufgrund ihrer Kürze eher um eine Schwundstufe handelt (vgl. CV2, 1, 52–63), ist schnell erzählt: Ein nicht genannter Edelmann verspricht seiner schwangeren Geliebten Renée die Ehe. Durch Intervention seines Vaters legt der Edelmann ein priesterliches Gelübde ab, um eine Heirat unmöglich zu machen. Ein Gericht verurteilt ihn wegen betrügerischer Indienstnahme der Religion zum Tode. Während er zum Galgen geführt wird, wirkt Renée mit ihrem Plädoyer erfolgreich auf die Richter ein. Gegenüber seiner Quelle verfünffacht Gayot die Länge von Renée Corbeaus gerichtlicher Rede fast (vgl. Peleus 1606, 708, und CV2, 1, 57–62). Doch wichtiger als die rein quantitative Ausdehnung sind seine formale und inhaltliche Bearbeitung. Peleus berichtet nur indirekt von Renées Auftritt. Nüchtern fasst er zusammen, dass sie sich die Mitschuld zusprach, da sie dem Geliebten ihre Gunst selbst erwiesen habe. Außerdem habe sie an die Richter appelliert, Mitleid mit der Jugend zu haben, und darauf hingewiesen, dass ihr Geliebter mit Zustimmung des römischen Legaten noch immer von seinem Gelübde entpflichtet und dadurch gerettet werden könne.

Gayots wichtigster Eingriff besteht darin, dass er die berichtete Rede in die direkte Ich-Form überführt. Renée spricht, was in der mündlichen Hauptverhandlung aufgrund der persönlichen Anwesenheit der Beteiligten theoretisch möglich wäre, selbst mit den Richtern. Doch ist sie keine Anwältin – Gayot lässt sie sich selbst als „une fille très ignorante“ charakterisieren (CV2, 1, 60) – und ein Protokoll ihres Auftretens ist in der vorliegenden Form nachgerade unwahrscheinlich. Von Peleus übernimmt Gayot Renées Appell an das Mitleid der Richter, die ihr ins Herz blicken und nach „les loix de l’amour“ richten sollen (CV2, 1, 58). Schließlich seien auch sie Menschen, noch bevor sie Richter sind, und müssten aus eigener Erfahrung wissen, was Freundschaft und Liebe bedeuten (vgl. CV2, 1, 62). Die Schuld am Tod des Geliebten zu tragen, vergälle ihr als einer Liebenden das Leben. Allerdings verwebt Gayot den Mitleidsdiskurs mit rechtsphilosophischen Erwägungen. Wünscht sie bei Peleus den Tod, da sie die gleiche Schuld treffe wie ihren Geliebten, zeigt sie bei Gayot auf, dass eine alleinige Verurteilung des Geliebten ihr selbst ungerechtfertigt zur Schmach gereiche. Die Ungerechtigkeit bestehe darin, dass sie – als in der Logik des Urteils Unschuldige – indirekt eine Ehrenstrafe erleide. Das verstoße gegen die „équité“, die richterliche Billigkeit (CV2, 1, 58). Davon abgesehen sei sie gar nicht das unschuldige Opfer, sondern über Peleus hinausgehend die eigentliche Täterin, da sie den Geliebten verführt habe. Theologisch hätte es nahegelegen, dass Gayot Renée zur altera Eva stilisiert. Er lässt sie die Logik der Rechtsidee jedoch weiterdenken: „[S]i la justice demande une victime, c’est moi qui la dois être“ (CV2, 1, 59). Der dieser Vorstellung zugrunde liegende Zwang, einen Täter identifizieren und bestrafen zu müssen, entspricht der Maxime Nullum crimen sine poena. Aus Renées Perspektive besteht gar kein notwendiger Zusammenhang, aber wenn es die rechtliche Konvention vorsieht, dann solle die auszusprechende Strafe an ihr vollzogen werden.Footnote 16

Dabei liege die Urheberschaft für das eigentliche Verbrechen allein bei ihrem Schwiegervater, der aus rein weltlichen Motiven seinen Sohn zum Ordenseintritt drängte. Durch diesen Druck auf den Geliebten sei dessen Tat nicht willentlich erfolgt („il n’a pas agi librement & volontairement“, denn „[u]ne volonté tyrannisée n’est pas volonté“, CV2, 1, 59). Wäre er frei in seinen Handlungsmöglichkeiten, würde er sie heiraten und die strafwürdige Verbindung damit rechtsgemäß machen. Dass zum einen die Veranlassung zu einer strafbaren Handlung selbst strafbar ist und zum anderen die Freiheit oder Unfreiheit der Willensentscheidung Auswirkung auf die Strafbarkeit haben, sind rechtsphilosophische Probleme, deren Erörterung den studierten Juristen als Verfasser von Renées vermeintlich authentischem Plädoyer verraten. Hätte Gayot die Verteidigung der Angeklagten (oder ihres Geliebten) im historisch faktischen Prozess übernommen, würde sich sein schriftliches Plädoyer wohl recht ähnlich ausgenommen haben. Der Akt der Vergegenständlichung innerhalb der Pitavalgeschichte liegt nun darin, dass er die eigentlich anwaltlich verfasste Textsorte, die ihren Sitz im schriftlichen Inquisitionsprozess hat, als wörtliche Ich-Rede Renées im Angesicht des Gerichts fingiert. Der stilus judicale eines anwaltlichen Plädoyers wird emotional aufgeladen und literarisiert. Zugleich ist die Figurenrede auf der Handlungsebene von jenen Rechtsdiskursen durchdrungen, die nur auf den juristisch gebildeten Erzähler zurückgehen können. So findet bereits textintern ein Prozess gegenseitiger Vergegenständlichung von Recht und Literatur statt.

Die frühen französischen Ausgaben des ersten Bandes verwenden Marginalien,Footnote 17 um die vergegenständlichten Textsorten aus dem Bereich des Rechtswesens und der Justiz zu kennzeichnen. Anders als die Arrêts aus Busses Oberklasse der Rechtsprechung (III) handelt es sich bei den verschiedenen Vertretern von Textsorten aus der Oberklasse des Rechtsfindungsverfahrens (IV) um freie Paraphrasen. Sie erwecken nur den Anschein von Authentizität. Allerdings macht Gayot sein Verfahren im Vorwort explizit und die Verleger setzen die verschiedenen Formen des Umgangs mit wörtlich zitiertem oder bloß fingierten juristischen Textsorten typographisch korrekt um. Die Lizenz, frei mit seinem Material zu verfahren, erlangt Gayot durch den Gattungswechsel von der juristischen Relation zur literarischen Pitavalgeschichte und dem damit verbundenen Wandel der Textfunktionen auch der vergegenständlichten Textteile. Trotzdem bleibt er bei Normtexten (I) und Texten der Rechtsprechung (III) seinem Material verpflichtet.

In der ersten deutschen Übersetzung des Kiesewetter-Verlags sind die entsprechenden Marginalien durch Zwischentitel ersetzt.Footnote 18 Die deutschen Entsprechungen zu den französischen Textsortenbezeichnungen lauten: „Gerichtliche Rede“ (KW, 1, 58, 95, 123, 141, 165, 214, 241) oder nur „Rede“ (KW, 1, 136, 237), „Vertheidigung“ (KW, 1, 353) und „Schutzschrift“ (KW, 1, 290), „Gründe“ (KW, 1, 23), „Beweise“ (KW, 1, 259 und 424), „Antwort“ (KW, 1, 34) und „Der letzte Wille“ (KW, 1, 340). Während das Gros der Versatzstücke aus der Oberklasse IV auch im Deutschen als vergegenständlichtes Material ausgewiesen ist, trifft dies nur auf zwei Beispiele aus dem Bereich III zu, nämlich für das „Endurtheil“ in der Brinvilliers-Geschichte (KW, 1, 372) und das „Decisivurtheil“ im Fall d’Anglade (KW, 1, 502). Typographisch lässt sich zwar begründen, dass die Markierung der paraphrasiert vergegenständlichten Textsorten dringender ist, da die Urteile durch Fettdruck (als Entsprechung zur Kursivschrift im Französischen) ohnehin bereits ausgezeichnet sind. Dennoch verlagert sich durch die Verwendung der Zwischentitel rein optisch das Gewicht weiter auf den auch vom Umfang her deutlich gewichtigeren agonalen Teil der Gerichtsverfahren und weg von deren auktorialen Entscheidung durch das historische Gericht.

4 Richer- und Schiller-Ausgaben im Prozess der Vergegenständlichung

Rund vierzig Jahre nach Gayot bearbeitet François Richer die Sammlung und fügt eigene Pitavalgeschichten hinzu (Amsterdam 1772–1778, 22 Bände). Gleich zwei Mal wird seine Fassung in Auswahl ins Deutsche übersetzt: 1782–1792 von Carl Wilhelm Franz (4 Bände) und 1792–1795 von Friedrich Immanuel Niethammer und anderen unter der Herausgeberschaft Friedrich Schillers (4 Bände). Für die deutsche Literaturgeschichte gelten die Schiller’sche Ausgabe als Scharnierstelle und die unter seinem Namen geführte Übersetzung als der eigentliche ‚Pitaval‘ (vgl. Behrens und Zelle 2020, 220 und 315). Ausgehend von Schillers programmatischer Vorrede erkennt Neumeyer ein erhöhtes Interesse am psychologischen Gehalt der erzählten Rechtsfälle (vgl. 2006, 103–111 und 119–123). Schiller reagiert damit auf die Strafrechtsreform am Ende des 18. Jahrhunderts (vgl. Neumeyer 2006, 108 f.) mit ihrem Übergang vom Tat- zum Täterstrafrecht unter Berücksichtigung der Zurechnungsfähigkeit (vgl. Greve 2004, 23–27, 209–341 und 411–429). Darüber hinaus sieht Siebenpfeiffer am Beispiel der Brinvilliers-Geschichte eine Tendenz zur Literarisierung, indem sich das Verhältnis von narratio und argumentatio zum Erzählerischen hin verschiebe (vgl. 2015, 177–178).

Mithilfe meines oben entwickelten Ansatzes einer Verbindung von law in literature und material philology überprüfe ich, wie das juristische Material der Geschichten aus Gayots erstem Band in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vergegenständlicht wird. Dafür greife ich auf die Ausgaben bei Michel Rhey (für Richer) und Christian Heinrich Cunos Erben (für Schiller) zurück.Footnote 19 Anders als die Cavelier- und Kiesewetter-Ausgaben erfasst Rhey seine Pitavalgeschichten in einer table des pièces, die lediglich die Titel der enthaltenen Geschichten aufführt. Analog verfährt die Ausgabe von Cunos Erben und überschreibt das Verzeichnis maximal neutral mit „Inhalt des zweiten Bandes“ (CE, 2, [437]).Footnote 20 Die Werke sind damit nicht länger verlegerisch für einen nicht-linearen Zugriff durch einen juristisch interessierten Rezipienten aufbereitet. So überrascht nicht, dass auch der Brinvilliers-Fall in diesen Fassungen nicht mehr vorrangig wegen der Frage der Beweisführung interessiert. Der erste Satz führt die Protagonistin sowohl bei Richer als auch bei Schiller biographisch ein (vgl. RH, 1, 320; CE, 3, 3).

In beiden Ausgaben fehlt das oben besprochene königliche Edikt. Zwar erzählt auch Richer im Anhang seiner Fassung den Fall Monvoisin, das „l’Edit de Juillet 1682, pour la punition des maléfices, empoisonnemens, & autres crime de cette nature“ (RH, 1, 432) wird von ihm aber nur noch benannt. An die Stelle einer Vergegenständlichung des Rechtstextes selbst tritt ein bloß intertextueller Verweis. Zusammen mit dem Fall Monvoisin entfällt bei Schiller sogar dieser. Die Veränderung ist dabei durchaus konsequent. So betont Richer in seinem „Avertissement“, dass ihm besonders daran gelegen sei, die „curiosité“ des Lesers „jusqu’à la fin“ zu reizen (RH, 1, iv). Entsprechend macht in seiner Vorrede zum ersten Band auch Schiller deutlich, dass die Pitavalgeschichten vor allem spannend seien (vgl. CE, 1, fol. [*4]r). Seine Neuausgabe ziele anders als Franz nicht länger auf ein doppeltes Publikum aus Juristen und fachlichen Laien, sondern ganz „auf das größere Publikum“. Deswegen sei es „zweckwidrig“, „bei dem juristischen Theil dieselbe Ausführlichkeit beizubehalten“ (CE, 1, fol. [*4]r). Tatsächlich stammen viele Kürzungen, die in der germanistischen Forschung Schiller zugeschrieben werden, bereits von Richer. So oder so verschiebt sich mit dem intendierten Zielpublikum die Art und Weise der Vergegenständlichung juristischen Textmaterials.

Was Renée Corbeaus großes Plädoyer für ihren Geliebten anbetrifft, macht Richer Gayots markanteste Eingriffe wieder rückgängig: Obwohl er die inhaltliche Ausweitung gegenüber Peleus beibehält, ist die Rede wieder in die dritte Person versetzt (RH, 1, 45–47). Vor allem werden damit die juristischen Erörterungen in berichteter Rede wiedergegeben. So geht die Wortwahl auf den Erzähler zurück, der damit Renées Rede – ähnlich wie ein schriftliches Protokoll einer mündliche Aussage – in den stilus judicale überführt, ohne dass die Formulierungen länger der Stimmigkeit der Figurenzeichnung abträglich wären. Nur die kurze Textstelle mit Renées Selbstbeschuldigung, dass sie ihren Geliebten verführt habe, bleibt in Ich-Form. Gayots kunstvolle Verschränkung von Recht und Literatur ist dadurch zugunsten einer stimmigeren Erzählung zurückgenommen.

Das Testament des Giftmischers Sainte-Croix ist bei Rhey als ein wörtliches Zitat kursiv gesetzt. Der Erzähler führt den vergegenständlichten Text als „la copie“ des bei der Leiche gefundenen authentischen Schreibens ein (RH, 1, 339). In der Schiller’schen Ausgabe ist Sainte-Croix’ Letzter Wille ebenfalls als Zitat markiert, wofür jede Textzeile mit einem Anführungszeichen beginnt. Jedoch wird die Passage nur noch als „ein Schreiben folgenden Inhalts“ (CE, 3, 24) bezeichnet. Gegenüber der ‚Kopie‘ bei Richer wird also der Authentizitätsmarker etwas zurückgenommen.

Der Eintrag der Taufe Bernards ins Kirchenregister – bei Richer ein „extrait baptistaire“ (RH, 1, 142), bei Schiller ein „Taufschein“ (CE, 1, 239) – ist von Rhey beziehungsweise Cunos Erben ebenfalls als wörtliches Zitat ausgewiesen. Die Schiller-Ausgabe verwendet sogar zusätzlich zu den Anführungszeichen Sperrdruck. Macht Gayot anhand dieses Dokuments das Verbrechen an der Familie S. Geran mit einem deiktischen Gestus evident, betonen Richer und Schiller dagegen, dass der Eintrag auf Bernard „so gut wie auf jedes andre Kind“ passen würde (CE, 1, 239). Insbesondere machen sie auf den ungewöhnlich großen zeitlichen Abstand von Geburt und Taufe aufmerksam. Trotzdem habe die Urkunde im Zusammenspiel mit weiteren Indizien hingereicht, um die gerichtlichen Nachforschungen fortzusetzen. Damit interessiert der Taufschein bei Richer und Schiller weniger als authentisches Material an sich. Stattdessen geht es auch hier um die Einpassung des Dokuments in den Erzählverlauf.

Von einer konsequenten ‚Literarisierung‘ unter Wegfall der juristischen Diskurse kann aber keine Rede sein. So wird etwa die oben angeführte Verordnung Justinians weiterhin direkt zitiert mit der wörtlichen Wiedergabe des lateinischen Originals in den Fußnoten (RH, 1, 194 f.; CE, 1, 291 f.). Einen Grenzfall in Bezug auf die Beibehaltung des Juridischen stellen die Ausführungen zu Erbschaftsfragen bei lebenden Personen anhand der römischen Gesetze dar. Die entsprechende Fußnote nimmt in beiden Drucken jeweils etwa 100 Textzeilen ein (vgl. RH, 1, 146–149; CE, 1, 243–245). Im Abgleich mit Gayots Vorlagentext stellt man fest, dass es sich hierbei sogar um eine Zutat Richers handelt. Selbst die lateinischen Zitate aus dem Corpus Juris (aus den Kapiteln „De inutilibus stipulationibus“ und „Ad legem Corneliam de falsis“) finden sich erstmals in seiner Fassung.

In keinem der untersuchten Texte heben Michel Rhey oder Cunos Erben Aktenstücke durch Marginalien oder Zwischenüberschriften vom Haupttext ab. So versuchen sie die immer noch vorhandene Hybridität der Pitavalgeschichten typographisch auszugleichen. Jedoch gibt es verschiedene Auszeichnungsformen für die Übernahme von Intertexten. Anführungszeichen jeweils am Beginn einer Textzeile verwendet Rhey etwa für das Endurteil im Fall d’Anglade (RH, 3, 106–110), eine Aussage in der Erzählung um S. Geran (RH, 1, 221 f.), aber auch für alle in die Brinvilliers-Geschichte eingeschalteten Briefe der Marquise de Sévigne (RH, 1, 331, 337, 362 f., 412–416 und 421 f.). Dazu treten Figurenreden, die Argumentation eines Richters und Schlussfolgerungen der Verteidigung. Es handelt sich damit nicht nur um verschiedene juristische Textsorten, sondern auch um nicht-juristische Intertexte sowie um Redeanteile, die in Erzählung überführt sind. Umgekehrt werden die gleichen Zitatformen an anderen Stellen durch Kursivschrift gekennzeichnet: Figurenrede und amtliche Aussagen, Auszüge aus Prozessprotokollen, Urteilssprüchen, Testamenten, Registern und Gesetzestexten, die Liste giftiger Substanzen in der Brinvilliers-Geschichte und ein ärztlicher Bericht über dieselben sowie ein Zeitungsartikel. Lediglich Zitate aus der Fachliteratur sind bei Rhey ausschließlich kursiv gesetzt.

Obwohl auch in der Schiller-Ausgabe bei Cunos Erben auf eine eigentliche Absetzung der vergegenständlichten Textsorten verzichtet wird, gibt es doch erhebliche Unterschiede zur Ausgabe von Rhey. Denn vor allem in großen Teilen der Geschichten über die Marquise de Brinvilliers (CE, 3, 56–83) und über das Ehepaar d’Anglade (CE, 2, 331–388) bleibt kaum ein Absatz ohne An- und Abführungszeichen. So sind die Verteidigungsreden, die an der d’Anglade-Stelle aneinandergereiht sind (CE, 2, 331–384) nur durch knappe Überleitungen des Erzählers unter Einschluss eines ebenfalls durch einfache An- und Abführung markierten Auszugs aus einem Foltergeständnis unterbrochen. Durch Zitatzeichen am jeweiligen Beginn einer Textzeile sind dabei ebenso ein angeführter Gesetzestext (CE, 2, 377) als auch das Endurteil des Prozesses markiert (CE, 2, 384–388). Es findet sich also durchaus auch hier die auf Gayot zurückgehende Differenzierung beim Umgang mit Texten der Oberklassen I und III (wörtlich zitierte Normtexte und Textsorten der Rechtsprechung) auf der einen und der Oberklasse IV (nur indirekt wiedergegebene Textsorten des Rechtsfindungsverfahrens). Allerdings ist durch den Wegfall des paratextuellen Hinweises auf die eigene Bearbeitungsleistung nicht länger deutlich, dass es sich bei den Absatz für Absatz mit Zitatzeichen gerahmten Schriften nicht um authentisches Aktenmaterial handelt. Der in der Richer-Ausgabe erzielte Erzählfluss wird dabei gleichzeitig irritiert, da dem Rezipienten stets suggeriert wird, dass es sich um die Montage vergegenständlichter Fremdtexte handle.

5 Fazit zur Theorie des Prozesses der Vergegenständlichung von Recht in Literatur am Beispiel der Causes célèbres

Für Jean Sgard, der einen engen und vor allem einen emphatischen ‚Literatur‘-Begriff an Gayots Werk anlegt, sind die Causes célèbres keine Literatur (vgl. Sgard 1974, alle Zitate 469 f.). Gerade Gayots programmatische Hinwendung zur „l’histoire vraie“, zu „la matérialités des faits et les attendus du jugement“ ist seiner Einschätzung der ‚Literarizität‘ abträglich. Da „le fait et le sens“ vorgegeben seien, bleibe kein Raum für eine eigene literarische Leistung. Während Gayot „un bon chroniqueur“ hätte abgeben können, seien die Pitavalgeschichten nur „un matériel“ für ‚Literaten‘ im für Sgard eigentlichen Sinn. Demgegenüber hat es sich aber gezeigt, dass die inhaltliche Vergegenständlichung des authentischen Aktenmaterials gerade bei Textsorten des Rechtsfindungsverfahrens durchaus großen Spielraum für Gayots literarisches Wirken im engeren Sinne bietet. Erinnert sei an Renée Corbeaus Plädoyer. Die Urteile sind historisch vorgegeben und werden in den Causes célèbres wörtlich übernommen, doch der Weg dorthin ist ja gerade das erzählerische Ziel der neuen Gattung.

Schon die neuen Textfunktionen und intendierten Rezeptionsweisen gegenüber der juristischen Textsorte der Relation bedingen eine Transformation von Recht zu etwas Neuem, das nicht anders als ‚Literatur‘ genannt werden kann. Eine aus dem Kontext der Aktenversendung gelöste und einem literarischen Publikum überantwortete Relation könnte durchaus als ‚readymade‘ angesehen werden. Dafür bedürfte es gar nicht der Änderung der Form durch stringente Narrativierung oder der von Sgard vermissten psychologischen Durchdringung der Protagonisten. Dass ein psychologisches Interesse an den Delinquenten schon bald im Anschluss an Gayots Fassung erwacht, hat weniger mit dem Willen zu tun, die ‚Literarizität‘ zu erhöhen, als mit Veränderungen in der Rechtstheorie und -praxis. Der Fokus liegt im reformierten Strafrecht nicht länger auf der gottgewollten Sühne für eine Tat teilweise unter physischer Ausmerzung des Täters, sondern auf dem Verständnis für die Motive unter Berücksichtigung des jeweiligen Grades der Zurechnung. Dies ist ein Prozess, an dem Recht und Literatur sich gegenseitig beeinflussen.

Darüber hinaus ist der Beitrag der Überlieferungsbeteiligten zu berücksichtigen, das, was Gayots Text zum Buch und damit zum Gegenstand der Lektüre macht. Neben die inhaltliche tritt damit eine technisch-formale Dimension des Vergegenständlichungsprozesses. So werden die Geschichten zum Kreuzungspunkt von law in literature und material philology. Die verlegerische mise en livre legt für die frühen Ausgaben einen intendierten Gebrauch gerade auch durch Juristen nahe, wie sich am Materienverzeichnis von Caveliers Neuausgabe zeigt. Während in der Übersetzung des Kiesewetter-Verlags die ergänzten Zwischentitel die Agonalität des Prozessteils der Geschichten betonen, zielt Rheys typographische Arbeit an der Richer-Ausgabe dagegen auf einen Ausgleich der komplexen Hybridität zugunsten eines ein- und leichtgängigeren Erzählflusses. Gegenläufig suggeriert die Druckgestalt der Übersetzung bei Cunos Erben Authentizität sogar bei jenen Textsorten des Rechtsfindungsverfahrens, bei denen Gayot ursprünglich Anspruch auf literarische Bearbeitungsfreiheit erhebt. Recht und Literatur werden so in jeder der genannten und behandelten Ausgaben neu ins Verhältnis gesetzt.