Zusammenfassung
Wenn wir von der Schule als Bildungsinstitution sprechen, stellen sich zwingend zwei Fragen: Was ist mit „Bildung“ in diesem Zusammenhang eigentlich gemeint? Sowie: Welche Teilbereiche davon fallen in das Aufgabenfeld der Schule? Für den Unterricht der (modernen) Physik stellt sich die zweite Frage noch pointierter. In der öffentlichen Wahrnehmung werden den Naturwissenschaften eher selten genuin allgemeinbildende Qualitäten zugeschrieben (vgl. hierzu beispielsweise die Ergebnisse von van Ackeren et al. 2007). Vielleicht ist es also überhaupt nicht die Aufgabe des Physikunterrichts, zur Menschenbildung der daran teilnehmenden Schülerinnen und Schüler beizutragen und sie kann verlustlos anderen Disziplinen übertragen werden.
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Notes
- 1.
Das Schulgesetz nutzt die Begriffe Bildung und Erziehung nahezu synonym. Auch wenn die Abgrenzung der Begriffe bis heute in Deutschland (im Englischen gibt es die Unterscheidung nicht) Gegenstand intensiver Diskurse ist, lassen sich grobe Faustregeln zur Unterscheidung angeben: In bildenden Prozessen „bildet“ sich das Subjekt selbst, während das Objekt erzieherischer Anstrengungen hin zu normativen Zielen „erzogen“ wird. Insofern das Schulgesetz also einheitliche Ziele benennt, kann es nur von Erziehungszielen sprechen. Insofern diese aber freiheitlich-demokratische Haltungen mit einschließen, können sie nur durch Bildung erreicht werden.
- 2.
Die zweite, im Zitat anklingende Differenzierung von Adorno kann von uns als Appell verstanden werden, einen verständigen Umgang mit dem üblichen Fachjargon zu üben, aber auch die kompetente Souveränität sein, Unzulänglichkeiten zu kritisieren. Eine emanzipatorische Geste, auf die ich in Abschn. 4.3 zurückkomme.
- 3.
- 4.
Masse versteht sich hier in einem vereinfachten Sinn, wie er für die Quarks zwar nur begrenzt anwendbar, aber in der (Fach-)Literatur häufig anzutreffen ist.
- 5.
Die weit überwiegende Mehrzahl der Schulbücher verpasst es, Antimaterie adäquat, d. h. unter Bezugnahme auf die Ladungen, einzuführen. Zwei Narrative sind etabliert: (1) In Zusammenhang mit dem \(\beta ^-\)-Zerfall wird das Elektron-Antineutrino mit Verweis auf die Energieerhaltung eingeführt (vgl. etwa Grehn und Krause 2016, S. 486). Warum es sich bei dem abgestrahlten Teilchen um ein Antiteilchen handeln muss, ist für die Schülerinnen und Schüler, die ja die Leptonenzahlerhaltung nicht kennen, nicht nachvollziehbar. (2) Die negativen Lösungen der Dirac-Gleichung werden mit Positronen identifiziert (vgl. Kilian 2015, S. 157) was für die Schülerinnen und Schüler ebenso schwer nachvollziehbar ist. Die Beobachtungen der Spuren von Erzeugungs- und Vernichtungsprozessen in Nebelkammern bieten einen intuitiven Anlass, über die Ladungen und Eigenschaften der entstandenen Teilchen zu sprechen, wie es Grehn und Krause (Grehn und Krause 2016, S. 529) in Ansätzen tun.
- 6.
Siehe beispielsweise die Abb. 4.2.
- 7.
Die Bedeutung des Begriffs normativ unterscheidet sich hier von der in anderen Bereichen. In der Beschreibung von Entwicklungsaufgaben beinhaltet er weder Appell noch Wertung und wird rein deskriptiv zur Beschreibung derjenigen Entwicklungsaufgaben verwendet, deren Bewältigung sich zu gegebenem Zeitpunkt in gegebenem Kontext die deutliche Mehrheit der Jugendlichen widmet.
- 8.
In Deutschland sind beispielsweise Kindergarten, Grundschule, weiterführende Schule, Berufsausbildung und deren Abschluss bildungssystemabhängig an das Lebensalter der Heranwachsenden geknüpft. Die Erwartungen des Umfelds an ein Kindergartenkind sind andere als an ein Grundschulkind oder eine Schülerin bzw. einen Schüler einer weiterführenden Schule. In anderen Ländern werden diese Wechsel zu anderen Zeitpunkten vollzogen.
- 9.
Beispielsweise ist es in vielen westlichen Kulturen nicht ungewöhnlich, dass Heranwachsende bereits im Hinblick auf ihre Sexualität, Weltanschauung, politische Mitbestimmung, Mobilität und das Strafrecht vollkommen autonom sind, während sie im Hinblick auf ihre Wohnsituation und Finanzen noch für eine Zeit abhängig bleiben.
- 10.
Sekundär gibt es natürlich auch im familiären Bezug Erwartungen an das schulische Engagement, die von den Jugendlichen als Entwicklungsaufgaben übernommen werden können.
- 11.
Eine besonders prägnante Form ist die uneingeschränkte Anwendbarkeit des Strafrechts (vgl. etwa Flammer und Alsaker 2002, S. 301 f.).
- 12.
Die verhältnismäßig kurze Erwähnung des CERN im „Illuminati“-Zyklus von Dan Brown reichte in der Vergangenheit aus, um entsprechende Filmausschnitte mit Tom Hanks zum Ausgangspunkt mehrerer Vermittlungsentwürfe zu machen. In gleicher Form geschah dies mit der damaligen Titelseite der ZEIT zur Entdeckung des „Gottesteilchens“. Wirklich jugendrelevante Medien, wie Computerspiele, Fernsehserien und Social-Media-Kanäle, finden sich nur überaus selten als Kontexte für den Unterricht.
- 13.
Der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, dass all diese Themen auf der gegenüberliegenden Seite in einem Exkurskasten (Kilian 2015, S. 147) korrekt ausgeführt und in vorbildlicher Weise dargelegt werden. Lediglich das populäre Missverständnis, die Antiteilchen bewegten sich „in der Zeit rückwärts“ (ebd.), wäre noch zu kritisieren.
- 14.
Zwei entsprechende Beispiele finden sich im Beitrag von Zügge und Passon (Kap. 8).
- 15.
Anm. des Autors: Eine Abbildung der zwei Feynman-Diagramme in führender Ordnung für die Bhabha-Streuung (d. h. den Prozess \(e^+e^-\rightarrow e^+e^-\)) findet sich tatsächlich auf der gleichen Seite des Schulbuchs. Ein Hinweis auf höhere Ordnungen erst im Vertiefungskasten auf der gegenüberliegenden Seite. Ein Vergleich zwischen den beiden Prozessen findet nicht statt.
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Zügge, T. (2020). Mit moderner Physik zum mündigen Bürger?. In: Passon, O., Zügge, T., Grebe-Ellis, J. (eds) Kohärenz im Unterricht der Elementarteilchenphysik. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61607-9_4
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