Die medizinische Mikrobiologie befasst sich mit der ursächlichen Rolle pathogener (d. h. krankheitserzeugender) Mikroorganismen bei der Entstehung von Störungen im Funktionsablauf des menschlichen Organismus. Störungen dieser Art entstehen durch Ansiedlung und Vermehrung von Mikroorganismen im Sinne des Parasitismus; sie treten als Infektionskrankheit in Erscheinung. Demgemäß betrachtet man die parasitierenden Mikroorganismen als Krankheitserreger; das befallene Individuum wird als »Wirt« oder »Makroorganismus« bezeichnet. Da bei der Betrachtung von Infektionen sowohl der Wirt mit seinen Reaktionen als auch die krankheitserzeugenden Eigenschaften eines Mikroorganismus (d. h. seine Pathogenität) im Vordergrundstehen, lässt sich die medizinische Mikrobiologie am ehesten als Infektionslehre begreifen – als Lehre von der Auseinandersetzung des Wirtes mit den krankheitserzeugenden Eigenschaften des Erregers.

1 Gegenstand des Faches

Das Gebiet der Infektionskrankheiten unter Einschluss der Immunologie bietet besonders klare und einprägsame Beispiele zur Darstellung allgemeiner Prinzipien der Krankheitsentstehung. Die Krankheitserreger (Tab. 1.1) stammen entweder aus der Umwelt oder aus der physiologischen Standortflora des betroffenen Individuums:

  • Ein großer Teil der Krankheitserreger gehört zu den einzelligen Mikroorganismen: Bakterien, Pilze oder Protozoen.

  • Ein anderer Teil wird zu den subzellulären Partikeln gerechnet: Viren und Prionen (Kurzform für »proteinaceous infectious particles«).

  • Schließlich können auch Vielzeller (Metazoen) als Krankheitserreger in Erscheinung treten: parasitische Würmer.

Tab. 1.1 Eigenschaften der verschiedenen Erregerklassen

Bakterien sind Prokaryonten, Pilze bilden ein eigenes Reich innerhalb der Eukaryonten, während Protozoen und Metazoen zum Tierreich gehören.

Die Gliederfüßer oder Arthropoden (»Ungeziefer« wie Läuse, Wanzen, Zecken, Milben etc.) spielen eine überaus wichtige Rolle als Überträger oder Vektoren von Krankheitserregern. Die Kenntnis ihrer Biologie bildet vielfach die Grundlage einer wirksamen Bekämpfung von Infektionskrankheiten.

In den letzten Jahren ist zunehmend klar geworden, dass die Bakterien, die physiologisch große Bereiche der äußeren und inneren Körperoberflächen besiedeln, für die Funktion des Körpers und besonders des Immunsystems eine essenzielle Rolle spielen. Die Analyse der Interaktion solcher den Wirt nicht schädigenden sog. Kommensalen mit diesem gehört ebenfalls zum Bereich der medizinischen Mikrobiologie.

2 Aufgabenstellung des Faches

Zwei Grundfragen bestimmen die Aufgabenstellung der medizinischen Mikrobiologie:

  • Die Frage nach den biologischen Besonderheiten der Krankheitserreger

  • Die Frage nach den im Wirtsorganismus ausgelösten Vorgängen der Infektion:

    • Schädigungsprozesse: Sie sind die direkte Krankheitsursache; in ihrer Gesamtheit werden sie als Pathogenese bezeichnet.

    • Abwehrreaktionen: Sie können zur Milderung der Krankheit, zu Heilung und Immunität führen. Manchmal schädigen sie den Wirtsorganismus selbst; dann spricht man von Immunpathogenese.

Die Kenntnis der biologischen Besonderheiten der Krankheitserreger, der Natur der Schädigung und des Wesens der Abwehrvorgänge ist von großer Bedeutung für die Bekämpfung der Infektionskrankheiten. Die zu diesem Zweck eingeleiteten Maßnahmen beziehen sich zum großen Teil auf das erkrankte Individuum, zum anderen Teil auf die gesamte Bevölkerung und ihren Lebensraum. Im Einzelnen unterscheidet man die Aktivitäten

  • Erregerdiagnose,

  • Kausalbehandlung,

  • Prävention (Infektionsverhütung) und

  • Epidemiologie.

Erregerdiagnose

Das ist die exakte Bestimmung der Krankheitsursache, des Erregers. Diese umfasst die Maßnahmen bei Abnahme von Untersuchungsmaterial und dessen Transport ins Labor durch den behandelnden Arzt, die Anwendung der Labormethoden durch den medizinischen Mikrobiologen sowie die Interpretation des Befundberichts aus dem Labor – letzteres ist gemeinsame Aufgabe von behandelndem Arzt und Mikrobiologen.

Kausalbehandlung

Das ist die Behandlung des Kranken durch Bekämpfung der Krankheitsursache, des Erregers, mittels Antibiotika bzw. Antikörper oder Virustatika.

Prävention (Infektionsverhütung)

Hierzu gehören

  • die Verminderung der Erregeremission vom Infizierten durch dessen Isolierung und durch Desinfektion seiner Ausscheidungen,

  • die Verkleinerung des Erregerreservoirs, z. B. durch Rattenbekämpfung bei der Pest,

  • die Unterbrechung des Übertragungsvorgangs durch Überprüfung und Elimination kontaminierter Lebens- und Arzneimittel oder gezielte Vernichtung übertragungsfähiger Arthropoden (Vektoren), z. B. bei der Schlafkrankheit,

  • die prophylaktische Schutzimpfung, z. B. gegen Hepatitis B, Poliomyelitis, Diphtherie,

  • die prophylaktische Gabe von Chemotherapeutika bei Exponierten, z. B. bei Malariagefahr.

Epidemiologie

Die epidemiologische Analyse liefert die Möglichkeit, Vorkommen und Ausbreitung von Infektionskrankheiten innerhalb eines größeren Gebiets zu analysieren und daraus Gesetzlichkeiten abzuleiten.

Facharztweiterbildung

Die medizinische Mikrobiologie ist Gegenstand einer eigenständigen Facharztweiterbildung. Nach 5 Jahren Weiterbildung (davon 1 Jahr in der Klinik) kann der Titel »Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie« erworben werden. Im Rahmen der Weiterbildung zum Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie werden auch die fachlichen Voraussetzungen für die Tätigkeit als Krankenhaushygieniker vermittelt.

3 Heutige Bedeutung des Faches

Mit Einführung der antiinfektiven Chemotherapeutika, die nach dem 2. Weltkrieg breite Anwendung fanden, wuchs in den 1960er Jahren die Überzeugung, Infektionskrankheiten würden in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören. Die am 08.05.1980 von der Weltgesundheitsorganisation WHO proklamierte erfolgreiche Ausrottung der Pocken unterstützte solchen Optimismus. Dieses Ereignis gab Anlass zu Voraussagen namhafter Infektionsforscher, welche die Ausrottung weiterer Seuchen und letztlich das Ende der Infektionskrankheiten insgesamt erwarteten. Wie falsch diese Auffassung war, sollten uns die Mikroorganismen alsbald lehren (Tab. 1.2): Infektionskrankheiten sind heute die häufigste Todesursache weltweit: 35 % aller Menschen sterben an Infektionen – und kein Ende ist in Sicht!

Tab. 1.2 Seit 1972 identifizierte Erreger von Infektionskrankheiten

Zu den vielfältigen Ursachen für diese Entwicklung gehören

  • Resistenzentwicklung von Erregern,

  • Auftreten neuer Krankheitserreger,

  • soziale Faktoren wie Armut, Zuwanderung, Urbanisierung,

  • Massentourismus.

3.1 Resistenzentwicklung

Der massive und z. T. unsachgemäße Antibiotikaeinsatz hat massiven Selektionsdruck ausgeübt und zur Verbreitung zahlreicher Erregerstämme geführt, die hochresistent gegen die gebräuchlichen Antibiotika geworden sind, z. B.

  • Methicillin-resistente Staphylokokken (MRSA),

  • Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE),

  • Penicillin-resistente Gonokokken,

  • multiresistente Tuberkuloseerreger (MDR und XDR),

  • zahlreiche hochresistente gramnegative Stäbchenbakterien.

3.2 Auftreten neuer Krankheitserreger

Tab. 1.2 zeigt eindrücklich, wie viele bisher unbekannte Krankheitserreger in den vergangenen 30 Jahren aufgetreten sind.

  • Zum Teil sind diese ganz neu entstanden, wie z. B. die beiden humanen HI-Viren HIV-1 und HIV-2, die vermutlich aus Affen-Immundefizienzviren (»simian immunodeficiency virus«, SIV) hervorgegangen sind und einen »Wirtssprung« vollzogen haben.

  • Ökologische Veränderungen können für manche Erreger die Ausbreitungsbedingungen verbessern, sodass sie aus ihrem bisherigen abgeschiedenen Habitat auch in von Menschen besiedelte Gebiete gelangen.

  • Oder aber altbekannte Krankheitserreger erscheinen in neuem Gewand und erzeugen auf vielfache Art und Weise bisher unbekannte Krankheitsbilder. Ein gutes Beispiel sind E. coli-Stämme, die ihre Ausstattung mit Virulenzfaktoren dauernd ändern.

Weitere Beispiele sind: SARS-Viren (Pneumonie), Helicobacter pylori (B-Gastritis, Ulcus duodeni, Magenkrebs), Legionellen (Pneumonie) (Tab. 1.2). Teilweise haben die durch sie hervorgerufenen Infektionskrankheiten schon jetzt verheerende Ausmaße angenommen und sind im Begriff, ganze Erdteile demografisch zu verändern, so z. B. AIDS südlich der Sahara.

3.3 Soziale Faktoren wie Armut, Zuwanderung, Urbanisierung

Soziale Faktoren leisten zusammen mit AIDS vor allem der Ausbreitung der Tuberkulose Vorschub: AIDS und Tb = »double trouble«.

3.4 Massentourismus

Wer viel herumkommt, fängt sich viel ein.

Gerade die sexuell übertragenen Erkrankungen und die Nahrungsmittelinfektionen profitieren von der großen Beweglichkeit des modernen Menschen, der sie von Erdteil zu Erdteil verschleppt. Auf diese Weise sorgen die Mikroorganismen dafür, dass

  • wir uns weiterhin gegen überraschende Attacken wappnen müssen und

  • mikrobiologisch-infektiologischer Sachverstand weiter sehr gefragt sein wird – bis weit in die Zukunft!

3.4.1 In Kürze

3.4.1.1 Die medizinische Mikrobiologie im 21. Jahrhundert

Die medizinische Mikrobiologie befasst sich mit den krankmachenden Eigenschaften der Erreger und den Reaktionsformen (Infektionen) befallener Makroorganismen. Sie stellt Methoden zur Diagnose von Krankheitserregern zur Verfügung und trägt zur Therapie bei, indem sie die Empfindlichkeit der Krankheitserreger gegen Chemotherapeutika prüft. Die Entwicklung und Anwendung von Methoden zur Prävention von Infektionskrankheiten sind ebenfalls Aufgaben des Mikrobiologen. Insoweit ist die medizinische Mikrobiologie ein Teilgebiet der Infektionsmedizin.

Neue Erreger, veränderte Erreger und veränderte gesellschaftliche Verhaltensweisen begünstigen die Entwicklung von Infektionskrankheiten und ihre Ausbreitung. Noch immer stirbt ein Drittel aller Menschen an Infektionen – trotz erheblicher Fortschritte bei der Kenntnis der Erreger und der Erreger-Wirts-Beziehung und der Entwicklung neuer Heilmethoden und Medikamente. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht.