Zusammenfassung
In den letzten Jahrzehnten wurde unsere Auffassung von Mensch, Demokratie, Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend von Markt- und Wettbewerbsdenken geprägt. Nicht zuletzt ging damit auch ein neues Verständnis von Bildung einher. Sein wesentlichstes Kennzeichen besteht darin, dass es Wissen und Persönlichkeit primär auf die Verwertbarkeit „am Markt“ bezieht.
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Notes
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Interessanterweise vertrat Clark zunächst christlich-sozialistische und wettbewerbskritische Positionen. Mit diesen brach er 1886 abrupt. Der wichtigste Grund dafür waren offenbar US-weite Streikaktionen sowie die Haymarket Riots in Chicago, die die Autoritäten gewaltsam niederschlugen und auf die sie auch in den Folgejahren mit massiver Repression gegen Gewerkschaften, Arbeiterbewegung sowie diesen (vermeintlich und tatsächlich) nahestehende Wissenschaftler reagierten. Letztere waren gezwungen, wollten sie ihre Universitätsstellen behalten, fortan die bestehende politische, wirtschaftliche und Eigentumsordnung zu stützen (Henry 1995, S. 27 f.). Die Ignoranz der heutigen Mainstream-Wirtschaftswissenschaften gegenüber Verteilungsfragen und Interessengegensätzen hat also zutiefst autoritäre Wurzeln.
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Noch im 19. Jahrhundert war das Streben nach individuellem Aufstieg durch Anstrengung eher verpönt. Dies begann sich erst im frühen 20. Jahrhundert langsam zu ändern (Verheyen 2018, S. 138 ff.). Auch die Humankapital-Theorie kann als ein Baustein dieser Entwicklung verstanden werden.
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Noch heute besteht das 1994 von der Stiftung gegründete Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), das insbesondere für seine Hochschulrankings bekannt ist. Letztere sind ein geradezu paradigmatischer Ausdruck des neoliberalen Verständnisses von Bildung.
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Dieser politische Begriff von „Chance“ kennt (anders als ein alltagssprachlicher) keinen Zufall. Er unterstellt vielmehr, dass, wer eine Chance ergreift, auch entsprechend am Markt belohnt werde – zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Unterstellte er dies nämlich nicht, so unterschiede er sich nicht mehr von einem Würfelspiel, das dann folgerichtig das Konzept der Chancengleichheit durch Bildung ersetzen könnte: Würde man das Einkommen eines Menschen einmalig oder regelmäßig schlicht auswürfeln oder auslosen, so wären gleiche Chancen gegeben. Diese Vorstellung von „Chancengleichheit“ meinen Fratzscher, Steinbrück & Co. aber ganz offensichtlich nicht.
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Dass der Prozess der Ökonomisierung von Gesellschaft und Bildung insgesamt noch sehr viel weiter greift, sei zumindest kurz erwähnt. Vgl. dazu Hedtke (2018).
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In gewisser Weise sind Bildung und Bildungserwerb immer funktional, weil sie stets mit Zielen und Zwecken verbunden sind. Allerdings scheint mir die Funktionalität von Bildung unter neoliberalen Vorzeichen aufgrund ihrer Einseitigkeit und ihrer enormen politischen Bedeutung (Bildung als wichtigstes Instrument zur Lösung allerlei sozialer Probleme) eine neue Qualität zu haben.
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Das hier Beschriebene beschränkt sich keineswegs nur auf das Bildungswesen und schon gar nicht auf Politische Bildung. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown verweist darauf, dass im Neoliberalismus die Demokratie und der demokratische Streit selbst in Gefahr gerät: „Die Ökonomisierung ersetzt politisches Vokabular durch ein Marktvokabular. Die Governance ersetzt politisches Vokabular durch ein Managementvokabular. Die Kombination aus beidem transformiert das demokratische Versprechen gemeinsamer Herrschaft in das Versprechen des Unternehmens- und Portfoliomanagements auf der individuellen und kollektiven Ebene. […] Die Widerspenstigkeit der Demokratie wird unterdrückt durch eine Form der Regierung, die sanft und total ist.“ (Brown 2015, S. 250).
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Dem widerspricht auch nicht der „Beutelsbacher Konsens“ – im Gegenteil. 1976 beschloss die Bundeszentrale für Politische Bildung, dass von ihr geförderte Bildungsträger drei Prinzipien anerkennen müssen. Heute gelten diese als drei Grundprinzipien guter Politikdidaktik: Erstens das Überwältigungsverbot, demzufolge der oder die Lehrende nicht die eigene Meinung aufzwingen darf. Zweitens das Kontroversitätsgebot, demzufolge der oder die Lehrende Inhalte kontrovers darstellen muss, wenn diese in Wissenschaft und Politik kontrovers betrachtet werden. Drittens die Schülerorientierung, also eine zielgruppengerechte Aufbereitung der Inhalte. Insbesondere das Kontroversitätsgebot kann das Gegenteil dessen bewirken, was damit beabsichtigt war. Schließlich sind marktkritische Positionen heutzutage in weiten Teilen von Politik und Wissenschaft eher randständig. Für die Wirtschaftswissenschaften gilt dies in besonderem Maße. Im Ergebnis kann eine Beschränkung politischer Bildung auf marktextremistische Inhalte mit der (angeblichen) Nicht-Kontroversität in diesem Bereich gerechtfertigt werden. Und je stärker die Dominanz neoliberalen Denkens, desto stärker wird dieser Effekt ausfallen. Besonders problematisch wird dieses Ungleichgewicht, wenn sich marktkritische oder kapitalismuskritische Bildungsträger und Organisationen an das Kontroversitätsgebot halten wollen oder müssen.
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Als Beleg für seine These von einem Mangel an dem, was er für ökonomische Bildung hält, führt May ein Positionspapier des Deutschen Aktieninstituts und eine Umfrage im Auftrag der Commerzbank an (May 2011, S. 3). Dies spricht insofern für sich, als es sich hierbei doch um eine Bank bzw. um die Lobbyeinrichtung einer Bank handelt. Es sind also Institutionen, die ein Interesse nicht nur am Erhalt des bestehenden Primats des Marktes haben, sondern ganz banal auch daran, dass der Kauf und Besitz von Aktien und Fonds weite Verbreitung findet.
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Die Studie wurde von der Arbeitgeber-Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft in Auftrag gegeben, die in den 2000er Jahren durch den Kauf von Schleichwerbung in Jugendserien auffiel. Ziel ihrer „Themenplacements“ war es damals, sowohl neoliberale Politikinhalte als auch Inhalte der so genannten finanziellen Bildung, getarnt als harmlose Serienhandlung, im Fernsehen unterzubringen (Schreiner 2015b).
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Dahinter steht die für bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften typische und widersprüchliche Spaltung von Staat/Politik und Ökonomie, die sich in der Spaltung des Individuums in zugleich Staatsbürger bzw. Staatsbürgerin und Marktteilnehmer bzw. Marktteilnehmerin fortsetzt. Während der Mensch in der politischen Sphäre zumindest dem Anspruch nach gleiche und unteilbare Menschen- und Bürgerrechte genießt, bleiben soziale Rechte (wie etwa das auf Wohnung, Kleidung, Essen) bloße politische Leitvorstellungen. Unter kapitalistischen Bedingungen müssen sie das, da sie in der ökonomischen Sphäre zu verwirklichen wären, in der Verteilung über Märkte erfolgt. Zwar herrschen idealiter sowohl in der politischen als auch der ökonomischen Sphäre formale Gleichheit – etwa das gleiche Wahlrecht, das gleiche Recht der freien Berufswahl, das gleiche Recht auf Eigentum oder die gleiche Vertragsfreiheit. Die in der wirtschaftlichen Sphäre produzierte und reproduzierte Ungleichheit – insbesondere der Gegensatz von Arbeit und Kapital – erweist diese Gleichheit aber als Ideologie. Das Wahlrecht ist nicht für alle gleich, unter anderem weil Interessen der materiell Bevorteilten einen privilegierten Zugang zu Macht und Mächtigen haben. Das Recht der freien Berufswahl ist nicht für alle gleich, unter anderem weil manche mit großem Besitz von Produktivkapital ins Berufsleben starten und andere nicht. Und die Vertragsfreiheit ist nicht für alle gleich, unter anderem weil manche die materiellen Voraussetzungen zum Abschluss bestimmter Verträge mitbringen und andere nicht (zynisch: „Wer sich die hohen Mieten nicht leisten kann, soll sich eben Wohneigentum kaufen“). Die Trennung der Fächer Politik/Gesellschaft und Wirtschaft spiegelt diese Spaltung von Gesellschaft bzw. Individuum insofern, als das Fach Politik/Gesellschaft die Vorstellung einer Gleichheit im Politischen und das Fach Wirtschaft die Vorstellung einer legitimen Ungleichheit im Wirtschaftlichen vermittelt. In der Tendenz thematisiert ersteres die aus materieller Ungleichheit resultierende politische Ungleichheit durchaus, wenn auch unter den Vorzeichen einer Akzeptanz kapitalistischer Produktionsverhältnisse und in den letzten Jahrzehnten immer weniger, letzteres hingegen macht dies kaum.
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Schreiner, P. (2023). Funktional, fragmentarisch, unpolitisch. In: Baader, M.S., Freytag, T., Kempa, K. (eds) Politische Bildung in Transformation – Transdisziplinäre Perspektiven. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41027-8_6
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