Es gibt eine hervorragende Neuigkeit für die Kommunikation: Das Beamen ist erfunden! Zumindest fast: Wer ein Virtual-Reality-Headset aufsetzt und Kopfhörer dazu, der kann von einer Sekunde auf die andere den Raum wechseln. Er oder sie kann sich mit Menschen aus aller Welt an einem Ort treffen und dort mit ihnen spielen, sprechen und gemeinsam Neues erkunden.

Ich habe das für einige größere Recherchen seit 2016 immer wieder getan, ich habe faszinierende Menschen kennengelernt, die ich nie im sogenannten „echten“ Leben getroffen hätte – und ich habe gelernt, wie relativ dieses „echte“ Leben ist. Denn die virtuelle Realität (VR) ist nicht minder real als die materielle Realität, sie ist nur anders. Diese empirische Erkenntnis aus meinen Recherchen haben mir Philosophen und Psychologen bestätigt. Philosophen und Psychologen und einige andere sind ganz gespannt auf unsere Zukunft mit virtueller Realität. Und sie nutzen sie schon jetzt: Philosophen beispielsweise belegen mithilfe von VR, dass unser Bewusstsein nicht an unseren Körper gebunden ist. Psychologen erforschen, inwiefern sie Traumata in VR bearbeiten und Phobien kurieren können.

Sie begreifen VR als große Chance. Und das sollten wir Journalisten auch tun. Gerade im Bereich der Vermittlung von Wissenschaft hält sie einiges für uns bereit. Als VR-Reporterin auf der neuen Plattform www.riffreporter.de bin ich gerade dabei, mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung diesen Schatz zu heben. Doch schauen wir erst mal, was es schon gibt.

VR unterliegt zweifellos einem Hype und man sollte gut unterscheiden, welche Anwendungen Sinn ergeben und welche nur einem Hype folgen, ohne ein Problem zu lösen. Im Journalismus hat dieser Hype dazu geführt, dass die wahren Vorteile der neuen Technologie noch nicht entdeckt wurden. Mir sind kaum vielversprechende journalistische Projekte in der virtuellen Realität begegnet. Im Gegenteil: Manche halte ich gar für gefährlich.

In den ersten Jahren haben sich fast alle auf 360-Grad-Filme gestürzt – eine ganz andere, viel begrenztere Spielart der virtuellen Realität als jene künstlich gebauten Welten, jene eingangs erwähnten sozialen Treffpunkte in der VR. 360-Grad-Filme sind nur leider nach dem ersten „Wow!“-Effekt, den jeden ereilt, der so ein Headset zum ersten Mal aufsetzt, ziemlich langweilig. Ich habe einige ausprobiert, die angeblich zu den besten gehören, darunter einen über den Hunger in Afrika: In ihm stehe ich als Zuschauerin in einer Menge von Menschen, die zu einer Wasserstelle und wieder zurücklaufen. Manche habe Kanister auf dem Kopf. Und ja: Man kann sich, anders als im klassischen Fernsehen, in alle Richtungen umsehen. Man kann diese Menschen von vorne und von hinten sehen. Aber was ist der Gewinn?

All diesen Filmen ist gemein, dass es eben doch nur eine Blick-Richtung gibt, in der etwas geschieht, und in die der Betrachter oder die Betrachterin sinnvollerweise schaut: nämlich die, die im klassischen Film die Kameraperspektive wäre.

Was aber als irritierend hinzukommt, ist die Situation des Publikums: Als Zuschauerin schwebe ich wie ein Geist leicht erhöht über der Szene, unsichtbar natürlich für alle, die mir selbst so real vorkommen. Ein Geist, der nicht gesehen wird, der nichts tun kann, außer den Kopf zu drehen, der nicht einmal vom Fleck kommt. Das Publikum ist bei 360-Grad-Filmen mittendrin, aber gleichzeitig nicht wirklich da. Das ist unbefriedigend und es bringt keine Vorteile. Es fügt dem klassischen Film nichts hinzu, was wirklich von Vorteil ist. 360-Grad-Filme nutzen eine Innovation, ohne Nutzen aus ihr zu ziehen.

Zudem sehe ich eine Gefahr dabei: Es wird der Eindruck erweckt, „live“ dabei gewesen zu sein. Das könnte mehr als bisher dazu führen, dass unsere Rolle als Gatekeeper verwischt wird. Betrachterinnen und Betrachter denken aufgrund der Immersion: „Ich war ja selbst dabei, genau so ist es.“ Dabei waren sie nur an einem Ort, an dem eben auch die Kamera war. Sie sehen damit eben keine anderen, frei gewählten Blickwinkel, sondern nur jenen, den die Kameraleute für sie ausgewählt haben.

In der Folge dieser 360-Grad-Film-Schwemme wurde VR von vielen Journalistinnen und Journalisten euphorisch als „Empathie-Maschine“ bezeichnet. So könne man endlich das Publikum auf der emotionalen Ebene erreichen. Natürlich ist die Hoffnung nicht falsch: Die Immersion zieht tief ins Geschehen hinein. Wenn man aus der Perspektive eines Obdachlosen in die Welt schaut, kann man diesen vielleicht besser verstehen. Wer bei YouTube nach solchen Filmen sucht, findet allerdings vor allem welche von Aktivisten: Die Welt aus der Perspektive eines Schweines beispielsweise, das zum Schlachter geführt werden soll, soll Menschen zu Vegetariern machen.

Wir sind aber keine Aktivisten, sondern Journalisten.

Ähnliche Bedenken habe ich angesichts der wenigen journalistischen „echten“ VR-Produktionen, die mit Grafik arbeiten anstatt mit 360-Grad-Video, wie beispielsweise das Projekt über Isolationshaft des Guardian: Dort kann der Betrachter oder die Betrachterin via VR-Headset in einer Einzelzelle sitzen und erleben, wie beklemmend das ist. Hier wird sehr plastisch vermittelt, wie sich Isolationshaft anfühlt. Sehr beeindruckend. Vom Effekt hier ist das aus meiner Sicht aber eher ein journalistischer Kommentar als eine Geschichte: Wer diese acht Minuten in der virtuellen Einzelzelle verbringt, soll hinterher davon überzeugt sein, wie schlimm Isolationshaft ist. So gut dieses Anliegen ist – das Stilmittel transportiert eine deutliche Wertung. Und damit sollten wir vorsichtig sein oder zumindest entsprechende Stücke als solche kennzeichnen.

Dazu kommt, dass ich das Argument, unser Publikum auch emotional erreichen zu wollen, in Zeiten des Populismus für gefährlich halte. Emotionen führen häufig weg von Fakten. Emotionen lassen manche Menschen gar glauben, dass Fakten relativ oder überflüssig sind, eine Frage des Glaubens oder der Meinung. Mit Emotionen arbeiten in diesen Zeiten vor allem Populisten – und sie werden deshalb von einer „Empathie“-Maschine womöglich mehr profitieren als hehre journalistische Projekte.

Wir Journalisten hingegen sollten auf Fakten setzen und versuchen, Vertrauen zurückzugewinnen. Denn auch das ist eines unserer Probleme, das wir mit der Wissenschaft teilen: einen zu großen Abstand zu Teilen der Bevölkerung, die uns für nicht mehr glaubwürdig halten. Die gute Nachricht ist: Die virtuelle Realität hält die Lösung für all das bereit! Als VR-Reporterin bei den RiffReportern baue ich derzeit eine journalistische Plattform in der virtuellen Realität auf, einen sozialen VR-Treffpunkt mit journalistischen Inhalten, die sowohl Fakten wieder attraktiv macht als auch ermöglicht, manche Menschen wieder zu erreichen und uns mit ihnen auszutauschen.

Wofür Virtual Reality aus meiner Sicht nämlich sehr gut geeignet ist, sind eine Art begehbare interaktive Infografiken: Sei es eine Raumstation, ein Teilchenbeschleuniger, die Polarforschung, das menschliche Gehirn – Orte, an die man im „echten Leben“ nicht leicht hinkommt und die einiges an Erklärung bedürfen.

Die Bildungsforschung weiß heutzutage, dass wir Menschen am besten lernen, wenn wir Dinge selbst erforschen und wenn wir mit ihnen interagieren können, sie anfassen. Gleichzeitig sind viele Dinge, über die wir im Wissenschaftsjournalismus berichten, in der „echten Welt“ nicht anfassbar. Oft nicht einmal sichtbar. Quanten beispielsweise, das Weltall, unser Gehirn. Die virtuelle Realität bietet hier den Vorteil, dass wir diese Dinge virtuell dreidimensional nachbauen und gemeinsam mit unserem Publikum interaktiv erforschen können.

Mein Projekt der VR-Reporterin ist ein journalistischer Raum in der virtuellen Realität, in dem ich mich mit meinem Publikum treffen und in den ich Experten einladen kann für öffentliche Interviews. Diese Räume sollen sich anpassen an das Thema: Beispielsweise können wir gemeinsam durch ein Gehirn gehen und dabei mit einem Hirnforscher diskutieren, wieso sich die virtuelle Realität so real anfühlt. Oder auf anderen Planeten landen und mit einem Astronomen die dortigen Phänomene besprechen. Wir können mit diesen virtuellen Objekten interagieren, beispielsweise beobachten, wie sich Quanten verhalten oder Neuronen im Gehirn und vieles mehr.

In diesem Raum werde ich meiner Rolle gemäß nicht „gemeinsame Sache“ mit Wissenschaftlern machen – ich werde sie weiterhin kritisch befragen; und das unter den Augen und der Beteiligung meines Publikums. In manchen Kreisen wird derzeit diskutiert, ob wir eine Allianz aus Wissenschaft und Journalismus brauchen. Schließlich leiden beide unter der Glaubwürdigkeitskrise. Ich halte das für falsch: Es würde uns nur noch unglaubwürdiger machen. Die Lösung ist aus meiner Sicht, unsere Rollen beizubehalten, sie radikal transparent zu machen und ins Gespräch zu gehen – öffentlich und persönlich. Wir als Journalisten bleiben die Anwälte unseres Publikums, die Dinge kritisch einordnen, die nachfragen und aufdecken. Und unser Publikum kann live dabei sein in der virtuellen Realität – und selbst kritisch nachfragen.

Nun könnte der Einwand kommen: „In der virtuellen Realität triffst du doch ohnehin nur die Avantgarde, wer kann sich schon so ein Headset leisten?“ Aber nein: Meine Erfahrungen sind anders. Ich habe in der virtuellen Realität Leute getroffen, die zwischenzeitlich obdachlos waren. Oder schwer kranke Menschen. Die ihr letztes Geld ausgegeben haben, um wenigstens weiterhin in der VR unterwegs sein zu können. Natürlich sind dort auch jede Menge wohlhabende Nutzer. Aber wir dürfen uns unserer Sache nicht zu sicher sein: Die Skepsis gegenüber dem Journalismus ebenso wie der Wissenschaft ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Diese Menschen müssen wir wieder erreichen. Es sind auch – aber nicht nur – junge Menschen, die ohnehin keine Zeitung mehr lesen, die klassischen Journalismus nicht als etwas begreifen, das ihrem Informations-Konsum Qualität hinzufügt. Meine Erfahrung ist: Wenn sie verstehen, was unsere Arbeit ausmacht, wie viel Arbeit in einem guten Artikel steckt, wie kritisch wir nachfragen, um ihnen nur faktengeprüfte Informationen zukommen zu lassen – dann verstehen sie auch, wieso Journalismus wichtig ist für die Demokratie. Wir können diese Menschen nur erreichen durch radikale Offenheit und indem wir uns den Diskussionen stellen, am besten persönlich. Die Technologie ist eine wertvolle Brücke hin zu ihnen. Ich habe kürzlich einen Psychiater interviewt, der Trauma-Therapie in der virtuellen Realität anbietet. Er meinte, seither erreicht er eine ganz andere Zielgruppe: junge Männer, die sich nie mit ihrem Leiden beschäftigen würden. Sie kommen vor allem, weil sie die Technologie spannend finden. Nun ist ein Kanal offen zu ihnen.

Als Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten sollten wir diesen Kanal ebenfalls nutzen. Durch ihn können wir Menschen erreichen, die wir bisher nicht erreicht haben. Ich will nicht länger nur zu meinem Publikum sprechen, ich will mit ihm sprechen – denn das ist aus meiner Sicht der nächste wichtige Schritt, um Vertrauen zurückzugewinnen und Hürden abzubauen. Um unser Publikum aus aller Welt zu treffen, können wir dank VR nun auf eine Sofortreise durch unseren Erdraum gehen. Es ist eine Reise, die keine Spesen kostet (außer das Headset) und einen Kontakt erlaubt zwischen Fremden in einer Qualität, die nahe herankommt an das echte Leben.

Die virtuelle Realität gibt uns die Chance, aus unseren Filterblasen auszusteigen. Mich hat sie in eine andere Welt gebeamt; ich habe dort Gespräche geführt mit Menschen, die einen ganz anderen Hintergrund haben als ich. Das ist manchmal anstrengend, aber es ist auch heilsam, wenn die eigenen Überzeugungen infrage gestellt werden und man für sie einstehen muss. Ganz nebenbei machen wir im Projekt der VR-Reporterin Fakten wieder attraktiv und begreifbar, indem die Menschen sie selbst erforschen können – dank einer Technologie, die Menschen zusammenführt.