FormalPara Zusammenfassung

Auf Basis von Abrechnungsdaten von AOK-Versicherten liefert die vorliegende Studie weitere Belege für eine veränderte Inanspruchnahme von Notfallbehandlungen während des ersten Jahres der Covid-19-Pandemie. So nahm die Zahl der Krankenhausbehandlungen aufgrund von ST-Hebungsinfarkt (STEMI), Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI), Hirninfarkt/-blutung oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA) während der ersten (März bis Mai 2020) und zweiten (Oktober 2020 bis Februar 2021) Pandemiewelle im Vergleich zu den jeweiligen Vorjahresperioden deutlich ab. In beiden Pandemiewellen fiel der Fallzahlrückgang bei weniger schweren Ereignissen (NSTEMI, TIA) stärker aus als bei den schwereren Ereignissen (STEMI, Hirninfarkt/-blutung). Bei Behandlungsfällen mit Hirninfarkt/-blutung ging der Fallzahlrückgang mit einem relativen Anstieg neurologischer Symptome und der 30-Tage-Sterblichkeit einher. Auch STEMI-Fälle, die während der ersten beiden Pandemiewellen behandelt wurden, wiesen gegenüber Behandlungsfällen des Vorjahres erhöhte Sterblichkeitsraten auf. Diese Ergebnisse könnten eine Verschiebung in der Fallzusammensetzung widerspiegeln, die auf verzögerte oder vermiedene medizinische Behandlungen – insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit milderen Symptomen – zurückzuführen ist, beispielsweise aus Angst vor einer Covid-19-Infektion oder als unbeabsichtigte Folgeerscheinung der Vorgaben zur sozialen Isolation. In einer Auswertung der Todesursachenstatistik zeigten sich keine Hinweise auf eine höhere Sterblichkeit an Herzinfarkt oder zerebrovaskulären Erkrankungen, die im Zusammenhang mit der verminderten Inanspruchnahme der Notfallbehandlung stehen könnte.

Using data from the German local Health Care Fund (AOK), this study provides further evidence for changes in emergency healthcare utilisation during the first year of the Covid-19 pandemic. Specifically, hospital admissions for ST-elevation myocardial infarction (STEMI), non-ST-elevation myocardial infarction (NSTEMI), ischemic/haemorrhagic stroke or transient ischemic attack (TIA) were substantially reduced during the first (March–May 2020) and second (October 2020–February 2021) wave of the pandemic, as compared to the respective periods in the previous year. In both waves, the decline was stronger for less severe conditions (NSTEMI, TIA) and weaker for more severe conditions (STEMI, ischemic/haemorrhagic stroke). For the latter, reduction in hospital admissions was associated with a relative increase in neurological symptoms and 30-day mortality. Furthermore, STEMI-cases tended to have higher mortality rates during the first two pandemic waves than cases admitted in the previous year. Our findings may reflect a shift in the case mix resulting from delayed or avoided medical care seeking – especially among patients with milder symptoms – for fear of catching the virus or as an unintended consequence of social distancing precepts. An analysis of German death certificate data did not suggest any excess mortality from myocardial infarction or cerebrovascular diseases that might be related to changes in emergency healthcare utilisation.

1 Einleitung

Die Covid-19-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung führten zu einschneidenden Veränderungen im medizinischen Versorgungsgeschehen. So kam es in Deutschland im Pandemiejahr 2020 zu einem starken Rückgang ambulanter und stationärer Behandlungsfälle (Augurzky et al. 2022; Mangiapane et al. 2021). Unerwartet gingen auch Herzinfarkt- und Schlaganfallbehandlungen zurück, wobei die stärksten Rückgänge der Non-Covid-Notfälle während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 sowie schwächer in den späteren Phasen mit hohem Covid-19-Infektionsgeschehen und dementsprechend strengen Infektionsschutzmaßnahmen zu verzeichnen waren (Augurzky et al. 2020; WIdO 2021). Dabei handelte es sich nicht um ein deutsches Phänomen, denn rückläufige Herzinfarkt- und Schlaganfall-Fallzahlen wurden 2020 – insbesondere während nationaler Lockdowns – weltweit in vielen Ländern beobachtet (Baumhardt et al. 2021; Reddy et al. 2021).

Während planbare Krankenhausbehandlungen aufgrund bundesweiter Verfügungen (Bundesregierung 2020) oder lokaler Personal-/Behandlungsengpässe im Zuge der Pandemie zeitweise ausgesetzt oder verschoben wurden, war die Behandlung von Notfallpatientinnen und -patienten in Deutschland zu keinem Zeitpunkt reglementiert. Als mögliche Ursache für den Rückgang der Herzinfarkt- und Schlaganfallbehandlungen wird die Sorge vor einer Covid-19-Infektion oder vor überlasteten Rettungsdiensten und Kliniken vermutet, die Betroffene vor der notwendigen Krankenhausbehandlung zurückschrecken ließ, wenn die Beschwerden dies zu erlauben schienen. In diesem Zusammenhang ist oft von einem möglichen „Kollateralschaden“ der Pandemie(maßnahmen) die Rede, da die optimale Behandlung von Herzinfarkten und Schlaganfällen zeitkritisch ist und jeder Behandlungsverzug das Risiko für Folgeschäden, bleibende Behinderungen und vorzeitiges Versterben erhöht.

Die Untersuchungen aus der ersten Pandemiewelle scheinen diese Hypothese zumindest teilweise zu stützen. So fielen die Fallzahlrückgänge bei Erkrankungsbildern mit milderer Symptomatik (z. B. transitorische ischämische Attacke [TIA]) vielfach stärker aus als bei Erkrankungen, die mit einer schwereren Symptomatik einhergehen und demzufolge nicht bagatellisiert werden können (z. B. Hirninfarkt/-blutung) (Drogan et al. 2020; Seiffert et al. 2020). Außerdem ging der im Frühjahr 2020 beobachtete Rückgang der Schlaganfall-Behandlungen trotz vergleichbarer Therapieraten mit einer erhöhten Sterblichkeit (Drogan et al. 2020; Seiffert et al. 2020; Richter et al. 2021a, 2022; Behrendt et al. 2021) und einem relativen Anstieg von Behandlungsfällen mit neurologischen Ausfallerscheinungen wie Sprech-/Sprachstörungen oder Hemiparese/Hemiplegie einher (Drogan et al. 2020). Bei Herzinfarkt-Fällen, die in der ersten Pandemiewelle stationär behandelt wurden, war dagegen keine signifikant erhöhte Sterblichkeit nachweisbar (Drogan et al. 2020; Behrendt et al. 2021; Scholz et al. 2020).

Zur Erkrankungsschwere und Versorgung von Non-Covid-Notfällen im weiteren Pandemieverlauf liegen bislang kaum detaillierte, d. h. an den zeitlichen Phasen der Pandemie orientierte Untersuchungen aus Deutschland vor. Obwohl Fachgesellschaften, Krankenkassen und Ärzte wiederholt vor den Risiken einer verzögerten Behandlung gewarnt hatten (DGN 2020; Schlimpert 2020; WIdO 2020), sanken die Schlaganfall- und Herzinfarktfälle während der im Herbst 2020 einsetzenden zweiten Pandemiewelle erneut deutlich, nachdem sie in den Sommermonaten des Jahres 2020 nahezu auf dem Vorjahresniveau lagen (WIdO 2021). Diese Veränderungen im Fallzahlgeschehen lassen vermuten, dass auch die Zusammensetzung und infolgedessen die Prognose der stationär behandelten Notfallpatientinnen und -patienten im Pandemieverlauf schwankten. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob interventionelle Therapien bei Herzinfarkten und Schlaganfällen auf unverändertem Niveau erfolgten, obwohl viele Klinikprozesse aufgrund regulatorischer Vorgaben und aufgrund der hohen Zahl behandlungsbedürftiger Covid-19-Fälle während der folgenden Pandemiewellen verändert wurden. Für Hirninfarkt-Fälle konnten im Pandemieverlauf phasenspezifische Unterschiede in der Krankenhaussterblichkeit und der Behandlungshäufigkeit nachgewiesen werden, wobei die zugrunde liegende Analyse nur Behandlungsfälle bis inkl. Dezember 2020 – und somit nicht die komplette zweite Pandemiewelle – umfasste (Richter et al. 2022). Analoge Untersuchungen zum Herzinfarkt liegen für Deutschland bislang nicht vor.

Angesichts der wiederkehrenden Pandemiewellen sind weiterführende Untersuchungen notwendig, um die direkten und indirekten Auswirkungen der Pandemie auf die Versorgung von Herzinfarkten und Schlaganfällen besser zu verstehen und mögliche Versorgungsprobleme aufzudecken. Auf Grundlage von Routinedaten aller AOK-Versicherten soll daher untersucht werden, inwiefern sich die stationären Behandlungsfälle mit Herzinfarkt oder Schlaganfall (inkl. Hirninfarkt/-blutung und TIA) in den verschiedenen Phasen des ersten Pandemiejahres (März 2020 bis Februar 2021) von Behandlungsfällen des Vorjahres unterschieden. Neben der Fallzahlentwicklung sollen dabei insbesondere die Komorbiditäten, die Erkrankungsschwere, die Pflegebedürftigkeit, die stationäre und poststationäre Sterblichkeit sowie relevante Behandlungsprozesse betrachtet werden. Die Analysen bauen auf einer früheren Auswertung im Qualitätsmonitor 2020 auf (Drogan et al. 2020), in der jedoch lediglich die ersten drei Wochen des ersten bundesweiten Lockdowns untersucht wurde. Ergänzend werden Daten der Todesursachenstatistik ausgewertet, um die bevölkerungsbezogene Gesamtsterblichkeit aufgrund von Herzinfarkt und Schlaganfall – unabhängig von der Krankenhausbehandlung – zu ermitteln.

2 Methodik

2.1 Datengrundlage

Die Analyse basiert auf den bundesweiten Abrechnungsdaten vollstationärer AOK-Krankenhauspatientinnen und -patienten gemäß Datenaustauschverfahren nach § 301 Abs. 1 SGB V. Dieser Datensatz umfasst Angaben zum Zeitraum der stationären Behandlung, zu kodierten Diagnosen, durchgeführten Prozeduren, Verlegungen und anderen Entlassungsgründen sowie zum Versterben im Krankenhaus. Diese Daten wurden um Informationen aus den Versichertenverzeichnissen nach § 288 SGB V zum Überlebensstatus nach Ende der Krankenhausbehandlung ergänzt.

2.2 Studienpopulation und Beobachtungszeitraum

In die Analysen gingen abgeschlossene vollstationäre Behandlungsfälle von AOK-Versicherten ein, die zwischen dem 01.03.2020 und dem 28.02.2021 im Krankenhaus aufgenommen wurden (= Pandemie). Für die Auswertungen wurden dabei in Anlehnung an Tolksdorf et al. (2021) drei Untersuchungszeiträume definiert, die sich am Pandemieverlauf während des ersten Pandemiejahrs orientieren: März bis Mai 2020 (1. Pandemiewelle), Juni bis September 2020 (Lockerungsphase), Oktober 2020 bis Februar 2021 (2. Pandemiewelle). Als Vergleichsgruppe wurden Krankenhausfälle des jeweiligen Vorjahreszeitraums genutzt, d. h. mit Aufnahmedatum vom 01.03.2019 bis 29.02.2020 (= Prä-Pandemie) herangezogen.

Alle Auswertungen wurden beschränkt auf Versicherte mit einer stationären Behandlung aufgrund von ST-Hebungsinfarkt (STEMI), Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI), Hirninfarkt/-blutung oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA), entsprechend der in Tab. 5.1 aufgelisteten Einschlusskriterien. Ein Krankenhausaufenthalt mit einer der in Tab. 5.1 genannten Hauptdiagnosen wird als Indexfall gewertet. Sofern eine Person aufgrund von Verlegungen mehrere Krankenhausaufenthalte in Folge aufwies, wurden diese dem Indexfall zugerechnet. Daraus ergeben sich für die analytische Studienpopulation die in Tab. 5.1 dargestellten Fallzahlen.

Tab. 5.1 Einschlussdiagnosen, Untersuchungszeiträume und Fallzahlen der StudienpopulationFootnote

Dargestellt sind die rohen Fallzahlen. Abweichungen zu den im Ergebnisteil dargestellten Fallzahlen ergeben sich aufgrund der Alters- und Geschlechtsstandardisierung von Krankenhausfällen der Jahre 2020/2021 auf die Alters- und Geschlechtsverteilung von AOK-Versicherten des Jahres 2019.

2.3 Studienvariablen

Begleiterkrankungen und Indikatoren der Erkrankungsschwere der Notfallpatientinnen und -patienten wurden auf Basis der ICD-10 kodierten Krankenhausdiagnosen definiert. Während des Krankenhausaufenthalts durchgeführte interventionelle Therapien und die Pflegebedürftigkeit wurden über den Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) in der jeweils gültigen Jahresversion erfasst (Tab. 5.2).

Tab. 5.2 Einschlussdiagnosen und -prozeduren von Studienvariablen

Für die Krankenhaus-Verweildauer wurde der Aufnahmetag des Indexaufenthalts sowie jeder weitere Tag des Krankenhausaufenthalts (exkl. Entlassungstag) summiert. Sofern eine Person aufgrund von Verlegungen mehrere Krankenhausaufenthalte in Folge aufwies, wurde zur Berechnung der Krankenhaus-Verweildauer das Aufnahmedatum des Indexaufenthalts und alle folgenden Tage bis zum letzten Krankenhausaufenthalt (exkl. Entlassungstag) berücksichtigt.

2.4 Statistische Analysen

Über alle sechs in Tab. 5.1 dargestellten Zeitperioden wurden für kategorielle Variablen Anteile und für stetige Variablen Mittelwert ± Standardabweichung berechnet. Unterschiede zwischen den Zeitperioden (Prä-Pandemie vs. Pandemie) wurden mittels t-Test für unabhängige Stichproben (stetige Variablen) bzw. mittels χ2-Test oder exaktem Fisher-Test (kategorielle Variablen) geprüft.

Zur Analyse der Fallzahlentwicklung wurde die Hospitalisierungsrate je Tag für die Zeiträume März bis Mai 2020, Juni bis September 2020 und Oktober 2020 bis Februar 2021 mittels Poisson Regression mit der täglichen Hospitalisierungsrate der jeweiligen Vorjahreszeiträume verglichen. Die dabei berechneten Inzidenzratenverhältnisse (incidence rate ratios, IRR) stellen das Verhältnis der täglichen Behandlungsfälle in den Pandemie-Phasen gegenüber den täglichen Behandlungsfällen in den prä-pandemischen Untersuchungszeiträumen dar.

Um Effekte durch einen Versichertenzuwachs und geringfügige Verschiebungen der Alters- und Geschlechtszusammensetzung der AOK-Gesamtpopulation von 2019 auf die Folgejahre bei Vergleichen zwischen den Behandlungsfällen vor und während der Pandemie zu eliminieren, erfolgten alle Auswertungen alters- und geschlechtsstandardisiert, soweit nicht anders angegeben. Dazu wurden die männlichen und die weiblichen Versicherten aller Untersuchungszeiträume in jeweils fünf Altersgruppen eingeteilt: < 50 Jahre, 50–59 Jahre, 60–69 Jahre, 70–79 Jahre, 80+ Jahre und die Fallzahlen des Jahres 2020 bzw. 2021 auf die Alters- und Geschlechtszusammensetzung aller AOK-Versicherten von 2019 standardisiert. Als Referenzpopulationen dienten dabei die vom Bundesministerium für Gesundheit veröffentlichten amtlichen Jahresstatistiken über Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (KM 6-Statistik).

Die Vorgaben der Leitlinie Gute Praxis Sekundärdatenanalyse (GPS) wurden für die Auswertungen des vorliegenden Beitrags beachtet.

3 Ergebnisse

3.1 Fallzahl-Veränderung

Die Studienpopulation umfasste nach Alters- und Geschlechtsstandardisierung 370.606 stationäre Behandlungsfälle, darunter 43.352 STEMI-Fälle, 88.638 NSTEMI-Fälle, 61.915 TIA-Fälle und 176.701 Behandlungen aufgrund von Hirninfarkt/-blutung. Auf das erste Pandemiejahr entfielen dabei 21.260 STEMI-Fälle (−4 % ggü. Vorjahr), 41.887 NSTEMI-Fälle (−10 %), 28.136 TIA-Fälle (−17 %) und 84.865 Fälle mit Hirninfarkt/-blutung (−8 %).

Bei Betrachtung der Fallzahlentwicklung in den drei Untersuchungszeiträumen wiesen alle vier Notfallindikationen ein ähnliches Muster auf. Während der ersten Pandemiewelle (März bis Mai 2020) wurden im Vergleich zum Vorjahr signifikant weniger Behandlungsfälle stationär behandelt (Abb. 5.1). Bei TIA fiel der Rückgang mit einem Wert von 26 % (IRR = 0,74; 95 %-KI 0,72–0,77) am deutlichsten aus; gefolgt von NSTEMI (−18 %; IRR = 0,82; 95 %-KI 0,80–0,84), Hirninfarkt/-blutung (−12 %; IRR = 0,88; 95 %-KI 0,86–0,90) und STEMI (−9 %; IRR = 0,91; 95 %-KI 0,88–0,95). In der Lockerungsphase der Monate Juni bis September 2020 kam es bei allen Notfallindikationen zu einer Annäherung an das Vorjahresniveau. So wichen die Fallzahlen für STEMI, NSTEMI und Hirninfarkt/-blutung um nur um +/−3 % vom Vorjahreszeitraum ab. Nur bei TIA war die Fallzahldifferenz zur Sommerperiode 2019 weiterhin deutlich (−7 %; IRR = 0,93; 95 %-KI 0,90–0,95). In der zweiten Pandemiewelle (Oktober 2020 bis Februar 2021) sanken die Fallzahlen in allen vier Notfallindikationen erneut signifikant unter die Werte des Vorjahres, allerdings weniger ausgeprägt als in der ersten Pandemiewelle.

Abb. 5.1
figure 1

Fallzahlen, Inzidenzratenverhältnisse (IRR) und 95 %-Konfidenzintervall für Behandlungen aufgrund von ST-Hebungsinfarkt (STEMI), Non-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI), Hirninfarkt/-blutung oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA) Prä-Pandemie (Mrz 2019–Feb 2020) vs. Pandemie (Mrz 2020–Feb 2021)

3.2 Charakteristika der Behandlungsfälle (Case Mix)

Um zu überprüfen, ob es im Zuge der Pandemie zu einer systematischen Verschiebung im Case Mix von Notfallpatientinnen und -patienten gekommen ist, wurden Behandlungsfälle vor und während der Pandemie im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Pflegebedürftigkeit und eine Reihe von Begleiterkrankungen verglichen (Tab. 5.3). Mit Ausnahme der NSTEMI-Fälle, die in der ersten Pandemiewelle einen etwas höheren Männeranteil aufwiesen, war die Geschlechter-Zusammensetzung zwischen Prä-Pandemie und Pandemie über alle Untersuchungszeiträume und Indikationen hinweg ähnlich. Hinsichtlich des Alters unterschieden sich STEMI-Fälle, die zwischen März 2020 und Februar 2021 behandelt wurden, nicht von Fällen des Vorjahreszeitraums. Dagegen waren Behandlungsfälle mit Hirninfarkt/-blutung und NSTEMI in der ersten und zweiten Pandemiewelle etwas jünger als Fälle in den entsprechenden Vorjahreszeiträumen. TIA-Fälle des Pandemiejahrs hatten in allen drei Untersuchungszeiträumen ein höheres Alter als Fälle, die vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie behandelt wurden. Diese Differenz erreichte allerdings nur für Fälle, die in der Lockerungsphase (Jun bis Sep 2020) stationär behandelt wurden, statistische Signifikanz. Der Anteil von Behandlungsfällen, bei denen bei Krankenhausaufnahme bereits eine Pflegebedürftigkeit vorlag, lag im ersten Pandemiejahr durchweg über dem Vorjahresniveau, wobei der größte (und statistisch signifikante) Anstieg für TIA-Fälle aller drei Untersuchungsperioden zu verzeichnen war.

Tab. 5.3 Charakteristika von Behandlungsfällen aufgrund von STEMI, NSTEMI, Hirninfarkt/-blutung oder TIA; März 2019 bis Februar 2020 (Prä-Pandemie) vs. März 2020 bis Februar 2021 (Pandemie)

Bei den Begleiterkrankungen zeigten sich vor allem bei der Hyperlipidämie und der hypertensiven Krise auffällige Differenzen zwischen Pandemie und Prä-Pandemie. So lag der Anteil beider Begleiterkrankungen im Zuge der Pandemie über alle Untersuchungszeiträume und Notfallindikationen hinweg über dem Vorjahresniveau. Hingegen wurden in der ersten und zweiten Pandemiewelle etwas weniger NSTEMI-Fälle mit Niereninsuffizienz behandelt. Auch bei Behandlungen aufgrund von Hirninfarkt/-blutung sank während der Pandemie der Anteil der Fälle mit Niereninsuffizienz geringfügig ab; hier jedoch in den Zeiträumen Juni bis September sowie Oktober bis Februar.

Um zu untersuchen, ob es im Zuge der Pandemie bei Herzinfarkten zu Veränderungen im Hinblick auf Erkrankungsschwere und außerklinische Ereignisse kam, wurden die Anteile der Behandlungsfälle mit kardiogenem Schock, schweren infarktbedingten Komplikationen und prähospitalem Herzstillstand zwischen den Untersuchungszeiträumen verglichen (Prä-Pandemie vs. Pandemie). Abb. 5.2 zeigt, dass – im Vergleich zum Vorjahreszeitraum – bei STEMI-Fällen im gesamten ersten Pandemiejahr häufiger kardiogene Schocks und prähospitale Herzstillstände auftraten. Diese Unterschiede waren beim kardiogenen Schock während der ersten Pandemiewelle und beim prähospitalen Herzstillstand für den Zeitraum Juni bis September statistisch signifikant. Die schweren infarktbedingten Komplikationen, zu denen beispielsweise eine Undichtigkeit der Mitralklappe (aufgrund eines infarktbedingten Abrisses eines Papillarmuskels), ein akuter Einriss der Herzscheidewand (Septumruptur) oder eine sogenannte Herzbeuteltamponade (mit Einblutung in den Herzbeutel bei Einriss der freien Herzwand) gehören, traten insgesamt sehr selten auf.

Abb. 5.2
figure 2

Begleiterkrankungen stationärer Behandlungsfälle aufgrund von ST-Hebungsinfarkt (STEMI) oder Non-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI), Mrz 2019–Feb 2020 vs. Mrz 2020–Feb 2021. *stat. sign (p < 0,05),  Prä-Pandemie  Pandemie

Bei Behandlungen aufgrund von Hirninfarkt/-blutung lag der Anteil an Fällen mit Sprech- und Sprachstörungen oder mit Dysphagie/Schluckbeschwerden während der ersten Pandemiewelle signifikant über den Werten des Vorjahres (Abb. 5.3). Für die Hemiparese/Hemiplegie war – ergänzend zum Frühjahr 2020 – auch während der zweiten Pandemiewelle ein signifikanter Anstieg zu verzeichnen. Der neurologische Neglect trat bei Behandlungsfällen mit Hirninfarkt/-blutung in allen drei Pandemiephasen häufiger auf als in den entsprechenden Vorjahreszeiträumen. Bei einer TIA, die häufig auch als „kleiner Schlaganfall“ oder „Schlaganfall-Vorbote“ bezeichnet wird, bestehen die neurologischen Defizite definitionsgemäß nur vorübergehend (< 24 h) und sind häufig weniger schwer ausgeprägt als bei einem Hirninfarkt. Bei den TIA-Fällen wurden während der ersten Pandemiewelle häufiger die Symptome Dysphagie/Schluckbeschwerden und neurologischer Neglect dokumentiert.

Abb. 5.3
figure 3

Begleiterkrankungen stationärer Behandlungsfälle aufgrund von Hirninfarkt/-blutung oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA), Mrz 2019–Feb 2020 vs. Mrz 2020–Feb 2021. *stat. sign (p < 0,05),  Prä-Pandemie  Pandemie

3.3 Stationäre Behandlungsprozesse

Behandlungsfälle aufgrund von STEMI, TIA oder Hirninfarkt/-blutung wurden während der ersten beiden Pandemiewellen signifikant seltener von Vertragsärztinnen/-ärzten eingewiesen als in den entsprechenden Vorjahresperioden (Tab. 5.4). Auch bei NSTEMI-Fällen kam es während der zweiten Pandemiewelle zu einem Abfall der vertragsärztlichen Einweisungen, die Differenz zur Vorjahresperiode erreichte jedoch keine statistische Signifikanz. Die stationäre Verweildauer lag bei allen vier Notfallindikationen in der ersten und zweiten Pandemiewelle signifikant unter dem Vorjahresniveau, während stationäre Weiterverlegungen im gesamten Pandemiejahr tendenziell seltener stattfanden. Der Anteil der Behandlungsfälle, die nach der Indexbehandlung direkt in eine Reha-Einrichtung entlassen wurden, war bei Behandlungsfällen mit Hirninfarkt/-blutung während der Pandemie in allen drei Untersuchungsperioden signifikant erhöht. Eine ähnliche Tendenz zeigte sich bei den Herzinfarkt-Behandlungen, allerdings bei sehr geringen absoluten Fallzahlen.

Tab. 5.4 Allgemeine stationäre Prozessabläufe bei Behandlungsfällen aufgrund von ST-Hebungsinfarkt, Non-ST-Hebungsinfarkt, Hirninfarkt/-blutung oder transitorischer ischämischer Attacke, Zeitraum März 2020 bis Februar 2021 (Pandemie) vs. März 2019 bis Februar 2020 (Prä-Pandemie)

Sowohl vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie als auch im ersten Pandemiejahr erhielten die meisten STEMI-Fälle am Tag der Krankenhausaufnahme eine perkutane Koronarintervention (PCI) (Tab. 5.5). Während der Pandemie stieg der Anteil der STEMI-Fälle mit PCI am Aufnahmetag im Vergleich zum Vorjahr sogar an, wobei der stärkste Zuwachs in den beiden Pandemiewellen zu beobachten war (1. Pandemiewelle: +1,8 Prozentpunkte; 2. Pandemiewelle: +1,9 Prozentpunkte). In beiden Pandemiewellen sanken zugleich die Fallzahlanteile ohne oder mit verzögerter PCI. Ähnliche Tendenzen zeigten sich in Bezug auf die Koronarangiographie beim STEMI: in beiden Pandemiewellen stieg der Anteil der Behandlungsfälle mit Koronarangiographie am Aufnahmetag, bei gleichzeitigem Absinken der Behandlungsfälle ohne oder mit verzögerter Angiographie. Beim Vergleich der Auswertungen zur PCI- und Koronarangiographie-Rate fällt eine weitere Gemeinsamkeit ins Auge: Im Zeitraum Juni bis September 2020 gab es nicht nur anteilig, sondern auch absolut mehr STEMI-Fälle ohne PCI bzw. Koronarangiographie als im Vorjahreszeitraum. So stiegen die STEMI-Fälle ohne PCI von 780 (Prä-Pandemie) auf 840 (Pandemie), was einer Fallzahlsteigerung um 8 % entspricht. STEMI-Fälle ohne Koronarangiographie stiegen sogar um 10 % an. Beide Werte liegen deutlich über der 3\̇%igen Steigerung aller STEMI-Fälle, die für diesen Untersuchungszeitraum beobachtet wurde (vgl. Abb. 5.1). Auch beim NSTEMI lag der Anteil der Behandlungsfälle ohne PCI oder ohne Koronarangiographie in beiden Pandemiewellen unter dem Vorjahresniveau. Parallel dazu stieg der Anteil der Behandlungsfälle mit PCI bzw. Koronarangiographie am Aufnahmetag oder am Folgetag. Hinsichtlich Häufigkeit und Zeitpunkt erfolgter Bypass-Operationen gab es keine statistischen Unterschiede zwischen prä-pandemischen und pandemischen Untersuchungszeiträumen.

Tab. 5.5 Behandlungscharakteristika stationärer Behandlungsfälle aufgrund von ST-Hebungsinfarkt und Non-ST-Hebungsinfarkt, Zeitraum März 2020 bis Februar 2021 (Pandemie) vs. März 2019 bis Februar 2020 (Prä-Pandemie)

Im Zuge der Pandemie kam es zu systematischen Verschiebungen bei der neurologischen Komplexbehandlung von Behandlungsfällen mit Schlaganfall (Tab. 5.6). So sank bei beiden Notfallindikationen in den drei Pandemiephasen im Vergleich zum Vorjahr der Anteil der Schlaganfälle, die keine neurologische Komplexbehandlung erhielten. Mit −2,2 Prozentpunkten bei den Hirninfarkten/-blutungen und −2,6 Prozentpunkten bei den TIA fiel dieser Rückgang in der ersten Pandemiewelle (März bis Mai 2020) am deutlichsten aus. Bei beiden Notfallindikationen stieg während dieses Pandemiezeitraumes der Anteil der Schlaganfälle mit kürzer (24 bis < 72 h) und länger (mind. 72 h) andauernder neurologischer Komplexbehandlung. Während der zweiten Pandemiewelle ging der Rückgang der Behandlungsfälle ohne neurologische Komplexbehandlung, dagegen lediglich mit einem relativen Anstieg der Behandlungsfälle einher, die für 24 bis < 72 h eine neurologische Komplexbehandlung erhielten. Der Anteil der Schlaganfälle, die länger als 72 h auf einer Stroke Unit behandelt wurden, sank gegenüber der Vorjahresperiode dagegen deutlich (Hirninfarkt/-blutung: −2 Prozentpunkte; TIA: −1 Prozentpunkt). Der Anteil der Hirninfarkt-Fälle, die keine oder eine verzögerte Lysetherapie erhielten, blieb im ersten Pandemiejahr auf einem ähnlichen Niveau wie im Vorjahr. Thrombektomien wurden bei Hirninfarkt-Fällen im Zeitraum von März 2020 bis Februar 2021 signifikant häufiger durchgeführt als in den zwölf Monaten vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie.

Tab. 5.6 Behandlungscharakteristika stationärer Behandlungsfälle aufgrund Hirninfarkt/-blutung oder transitorischer ischämischer Attacke, Zeitraum März 2020 bis Februar 2021 (Pandemie) vs. März 2019 bis Februar 2020 (Prä-Pandemie)

3.4 Sterblichkeit

Behandlungsfälle mit STEMI oder mit Hirninfarkt/-blutung wiesen in allen drei Untersuchungsphasen während der Pandemie eine höhere 30-Tage-Sterblichkeit auf als im Vorjahreszeitraum (Abb. 5.4). Diese Unterschiede erreichten bei beiden Notfallindikationen für die zweite Pandemiewelle statistische Signifikanz. Mit 15,8 % bei STEMI-Fällen und 14,0 % bei Hirninfarkten/-blutungen lag die 30-Tage-Sterblichkeit in dieser Zeit dabei um 1,2 bzw. 1,1 Prozentpunkte über der Sterblichkeit des Zeitraums Oktober 2019 bis Februar 2020. Auch während der ersten Pandemiewelle verstarben relativ betrachtet mehr STEMI-Fälle innerhalb von 30 Tagen als im Vorjahr (+1,2 Prozentpunkte), dieser Unterschied war jedoch statistisch nicht signifikant. NSTEMI-Fälle hatten in der Lockerungsphase eine um 0,6 Prozentpunkte erhöhte 30-Tage-Sterblichkeit. Bei Behandlungsfällen mit Hirninfarkt/-blutung stieg die 30-Tage-Sterblichkeit von 13,0 % (März bis Mai 2019) auf 13,9 % (März bis Mai 2020; p = 0,006). Die Sterblichkeit von TIA-Fällen lag in allen Untersuchungsperioden zwischen 1,1 und 1,3 % und unterschied sich nicht zwischen Pandemie und dem Vorjahr.

Abb. 5.4
figure 4

30-Tage-Sterblichkeit stationärer Behandlungsfälle aufgrund von Hirninfarkt/-blutung oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA), Mrz 2019–Feb 2020 vs. Mrz 2020–Feb 2021. *stat. sign (p < 0,05),  Prä-Pandemie  Pandemie

3.5 Exkurs: Gesamtsterblichkeit aufgrund von Herzinfarkten und zerebrovaskulären Krankheiten

Um zu überprüfen, ob der pandemiebedingte Fallzahlrückgang der Non-Covid-Notfälle in den Kliniken mit einem Anstieg der kardiovaskulären Gesamtsterblichkeit in Deutschland einherging, wurden die Sterbefallzahlen der offiziellen Todesursachenstatistik des Jahres 2020 in vier Altersgruppen ausgewertet und den Fallzahlen der Jahre 2017 bis 2019 gegenübergestellt (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2021). Der Herzinfarkt lässt sich in diesen Daten mit den ICD-Codes I21/I22 (akuter/rezidivierender Herzinfarkt) aufgreifen; für die bestmögliche Annäherung an die Hirninfarkte/-blutungen wurde die ICD-Gruppe I60–I69 (zerebrovaskuläre Krankheiten) genutzt. Dabei zeigte sich in der Todesursachenstatistik kein Hinweis auf eine erhöhte Sterblichkeit an Herzinfarkt oder zerebrovaskulären Krankheiten im Jahr 2020 (Tab. 5.7). Sowohl beim Herzinfarkt als auch bei den zerebrovaskulären Krankheiten liegen die Sterbefallzahlen des Jahres 2020 in allen untersuchten Altersgruppen innerhalb oder unterhalb der jeweiligen Sterbefallzahlen aus den Jahren 2017 bis 2019.

Tab. 5.7 Sterbefälle aufgrund von Herzinfarkt und zerebrovaskulären Krankheiten, 2020 im Vergleich zu 2017 bis 2019

Allerdings könnte die Todesursachenstatistik die Sterblichkeit der beiden Indikationen unterschätzen. Grundlage der Todesursachenstatistik ist das auf dem Totenschein angegebene Grundleiden, dessen valide Dokumentation Gegenstand einer langanhaltenden Diskussion ist (Gleich et al. 2019). Zudem mag auch die Zuordnung der zugrunde liegenden Todesursache und der Begleiterkrankung bei parallelem Auftreten von Covid-19 und Herzinfarkt oder Schlaganfall besonders herausfordernd sein. Bei infizierten Herzinfarkt- und Schlaganfalltoten könnte deshalb auf dem Totenschein die Covid-19-Erkrankung angegeben worden sein, obwohl der Infarkt ursächlich war. Darum wurde ergänzend die Anzahl der Covid-19-Todesfälle mit Begleiterkrankung Herzinfarkt oder zerebrovaskuläre Krankheit geschätztFootnote 3 und unter der Maximalannahme, dass bei Sterbefällen mit Covid-19 und Herzinfarkt bzw. Schlaganfall fälschlicherweise durchgängig Covid-19 als Todesursache angegeben wurde, vollständig den Herzinfarkt- bzw. Schlaganfalltoten hinzugerechnet. Aufgrund der geschätzten Häufigkeit von Herzinfarkten unter den 39.761 Covid-19-Sterbefällen des Jahres 2020 ergäben sich 1.292 weitere Herzinfarkt-Todesfälle (Tab. 5.7). Selbst inklusive deren Anzahl würde sich die Sterbefallzahl der Herzinfarkte innerhalb der Spannbreite der Jahre 2017 bis 2019 bewegen. Bei den zerebrovaskulären Krankheiten ergäben sich weitere 4.672 Schlaganfalltodesfälle. Rechnerisch müsste bei mindestens 45 % aller offiziellen Todesursachen bei parallelem Auftreten von Covid-19 und Schlaganfall eine Fehldokumentation vorliegen, damit das Maximum der drei Vorjahre überschritten würde.

4 Diskussion

In der Frühphase der Pandemie hat die Zahl der Klinikbehandlungen aufgrund von akutem Herzinfarkt oder Schlaganfall weltweit in vielen Ländern abgenommen (Baumhardt et al. 2021; Romoli et al. 2021). Auch in deutschen Kliniken wurde im Frühjahr 2020 ein deutlicher Rückgang dieser Notfallbehandlungen beobachtet (Augurzky et al. 2020; Drogan et al. 2020; Richter et al. 2021a, 2022; Behrendt et al. 2021; Scholz 2020; Rattka et al. 2020; Stöwhas und Lippert 2021; Dreger et al. 2020). Die vorliegende Studie erweitert und vertieft diese früheren Untersuchungen und charakterisiert erstmals die Fallzahlentwicklung, Patientenzusammensetzung, Sterblichkeit und stationäre Versorgung von AOK-Versicherten mit Herzinfarkt oder Schlaganfall im gesamten ersten Pandemiejahr (d. h. März 2020 bis Februar 2021). Die Auswertungen der drei wesentlichen Pandemiephasen dieses Zeitraums zeigen im Vergleich zum Vorjahr folgende Auffälligkeiten:

  • Die Fallzahlen aller untersuchten Notfallindikationen gingen in der ersten Pandemiewelle (März bis Mai 2020) am stärksten zurück, lagen aber auch in der zweiten Pandemiewelle (Oktober 2020 bis Februar 2021) deutlich unter dem Vorjahresniveau.

  • In den Sommermonaten mit niedrigen Inzidenzen (Juni bis September 2020) lagen die STEMI-Fallzahlen minimal über und alle anderen Notfallindikationen unter dem Vorjahresniveau. Die Abweichung der Fallzahlen im Vergleich zum Vorjahr fiel aber deutlich geringer aus als in den ersten beiden Pandemiewellen.

  • Indikationen mit leichterer oder vorübergehender Symptomatik (NSTEMI, TIA) wiesen in allen drei Pandemiephasen stärkere Fallzahlrückgänge auf als Indikationen mit schwerer Symptomatik (STEMI, Hirninfarkt/-blutung)

  • Bei Behandlungsfällen mit Hirninfarkt/-blutung war während der ersten und zweiten Pandemiewelle ein relativer, nicht jedoch ein absoluter Anstieg von neurologischen Symptomen und 30-Tage-Sterblichkeit zu beobachten. STEMI-Fälle wiesen in allen drei Pandemiephasen eine leicht erhöhte Komplikations- und Sterblichkeitsrate auf, die Unterschiede zum Vorjahr waren jedoch meist nicht signifikant.

  • In allen Pandemiephasen wurden anteilig weniger Non-Covid-Notfälle von einer Vertragsärztin oder einem Vertragsarzt eingewiesen oder nach Krankenhausaufnahme weiterverlegt. Die Krankenhaus-Verweildauer lag durchweg signifikant unter dem Vorjahresniveau.

  • Während der beiden Pandemiewellen wurde ein höherer Anteil an Herzinfarkt-Fällen mit PCI behandelt – und diese Behandlung erfolgte häufiger bereits am Aufnahmetag. In der Lockerungsphase erhielten dagegen nicht nur anteilig, sondern auch absolut weniger STEMI-Fälle eine PCI als im Vorjahreszeitraum.

  • Die Behandlung von Hirninfarkten/-blutungen und TIA erfolgte in allen drei Pandemiephasen häufiger auf einer Stroke Unit (= Anstieg der Behandlungsfälle mit neurologischer Komplexbehandlung), allerdings nur relativ zur gesunkenen Gesamtzahl der Patienten mit Hirninfarkten/-blutungen und TIA betrachtet. Während der zweiten Pandemiewelle ging der relative Anteil der Schlaganfälle mit länger als 72 h andauernder neurologischer Komplexbehandlung zurück.

  • Die Lysetherapie fand bei Hirninfarkten in allen drei Pandemiephasen prozentual auf dem Vorjahresniveau statt, die absoluten Zahlen durchgeführter Thrombolysen waren in der Pandemie allerdings deutlich geringer. Die absoluten Thrombektomiezahlen lagen etwa auf Vorjahresniveau oder leicht darüber, wodurch die Thrombektomierate durchweg höher war als im Vorjahr.

  • Aus einer ergänzenden Auswertung der offiziellen Sterbefallzahlen ergeben sich keine Hinweise auf eine Übersterblichkeit bei Herzinfarkten oder zerebrovaskulären Krankheiten.

Keine Reduktion interventioneller Therapien

Die vorliegende Analyse betrachtet mit Herzinfarkt und Schlaganfall häufige Notfallindikationen, die dringlich stationär behandlungsbedürftig sind. Jeder Behandlungsverzug erhöht das Risiko für Folgeschäden, bleibende Behinderungen und vorzeitiges Versterben. Insofern ist es ein wichtiges Ergebnis dieser Studie, dass es im ersten Pandemiejahr – und hier insbesondere in Phasen mit hohem Covid-19-Infektionsgeschehen – in deutschen Kliniken zu einem Rückgang von Herzinfarkt- und Schlaganfallbehandlungen gekommen ist, der mutmaßlich nicht auf einer Reduktion der stationären Behandlungskapazitäten beruhte. Zwar mag es zeitlich bzw. regional begrenzte Kapazitätsengpässe gegeben haben, aber die notwendigen therapeutischen Maßnahmen wie Notfall-PCI bei STEMI und Lyse-Behandlung bei Apoplex waren verfügbar und sind quantitativ in ähnlicher Zahl durchgeführt worden.

Aus der ersten Pandemiewelle war bereits bekannt, dass interventionelle Therapien bei Herzinfarkten und Schlaganfällen prozentual zur Gesamtzahl der Betroffenen mindestens auf dem Niveau des Vorjahres stattfanden (Drogan et al. 2020; Seiffert et al. 2020; Richter et al. 2021a, 2021b; Scholz et al. 2020). Die vorliegenden Auswertungen bestätigen dieses Ergebnis nun auch für die zweite Pandemiewelle, in der die Kliniken mit deutlich mehr Covid-19-Erkrankten konfrontiert waren als im Frühjahr 2020. Richter et al. (2022) berichten für die Hirninfarktversorgung in Deutschland für alle Pandemiephasen 2020 gegenüber 2019 erhöhte Thrombektomieraten. Gleichzeitig wurde in der Studie auf Basis bundesweiter Krankenhausabrechnungsdaten bei ansonsten konstanten Interventionsraten ein Rückgang des Anteils der Hirninfarkt-Fälle, die zwischen Oktober und Dezember 2020 eine Lysetherapie erhielten, um 1 % gegenüber dem Vorjahreswert festgestellt. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die Gesamtzahl der zugewiesenen Hirninfarktpatienten geringer und deren Schweregrad eher ausgeprägter war. Bei einem numerisch reduzierten Patientenkollektiv mit schwereren Hirninfarkten sind zunächst einmal höhere Thrombolyseraten und höhere Thrombektomieraten zu erwarten, da die Indikation zu diesen Maßnahmen häufiger gegeben ist. Die Absolutzahlen der Thrombolyse sind aber in der Pandemie zurückgegangen, in unserem Kollektiv in der 1. Welle um 341 (−10,3 %), in der 2. Welle um 610 (−11,1 %). Die Thrombektomiezahlen steigen in Deutschland seit 2016 rapide an, konkret von 2016 bis 2019 von 9.795 auf 16.135 Fälle (Richter et al. 2021b). Diese Dynamik lässt sich von 2019 auf 2020 in den hier analysierten Zahlen nicht erkennen. Die Konstanz der Thrombolyseraten und leichte Zunahme der Thrombektomieraten beim Hirninfarkt kann also nicht ohne Weiteres als Evidenz für eine unbeeinträchtigte oder gar verbesserte Versorgung mit kausalen und interventionellen Therapien in der Pandemie gewertet werden. Unsere Auswertungen zeigen aber, dass auch zeitkritische Therapien wie die Lysetherapie bei Hirninfarkten und die PCI bei Herzinfarkten in Phasen mit hohem Covid-19-Infektionsgeschehen auf hohem Niveau durchgeführt wurden. Beim Herzinfarkt stieg während der Pandemiewellen sogar der Anteil der PCI-Behandlungen am Aufnahmetag.

Weniger Verlegungen

Während des ersten Pandemiejahres wurde ein geringerer Anteil der Behandlungsfälle mit Herzinfarkt oder Schlaganfall nach dem Indexaufenthalt in eine andere Klinik weiterverlegt als im Vorjahr. Da die PCI bei Herzinfarkten und die neurologische Komplexbehandlung bei Schlaganfällen auch in der Pandemie auf einem stabilen Niveau stattgefunden haben, scheint der Rückgang der Verlegungen nicht zulasten notwendiger Diagnostik und Therapie gegangen zu sein. Möglicherweise reflektiert die niedrigere Verlegungsrate einen Rückgang von Behandlungsfällen, die selbständig (d. h. ohne ärztliche Einweisung/ohne Einbindung des Rettungsdienstes) in den Notaufnahmen vorstellig wurden. Aufgrund fehlender medizinischer Kenntnisse steuern solche Patientinnen und Patienten zum Teil Kliniken an, die nicht auf die Behandlung von Herzinfarkten oder Schlaganfällen spezialisiert sind. Dies zieht Verbringungen oder Verlegungen nach sich, die Zeit kosten und eigentlich vermeidbar wären.

Mögliche Ursachen für den Fallzahlrückgang in den Kliniken

Der zentrale Treiber hinter den Fallzahlrückgängen in den Kliniken dürfte gewesen sein, dass die Bevölkerung einen nicht unbedingt für nötig gehaltenen Krankenhausaufenthalt vermeiden wollte, was dazu geführt hat, dass Betroffene seltener die „112“ alarmiert haben. Leider liegen in den AOK-Abrechnungsdaten keine Informationen dazu vor, welche Personen durch einen Notarzt, durch einen Rettungsdienst ohne Einbindung eines Notarztes oder selbständig in den Notaufnahmen vorstellig wurden. Für die erste Pandemiewelle ist in anderen Studien ein Rückgang der Selbstvorstellenden mit Herz- oder Hirninfarkt um mehr als 50 % beschrieben (DGN 2020; Stöwhas und Lippert 2021).

Zwischen 15 und 25 % aller AOK-Versicherten mit Herzinfarkt oder Schlaganfall wurden vor Ausbruch der Pandemie durch einen Vertragsarzt bzw. eine Vertragsärztin ins Krankenhaus eingewiesen. Während der ersten beiden Pandemiewellen sank dieser Anteil bei Behandlungsfällen mit STEMI, Hirninfarkt/-blutung und TIA deutlich. Tanislav et al. (2021) zufolge gingen die in allgemeinärztlichen Praxen erstmals kodierten (inzidenten) Herzinfarkte, Schlaganfälle und TIA zwischen April und Juni 2020 um 9, 10 und 16 % zurück. Die Ergebnisse beider Studien dürften mit der Inanspruchnahme ambulanter Leistungen erklärbar sein, die während der ersten beiden Pandemiewellen deutlich unter dem Vorjahresniveau lag. So wurde im hausärztlichen und kardiologischen Versorgungsbereich im April 2020 gegenüber dem Vorjahr ein Rückgang der ambulanten Behandlungsfälle um > 20 % verzeichnet (Mangiapane et al. 2021). Obwohl nur während der ersten Pandemiewelle formelle Barrieren zur ambulanten Versorgungsangeboten bestanden haben (z. B. reduzierte ambulante Sprechzeiten (KBV 2020)), waren auch während der zweiten Pandemiewelle – und hier insbesondere mit Beginn der verschärften Kontaktbeschränkungen ab November 2020 – weniger ambulante Behandlungsfälle zu verzeichnen als im Vorjahr (Mangiapane et al. 2021). Die Vermutung ist somit naheliegend, dass sich Patientinnen und Patienten während der Pandemiewellen bewusst gegen eine ambulante Behandlung entschieden haben.

Für den STEMI ist auch ein Rückgang von Infarkten beschrieben, die während des Krankenhausaufenthalts auftreten (Scholz et al. 2020). Diese treten beispielsweise infolge großer operativer Eingriffe auf, die – soweit sie planbar waren – in beiden Pandemiewellen vielfach abgesagt wurden, um Behandlungskapazitäten für Covid-19-Erkrankte freizuhalten. Außerdem könnten die Vorgaben zur sozialen Isolation dazu beigetragen haben, dass Notfallpatientinnen und -patienten häufiger bereits vor Krankenhausaufnahme verstarben, da seltener Zeugen anwesend waren, die den Notarzt kontaktieren konnten. Zumindest traten Herz-Kreislauf-Stillstände im Jahr 2020 häufiger im häuslichen Umfeld auf, wurden seltener durch Laien beobachtet und ein geringerer Anteil der Betroffenen erreichte lebend das Krankenhaus (Fischer et al. 2021). Eine weitere Ursache könnte das strikte Quarantäne-Management in Pflegeheimen während der Covid-19-Pandemie darstellen. So diskutieren Kohl et al. (2021) die massiven Rückgänge der Krankenhausbehandlungen von Pflegeheimbewohnenden während der ersten Pandemiewelle, von denen auch Herzinfarkt- und Schlaganfallbehandlungen betroffen waren, im Zusammenhang mit einer möglichen gesundheitlichen Unterversorgung.

Stärkerer Fallzahlrückgang bei Indikationen mit milderer Symptomatik

Sowohl bei den ärztlichen Einweisungen als auch bei den Selbstvorstellenden dürfte es sich primär um Behandlungsfälle mit leichterer Symptomatik oder abgeschwächter Symptomwahrnehmung handeln, da bei besonders schwerer Symptomatik (z. B. Lähmungserscheinungen bei Hirninfarkt, kardiogener Schock bei Herzinfarkt) der Rettungsdienst nach telefonischer Aktivierung der Rettungskette über „112“ der wahrscheinlichste Einweisungsweg ins Krankenhaus ist. Das spricht insgesamt dafür, dass verstärkt Betroffene den Kliniken ferngeblieben sind, die sich noch eigenständig für oder gegen eine medizinische Behandlung entscheiden konnten – und dies im Zuge der Pandemie bewusst abgewählt haben.

Ein weiteres Anzeichen dafür, dass überproportional viele Notfälle mit milderer Symptomatik den Kliniken ferngeblieben sein könnten, lässt sich aus der vergleichenden Fallzahlentwicklung der vier untersuchten Notfallindikationen ableiten. So war bei den NSTEMI-Fällen in der vorliegenden Arbeit und in weiteren Studien ein stärkerer Fallzahlrückgang zu beobachten als bei den STEMI-Fällen (Augurzky et al. 2020; Baumhardt et al. 2021; Dreger et al. 2020). Zwar ist auch der NSTEMI ein akut lebensbedrohliches und stationär behandlungsbedürftiges Ereignis, aber in der Regel handelt es sich dabei um ein kleineres Infarktgeschehen als beim STEMI, mit geringerer Schädigung des Herzmuskelgewebes und dementsprechend schwächerer bzw. unspezifischer Symptomatik. Außerdem wichen die Fallzahlen bei den vorübergehenden zerebralen Ischämien (TIA) in allen drei Pandemiephasen deutlich stärker vom Vorjahresniveau ab als die Fallzahlen von Schlaganfällen in Form von Hirninfarkt bzw. Hirnblutung. Diese Ergebnisse decken sich in der Tendenz mit Beobachtungen aus der ersten Pandemiewelle (Seiffert et al. 2020; Richter et al. 2021a). Auch eine Analyse auf Basis der bundesweiten Krankenhausabrechnungsdaten belegt für das Jahr 2020 gegenüber 2019 einen Rückgang der stationären Hirninfarkt-Behandlungen um 4 %, während TIA-Behandlungsfälle um 11 % zurückgingen (Augurzky et al. 2022). Im Gegensatz zu den schweren Schlaganfällen, die bleibende Funktionsstörungen hervorrufen, bilden sich TIA binnen 24 h, oft bereits innerhalb von einer Stunde wieder zurück. Da die TIA-Symptome aufgrund der Reversibilität als weniger bedrohlich empfunden werden als die Symptome bei Hirninfarkten/-blutungen, werden die Betroffenen oft erst nach hausärztlicher Konsultation oder Rücksprache mit Familienmitgliedern dem Krankenhaus zugeführt. Demzufolge ist der besonders deutliche Fallzahlrückgang bei den TIA ein weiteres Indiz für ein von der Bevölkerung ausgehendes Vermeidungsverhalten als wesentlicher Treiber der niedrigeren Behandlungszahlen.

Für den medizinischen Laien mag es verwundern, dass solch ein Vermeidungsverhalten selbst bei Notfallindikationen mit schwerer Symptomatik (STEMI, Hirninfarkten/-blutungen) zu einem Fallzahlrückgang geführt haben kann. Allerdings unterscheiden sich Behandlungsfälle mit STEMI oder schwerem Schlaganfall nicht nur im Hinblick auf Ausmaß und Lokalisation des Infarktes bzw. der Blutung; auch die individuelle Symptomwahrnehmung und -bewertung kann durchaus zu einem absichtlichen Behandlungsverzug beitragen, wie Studien bei Herzinfarkt-Überlebenden nahelegen (Sancassiani et al. 2021). Wahrscheinlich wurde im Zuge der Pandemie die Angst vor einer Covid-19-Infektion oder die Sorge vor überlasteten stationären Behandlungskapazitäten als relevanter eingestuft als die Symptome, die auf einen möglichen Herzinfarkt bzw. Schlaganfall hinwiesen. Auch die z. T. dramatisierende mediale Berichterstattung könnte die Risikoabwägung der Bevölkerung in der Pandemie beeinflusst haben. Zumindest legen Befragungsergebnisse von STEMI-Patientinnen und -Patienten einen Zusammenhang zwischen medialer Berichterstattung und verzögerter Alarmierung des Notfalldienstes nahe (Rattka et al. 2021). Auffällig ist, dass selbst während der Lockerungsphase die Fallzahlen für NSTEMI und Hirninfarkt/-blutung leicht, bei TIA sogar deutlich unter dem Vorjahresniveau lagen, obwohl i) das Infektionsgeschehen in dieser Zeit auf sehr niedrigem Niveau stattfand, ii) die wenigen Eindämmungsmaßnahmen ein weitgehend normales Leben ermöglichten und iii) in den Medien der Fallzahlrückgang während der ersten Pandemiewelle wiederholt aufgegriffen und auf die Risiken eines Behandlungsverzugs bei Herzinfarkten und Schlaganfällen hingewiesen wurde. Das lässt auf sehr nachhaltige Veränderungen in der Risikowahrnehmung der Betroffenen schließen, sofern ein Verzögerungs- oder Vermeidungsverhalten tatsächlich der Treiber hinter den Fallzahlrückgängen bei Herzinfarkten und Schlaganfällen war. Ein Verzögerungsverhalten lässt sich mit Routinedaten allerdings nicht abbilden, da keine Angaben zum Zeitpunkt des Notfallereignisses und zur Aktivierung der Rettungskette vorliegen. Darüber hinaus darf beispielsweise der akute Herzinfarkt bis zu 28 Tage nach Beginn des Infarktes kodiert werden, weshalb sich unter der Hauptdiagnose sowohl akute als auch subakute Fälle bündeln.

In den Pandemiewellen tendenziell höhere Erkrankungsschwere und Sterblichkeit bei STEMI und Hirninfarkt/-blutung

Die Erkrankungsschwere und Sterblichkeit der Behandlungsfälle mit Herzinfarkt oder Schlaganfall sind zentrale Parameter zur Bewertung der negativen Folgen, die als Konsequenz verzögerter oder vermiedener Notfallbehandlungen im Krankenhaus zu vermuten wären. Auffällige Veränderungen zeigten sich hier ausschließlich beim STEMI und den Hirninfarkten/-blutungen. Bei beiden Indikationen gingen die Fallzahlrückgänge während der Pandemiewellen mit einem relativen Anstieg von Begleiterscheinungen und Symptomen einher, die als Ausdruck eines besonders schweren Ereignisses interpretiert werden können (z. B. kardiogener Schock bei STEMI, Hemiparese/Hemiplegie nach Hirninfarkt/-blutung). Auch die 30-Tage-Sterblichkeit war in beiden Pandemiewellen erhöht. Die Unterschiede zum Vorjahresniveau erreichten nicht bei allen untersuchten Studienvariablen statistische Signifikanz, zeigen aber in der Tendenz in die gleiche Richtung, was einen Zufallsbefund unwahrscheinlich macht. Außerdem zeigen auch die gesamtdeutschen Daten für diese beiden Notfallindikationen einen schrittweisen Anstieg der Krankenhaussterblichkeit von 2019 auf 2020 und darüber hinaus auf 2021 (Jan–Mai) (Augurzky et al. 2022).

Bei der Bewertung der Studienergebnisse zu Erkrankungsschwere und Sterblichkeit ist unbedingt zwischen absoluten und relativen Veränderungen zu unterscheiden. In beiden Pandemiewellen stieg der Anteil der Behandlungsfälle mit STEMI oder Hirninfarkt/-blutung, die schwere Begleiterkrankungen aufwiesen oder innerhalb von 30 Tagen verstarben. Absolut betrachtet traten schwere Begleiterkrankungen und Todesfälle während der Pandemiewellen jedoch seltener auf als in den Vorjahresperioden. Die einzige Ausnahme bildeten dabei die prähospitalen Herzstillstände, deren absolute Fallzahl bei AOK-Versicherten im ersten Pandemiejahr etwas höher lag als im Vorjahr. Dem deutschen Reanimationsregister zufolge gab es zwischen 2019 und 2020 jedoch keine Veränderung bei der Reanimationshäufigkeit (Fischer et al. 2021). Sofern die Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen in der Pandemie nicht gesunken ist, kann ein absoluter Rückgang schwerer Begleiterkrankungen und Todesfälle nur damit erklärt werden, dass auch Behandlungsfälle mit schwereren Erkrankungsformen und dementsprechend schwererer Symptomatik den Kliniken ferngeblieben sind. Gleichwohl muss der Fallzahlrückgang bei Behandlungsfällen mit milderer Symptomatik deutlich ausgeprägter gewesen sein, damit sich die Patientenzusammensetzung während der Pandemiewellen in Richtung einer erhöhten Sterblichkeitsrate verschieben konnte.

Durchschnittliche bis unterdurchschnittliche Sterbefallzahlen für Herzinfarkt und zerebrovaskuläre Krankheiten in Deutschland

Jeder Behandlungsverzug erhöht bei Herzinfarkten und Schlaganfällen das Sterblichkeitsrisiko und das Risiko für bleibende Schäden. Insofern ist davon auszugehen, dass ein Teil der vermuteten unbehandelten Patientinnen und Patienten außerhalb des Krankenhauses verstarb, was sich insgesamt in einer Übersterblichkeit äußern sollte. Tatsächlich war 2020 ein Jahr, in dem viele Länder weltweit eine deutliche Übersterblichkeit zu verzeichnen hatten (Vestergaard et al. 2020; Islam et al. 2021). Diese ging zwar zum größten Teil auf Covid-19-Sterbefälle zurück, aber beispielsweise in Spanien waren die Non-Covid-Sterbefälle für ca. ein Drittel aller zusätzlichen Toten verantwortlich, in Polen sogar für mehr als die Hälfte (Islam et al. 2021). Auch über einen Anstieg der kardiovaskulären Sterblichkeit wurde in Ländern mit einem temporär oder lokal überlastetem Krankenhaussektor bereits mehrfach berichtet (Zhu et al. 2021; Kontopantelis et al. 2021; Brant et al. 2020).

In Deutschland verstarben im Jahr 2020 insgesamt 958.572 Menschen, was gegenüber 2019 einer Übersterblichkeit um 4,9 % entspricht (Statistisches Bundesamt 2021). Die im Jahr 2020 dokumentierten Sterbefälle aufgrund von zerebrovaskulären Krankheiten oder Herzinfarkt liegen zumindest in einer ergänzenden Auswertung der Todesursachenstatistik nicht über den entsprechenden Zahlen der Jahre 2017 bis 2019, anstelle der vermuteten kardiovaskulären Übersterblichkeit fielen die Sterbefallzahlen im Vergleich zu den Vorjahren sogar relativ niedrig aus. In den Krankenhaus-Sterbefällen gibt es eine relevante Anzahl von Fällen, bei denen neben Covid-19 auch ein Herzinfarkt kodiert wurde, wobei aus den Routinedaten nicht abgeleitet werden kann, ob die Patientinnen und Patienten mit oder wegen Covid-19 verstarben. Aber selbst unter der Maximalannahme, dass alle Patientinnen und Patienten mit Covid-19 und Herzinfarkt an letzterem gestorben wären, wäre die Herzinfarktsterblichkeit in der Todesursachenstatistik nicht höher als in den drei Jahren zuvor.

Eine allgemeine Herzinfarkt-Übersterblichkeit scheint es im Jahr 2020 in Deutschland also nicht gegeben zu haben, obwohl 2020 im Vergleich zu 2019 14.204 weniger Herzinfarkt-Fälle in deutschen Kliniken behandelt wurden (−4 %) (Augurzky et al. 2022). Auch dieses Ergebnis stützt die These, dass insbesondere Fälle mit milderer Symptomatik den Kliniken ferngeblieben sind, bei denen – aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Sterblichkeit – kein deutlicher Anstieg der Gesamtsterblichkeit beim Herzinfarkt zu erwarten ist. Die analogen Auswertungen zu den zerebrovaskulären Krankheiten, die als Surrogat für schwere Schlaganfälle ausgewertet wurden, lassen dagegen keine so klare Deutung zu. Hier könnte die zusätzliche Berücksichtigung von Covid-19-Todesfällen mit zerebrovaskulärer Begleiterkrankung die Schlaganfall-Sterbefälle über das Niveau der Jahre 2017 bis 2019 heben. Hinzu kommt, dass bei Covid-19 aufgrund prothrombogener Effekte mit einer erhöhten Zahl an Schlaganfällen vor allem bei schwer betroffenen Covid-19-Patienten zu rechnen ist. In der Gesamtbetrachtung der Pandemiefolgen für die Herzinfarkt- und Schlaganfallbehandlung muss bedacht werden, dass die Sterblichkeit nur ein, aber nicht der einzige relevante Indikator für die Behandlungsqualität ist (Misselwitz et al. 2020; Scholz 2020). Bei der Bewertung der Sterblichkeitsdaten ist weiterhin zu beachten, dass die meisten Covid-19-Todesfälle im Jahr 2020 bei Hochbetagten (Altersgruppe 80+) auftraten. Das ist zugleich die Altersgruppe mit den meisten Herzinfarkt- und Schlaganfall-Todesfällen. Somit stehen diese Todesursachen in direkter Konkurrenz zueinander. Schätzungen zufolge gingen im Jahr 2020 in Deutschland 305.641 Lebensjahre durch Covid-19 verloren, pro Covid-19-Sterbefall waren es durchschnittlich 9,6 verlorene Lebensjahre (Rommel et al. 2021). Das ist letztendlich Lebenszeit, die nicht mehr für einen tödlichen oder stationär behandlungsbedürftigen Herzinfarkt oder Schlaganfall zur Verfügung steht. Zumindest teilweise könnte auf diesen Effekt der Rückgang der stationären Behandlungsfälle und die leicht unterdurchschnittliche kardiovaskuläre Sterblichkeit zurückzuführen sein.

Zusammenfassend zeigt die vorliegende Studie, dass in den ersten beiden Wellen der Covid-19-Pandemie deutlich weniger AOK-Versicherte mit Herzinfarkt oder Schlaganfall im Krankenhaus behandelt wurden als in den Vorjahreszeiträumen, während die notwendigen therapeutischen Maßnahmen quantitativ in gleichem Ausmaß vorgenommen wurden wie vor der Pandemie. Auch wenn die zugrunde liegenden Ursachen der Fallzahlrückgänge nicht geklärt werden können, legen die Ergebnisse nahe, dass insbesondere Betroffene mit milderer bzw. vorübergehender Symptomatik den Kliniken ferngeblieben sind, was wiederum die Hypothese eines bewussten Vermeidens notwendiger Krankenhausbehandlungen stützt. Dafür spricht der stärkere Fallzahlrückgang bei Behandlungsfällen mit TIA im Vergleich zu Hirninfarkt/-blutung und bei NSTEMI im Vergleich zu STEMI. Auch der relative Anstieg der 30-Tage-Sterblichkeit, der bei Behandlungsfällen mit STEMI oder Hirninfarkt/-blutung während der Pandemiewellen zu beobachten war, könnte u. a. auf einen überproportionalen Fallzahlrückgang weniger schwer erkrankter Patientinnen und Patienten zurückzuführen sein. Eine kardiovaskuläre Übersterblichkeit scheint es im Jahr 2020 nicht gegeben zu haben, wie ergänzende Auswertungen der Todesursachenstatistik zeigen. Dieses Ergebnis sollte jedoch nicht zum Anlass genommen werden, die rückläufigen stationären Herzinfarkt- und Schlaganfallbehandlungen während der Pandemiewellen zu bagatellisieren. Gerade in Zeiten mit hohem Covid-19-Infektionsgeschehen sind gezielte und wiederholte Aufklärungskampagnen notwendig, um die Bevölkerung für die notwendigen diagnostischen und therapeutischen Schritte bei Herzinfarkt- oder Schlaganfallsymptomen zu sensibilisieren.