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Unter Tieren. Über Adornos mikrologischen Blick auf die Tiere und die Möglichkeit, Mensch zu sein

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Der Vorrang des Objekts

Part of the book series: Studien zur Kritischen Theorie ((STKRTH))

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Zusammenfassung

Das Verhältnis von Mensch und Tier war wohl niemals nur unproblematisch, denn es birgt ein buchstäbliches ‚Problem‘, etwas Fragwürdiges oder Bestaunenswertes, über das man in den selbstverständlichsten Momenten zu stolpern droht und das sich so ins Bewusstsein drängt. Dennoch bleibt es unscheinbar und zählt nicht zu den ‚zentralen Themen‘, die wir zu würdigen meinen, indem wir sie im bedeutungsbeladenen Trott unserer Gedanken und Besorgungen umkreisen. Das Mensch-Tier-Verhältnis impliziert eine tiefgreifende und vielleicht gerade darum wenig bewusstgemachte Infragestellung des Menschseins, bedenkt man, dass sich die „Idee des Menschen in der europäischen Geschichte […] in der Unterscheidung vom Tier aus[drückt]“.

„Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moraltheorie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein.“ (GS 6, 294)

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Notes

  1. 1.

    Zum Thema der radikalen Fremdheit der Tiere, die uns dennoch grundlegend ansprechen und vertraut erscheinen, vgl. Guzzoni 2012, 62–86.

  2. 2.

    Das Werk Adornos (und Horkheimers) wird in diesem Zusammenhang gar zu den Pionierarbeiten der Cultural Animal Studies gezählt. Vgl. Borgards 2016, 1–6 und 17.

  3. 3.

    „Daß sie [die Behavioristen; J.G.] auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie, entfesselt, in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehrlosen Tieren abzwingen, bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluß, den sie aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, paßt nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute.“ (GS 3, 283).

  4. 4.

    Mir jedenfalls geht das nur kläglich ideologiekritisch umspielte Zeugnis von Donna Haraways Mordphantasien zu weit, da es das ‚Problem‘ der Identität und Differenz von Mensch und Tier nicht ernst nimmt: „Mein Partner Rusten Hogness hat Kompost statt Posthuman(ismus) vorgeschlagen sowie Humusismen statt Humanismen; und ich bin in diesen wurmigen Haufen gesprungen. Das Humane als Humus hat Potenzial, wenn es gelingt, das Humane als Homo zu zerhacken und zu zerschreddern, dieses stagnierende Projekt eines sich selbst erzeugenden und den Planeten zerstörenden Unternehmers.“ (Haraway 2018, 50).

  5. 5.

    Ich denke dabei bspw. an Peter Singer. Vgl. Singer 2013.

  6. 6.

    Mir geht es hierbei um eine Interpretation dieser Fragestellung, die stärker aus dem Gedankenkreis der Negativen Dialektik stammt als aus dem der Dialektik der Aufklärung, die bei der Untersuchung des Mensch-Tier-Verhältnisses der Kritischen Theorie meist im Vordergrund steht. Vgl. Mütherich 2008.

  7. 7.

    Vgl. Lévinas 2014, 94. Im Weiteren wird sich immer wieder eine Überschneidung mit Motiven von Lévinas ergeben. So beispielsweise im Motiv des Angesichts und des Blicks des Anderen, einer Ethik aufgrund einer radikal asymmetrischen Beziehung, dem unhierarchischen Unterweisungsverhältnis usw.

  8. 8.

    Derrida hat in seinen spätesten Arbeiten beeindruckend herausgearbeitet, wie es gerade der Blick des Tieres ist, der einen auf das konkrete Menschsein zurückwirft. Vgl. Derrida 2015.

  9. 9.

    Vgl. hierzu Hogh 2015, 289–292. Ob im Verhältnis zum Tier die von Hogh herausdestillierte Beziehung von Sprache als Ausdruck und Sprache als Mitteilung nicht eine besondere (utopische) Wendung erfährt, da die „Kommunikation von Subjekt und Objekt“ hier immer auch schon in eine „intersubjektive Kommunikation“ umzuschlagen scheint, müsste gesondert untersucht werden.

  10. 10.

    Das Fragment „Mensch und Tier“ nimmt in dieser Frage insgesamt den Anschein, die Haltung Horkheimers zu verkörpern.

  11. 11.

    Es ist diese Moralität, die den Menschen vor dem Tier auszeichnen soll, was die Pointe von Adorno in Hinsicht auf die Bedeutung des Tieres noch bedeutsamer erscheinen lässt. Kant schreibt: „Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn, bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung, wäre er sittlich tot und, wenn (um in der Sprache der Ärzte zu reden) die sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Tierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden.“ (Kant 1968c, A 37, hier 400).

  12. 12.

    Giorgio Agamben hat Kants Achtung in eben diesem Sinne interpretiert, die als „leere Potenz des Gesetzes [gilt], daß sie vom Leben [und mithin vom Tier; J.G.] ununterscheidbar wird.“ (Agamben 2011, 63) Dieses Motiv wird bezüglich der Mensch-Tier-Unterscheidung als „Anthropologische Maschine“ ausgearbeitet. (Agamben 2014, 42–48).

  13. 13.

    Jürgen Habermas schreibt in einem Aufsatz, der für diesen Zusammenhang insgesamt von großem Interesse ist: „Die Gewalt der Objektivierung einer sich alles unterwerfenden Vernunft scheint so, wie sie in der Dimension der Selbstbeziehung auf den Eigensinn einer spontanen inneren Natur stößt, auch in der Horizontalen der gesellschaftlichen Beziehungen auf die Eigenart und den Eigenwillen von zweiten Personen zu stoßen – von Personen, die anders sind und widersprechen können.“ (Habermas 2005, 35) Gerade Tiere scheinen in dieser Horizontalen des Eigensinns und Eigenwillens der Anderen bei Adorno Beachtung zu bekommen.

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Gimmel, J. (2022). Unter Tieren. Über Adornos mikrologischen Blick auf die Tiere und die Möglichkeit, Mensch zu sein. In: Berger, M., Hogh, P. (eds) Der Vorrang des Objekts. Studien zur Kritischen Theorie. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65690-7_4

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  • Publisher Name: J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg

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