„Wenn Menschen mit Behinderungserfahrungen, und vor allem diejenigen, die bisher keine Stimme hatten, durch Forschung eine Stimme und Mitsprache erhalten und sichtbar werden mit ihren Sichtweisen, mit ihren Wünschen, Bedürfnissen, aber besonders auch mit ihrer Kritik und ihren Potenzialen, dann würde Forschung der Verantwortung nachkommen, gesellschaftliche Verhältnisse und Perspektiven nicht nur abzubilden, sondern auch verändernd darauf einzuwirken.“ (Schuppener 2019, S. 246)

Dieses Eingangszitat soll im folgenden Beitrag eingehender betrachtet werden, indem Relevanzsetzungen Partizipativer Forschung, die zumindest in Gesamtschau different sind zu anderen Forschungsansätzen, ausführlicher vorgestellt werden.

Als eine Relevanzsetzung Partizipativer Forschung ist ein ethischer Reflexionsanspruch zu nennen. Daher wird der Blick in diesem Beitrag zunächst auf die Dimension der moralischen Verantwortung von Forschung gerichtet und es sollen Leitlinien einer Forschungsethik skizziert werden.

Partizipative Forschung setzt sich in besonderem Maße mit der Frage gesellschaftlicher Verantwortung von Forschung auseinander. Dieser Frage möchte der Beitrag nachgehen, indem Pluralität und Subjektorientierung als Bezugspunkte von Partizipativer Forschung reflektiert werden.

Die grundlegende Relevanzsetzung eines menschenrechtsbasierten Handelns in Forschungszusammenhängen konkretisiert sich in einem Abschnitt in der Betrachtung von Ansätzen des gemeinsamen Forschens. Aufbauend darauf werden zum Abschluss exemplarisch Reflexionen aus einer partizipativ-orientierten Forschungsarbeit mit Jugendlichen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im Wohnheim zum Thema „Umgang mit herausforderndem Verhalten im Kontext stationärer Einrichtungen der Behindertenhilfe – Freiheitsbeschränkende und freiheitsentziehende Maßnahmen (FeM) aus Sicht von Kindern & Jugendlichen, Eltern/Erziehungsberechtigten und Mitarbeiter*innen“ (FeM_SiKuM) skizziert.

1 Grundlegende forschungsethische Fragen

„Wenn [Forschung] […] zu nachhaltigen qualitativen Verbesserungen für die betreffenden Menschen führen soll, bedarf die Forschung […] eines klaren ethischen Rahmens und einer kontinuierlichen kritischen Begleitung durch ethische Reflexion.“ (Dederich 2017a, S. 4)

Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich Forschungslinien und -traditionen im Kontext sogenannter geistiger Behinderung deutlich gewandelt (Janz und Terfloth 2009; Schuppener 2019; Schuppener und Hauser 2014). Nach einer Forschung an Menschen mit Behinderung (u. a. in der medizinischen Forschung im Nationalsozialismus) findet ca. seit den 1960er Jahren verstärkt eine Forschung für und über Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung statt. Aufbauend, ergänzend oder alternativ dazu finden sich etwa seit den 1990er Jahren auch zunehmend Ansätze des gemeinsamen Forschens mit und von Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung.

Eine spezifische systematische Auseinandersetzung mit forschungsethischen Fragen blieb jedoch lange aus (Dederich 2017a) und lässt sich erst in den letzten Jahren ansatzweise erkennen. Eine Forschungsethik ist jedoch unverzichtbar, denn „nicht nur der Prozess der Forschung selbst ist wirkmächtig, sondern auch deren Ergebnisse: Neues Wissen verändert Sichtweisen auf die Welt und eröffnet denjenigen, die sich dieses Wissen aneignen, neue Handlungsoptionen“ (Dederich 2017a, S. 5). So stellen sich in diesem Zusammenhang zentrale Fragen zur (Re-)Produktion von neuem Wissen und zum Umgang mit neuem Wissen in und durch Forschung.

Da die Wirkungen und Konsequenzen neuen Wissens nicht neutral sind (Dederich 2017a, S. 5), benötigt es eine systematische Reflexionsfolie, welche eine verantwortungsbewusste Forschung kennzeichnet. Hierzu soll exemplarisch auf das forschungsethische Reflexionspapier der DIFGB (2020, S. 4 ff.) verwiesen werden, welches Menschen mit so genannter geistiger und/oder schwerer Behinderung adressiert und Reflexionsfragen entlang differenter Spannungsfelder formuliert, die eine Unterstützung der ethischen Rahmung von Forschungsprojekten darstellen soll (Tab. 6.1).

Tab. 6.1 Spannungsfelder & ausgewählte forschungsethische Reflexionsfragen (DIFGB 2020)

Forschungsethische Fragen sollten jeden Forschungsprozess rahmen, weil sie zu einer Reflexionssensibilität zwingen, die unabdingbar ist. Diese Reflexionssensibilität sollte daher nicht nur den Kontext Qualitativer Forschung (von Unger 2014a) oder Partizipativer Forschung kennzeichnen, formiert sich aber hier besonders aus einer Beteiligungsorientierung der Hauptpersonen als ,Subjekte der Forschung‘ heraus und stellt damit innerhalb des gemeinsamen Forschens einen zentralen Grundanspruch dar.

2 Zur Subjektorientierung und Pluralisierung in/durch Forschung

„Außenperspektiven – egal, wie kritisch oder unkritisch sie einem Denkstil folgen – sind und bleiben eine potentielle Attacke gegen das Selbstverständnis von Betroffenen und somit gegen deren Definitionsmacht über das eigene Leben.“ (Boger 2015, S. 288, zitiert nach Schuppener et al. 2021, S. 103)

Subjektperspektiven von Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung sind oftmals abwesend oder zumindest wenig sichtbar in öffentlichen, gesellschaftlichen oder fachlichen Diskursen. Hier dominieren Perspektiven und Wissensbestände über den Personenkreis, die oftmals keine Positionierung der Subjekte selbst implizieren. Innerhalb der Dominanz von Außenperspektiven lässt sich ein weiteres Dilemma konstatieren: Sichtbarkeit erlangen besonders Menschen mit zugeschriebener (geistiger) Behinderung oftmals nicht als Individuen, sondern lediglich als Gruppe. Als marginalisierte Minderheit werden sie benannt und verkollektiviert (Gümüşay 2020), d. h. in stigmatisierender Form auf ein Merkmal reduziert. Damit ist auch immer die Gefahr einer Verobjektivierung und eines ,Sprechens über‘ statt eines ,Sprechens mit‘ verbunden (Schuppener et al. 2021).

Ein ‚hegemoniales Hören‘ (Castro Varela und Dhawan 2015, S. 189 f. nach Spivak 1996) führt in diesem Zusammenhang dazu, dass sich Menschen, die als geistig behindert wahrgenommen werden, scheinbar nach wie vor oftmals damit arrangieren müssen, dass sie ‚repräsentiert werden‘, anstatt sich selbst repräsentieren und äußern zu könnenFootnote 1. Selbst an der Entwicklung institutioneller und professioneller Strukturen der sogenannten Behindertenhilfe waren Menschen mit Behinderungserfahrungen nicht beteiligt. Sierck und Mürner (1995) merken zu Recht kritisch an, dass auch die Entwicklung der Behindertenpädagogik eine „Unternehmung von Nichtbehinderten ist“, die „ihrer Aussage nach von vielen Behinderten nicht gebraucht wird“ (Ackermann und Dederich 2011, S. 10). Dabei ist ein System der sogenannten Behindertenhilfe und auch eine sogenannte Behindertenpädagogik nicht ohne die Subjekte, welche von ihr adressiert werden, zu definieren und es müsste hier zu spürbaren Verschiebungen innerhalb der Felder der (Definitions- und Ausgestaltungs-)Macht zugunsten von Menschen mit Diagnoseerfahrungen selbst kommen. Professionelle Pädagog*innen und Begleiter*innen sollten soziale (Macht-)Verhältnisse erkennen, artikulieren und verändern (Kremsner 2017). Zur damit verbundenen Reflexionssensibilität kann Forschung einen wesentlichen Beitrag leisten, indem sie den Stimmen bisher nicht sichtbarer (Diagnose-erfahrener) Menschen eine unabdingbare, zentrale Relevanz verleiht.

Hier stehen wir im Bereich der Forschung keineswegs am Anfang: So haben insbesondere die Impulse, Erkenntnisse und Fragen aus den Disability Studies und den Mad Studies (Boger 2020) schon maßgeblich dazu beigetragen, „die Frage nach dem ,Adressat*innenbezug‘ neu zu stellen“ (Schuppener et al. 2021, S. 131). Jedoch sind innerhalb der Disability Studies Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung bislang deutlich unterrepräsentiert und besitzen demzufolge auch kaum gehörte, einflussreiche Stimmen im Kontext der Wissens(re-)produktion durch Forschung (Schuppener et al. 2021).

Eine konsequente Subjektorientierung in der Forschung kann nicht nur Risiken der Verobjektivierung/VerdinglichungFootnote 2 und der Defizitorientierung/Dehumanisierung entgegenwirken, sondern auch Entpersonalisierungen und Verkollektivierungen vermeiden. Durch eine einflussreiche Subjektorientierung innerhalb von Forschung kann auch eine grundlegende Wahrnehmung von Pluralität wieder stärker ins Bewusstsein rücken:

„Wirklich im Plural zu existieren bedeutet wechselseitigen Respekt vor der Individualität und Einzigartigkeit aller“ (Emcke 2019, S. 196). Diese Form einer Reziprozitätssensibilität kann – mit Emcke gesprochen – durch eine Pluralisierung der Perspektiven erreicht werden. Das meint konkret, eine „Sprache und Praktiken und Bilder [zu] finden“ (Emcke), die differente (Einzel-)Perspektiven sichtbar machen, insbesondere von jenen, deren Sichtbarkeit im öffentlichen Diskurs nicht gegeben ist. Eine Aufgabe von Forschung sollte es sein, dem ,Auftrag‘ von Emcke (2019) nachzukommen, eine plurale Sprache, plurale Praktiken und plurale Bilder zu finden, indem (auch) Menschen mit Exklusionserfahrungen mit ihrer eigenen Stimme sichtbar werden. Dadurch kann Forschung auch einen Beitrag zur Stabilisierung einer pluralen Gesellschaft leisten, die gerade in Zeiten der Destabilisierung (u. a. durch rechtspopulistische Bewegungen) hoch relevant erscheint. Dadurch kann eine Differenzbejahung gestärkt werden. Dadurch können gesellschaftliche Exklusionsmechanismen sichtbar gemacht und zum Ausgangspunkt kritischer Auseinandersetzung werden (Staib et al. 2022). Dadurch kann dem Ausbau einer Dominanzkultur (Rommelsbacher 2006) – als Verstärkung von struktureller Diskriminierung ausgehend von einer Mehrheitsgesellschaft – entgegengewirkt werden.

Versteht man Pluralität grundsätzlich als Basis der solidarischen Anerkennung von IndividualitätFootnote 3, kann Forschung insbesondere dann einen Beitrag zur Pluralisierung leisten, wenn – wie oben skizziert – differente (individuelle) Perspektiven in Forschung einfließen, als bedeutsam anerkannt werden und damit einen aktiven und sichtbaren Beitrag im Rahmen einer neuen Wissensproduktion durch Forschung sowie den Fragen des Umgangs mit dem neuen Wissen leisten. Damit lässt sich eine direkte Hinführung zur Bedeutung von Ansätzen des gemeinsamen Forschens formulieren, die im nächsten Teilabschnitt skizziert werden sollen.

3 Ansätze des Gemeinsamen Forschens

„Most research about disability has been in the positivist tradition and has aimed to be objective and apolitical. It is important not to be fooled by ,objectivity‘ and impressive looking statistics; disabled people have been abused and removed from society into institutions on the basis of this so-called ,scientific‘ research.“ (French und Swain 1997, S. 29)

Die Funktion, welche von Bernasconi und Böing (2015) für eine nicht ausgrenzende Pädagogik proklamiert wird, sollte gleichermaßen auch für eine nicht ausgrenzende Forschung gelten: Forschung sollte somit „die Funktion einer kritischen Instanz [übernehmen] …, um Felder der Macht zu enttarnen, stigmatisierende und exkludierende Tendenzen aufzudecken und gleichberechtigte Zugänge zu gesellschaftlichen (Teil-)Systemen einzufordern und zu sichern“ [S. 115, Herv. i. O.]. Um hierbei keine bewussten oder unbewussten Paternalisierungen zu (re-)produzieren, benötigt es den oben skizzierten (forschungs-)ethisch-reflektierten Einbezug der Subjekte und das plurale Bekenntnis eines gemeinsamen Forschens. Dieser Anspruch sollte allen Konzepten eines gemeinsamen Forschens inhärent sein.

Forschungsansätze, welche sich der Partizipativen oder Inklusiven Forschung zuordnen, folgen der Intention, „soziale Wirklichkeit gemeinsam mit den Menschen zu erforschen, die in ihr und mit ihr leben und die von den Ergebnissen der Forschung betroffen sind oder sein könnten“ (Hauser 2020, S. 60). Partizipative Forschung kann dabei als der Oberbegriff und als Forschungsstil gelten, unter dem sich eine Reihe weiterer Ansätze versammeln, die in ihrer politischen, sozialen, forschungspraktischen und methodologischen Ausrichtung je unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vornehmen (von Unger 2014c). „Allen partizipativen Forschungsansätzen gemein ist die Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Akteuren, die als Mit-Forschende in den Forschungsprozess einbezogen werden. Die Bezeichnung der sogenannten Mit-Forschenden gestaltet sich international verschieden und kann zudem Hinweise darauf geben, welchen Status sie im Forschungsprojekt innehaben und in welchem Verhältnis sie zu den akademisch Forschenden stehen. Ko-Forschende, Peer-Researcher oder Lay-Researcher sind dafür nur Beispiele“ (von Unger 2014c). „Mit ‚akademisch Forschenden‘ sind wiederum diejenigen Forschenden gemeint, die aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer (Vor-)Erfahrungen originär im akademischen Setting verortet sind“ (Schuppener et al. 2021, S. 111).

Um Partizipation in Forschungsprojekten und -prozessen auszubuchstabieren und zu reflektieren, kann das Stufenmodell nach Wright et al. (2010) eine Orientierungshilfe sein (Abb. 6.1).

Abb. 6.1
figure 1

Stufen der Partizipation (Wright et al. 2010 zitiert nach von Unger 2014c, S. 40)

„Partizipation baut in diesem Modell auf den Vorstufen der Partizipation (Information, Anhörung und Einbeziehung) auf“ (von Unger 2014c, S. 40), aber Partizipative Forschung beginnt erst ab der Stufe 6. Verortet ab der Stufe 6 sollen folgend in Kürze drei Forschungsrichtungen vorgestellt werden, welche „für die Entwicklung und den Status Quo der Forschung im Kontext zugeschriebener geistiger Behinderung bedeutsam sind“ (Schuppener et al. 2021, S. 114) und gleichsam auch den internationalen Diskurs kennzeichnen:

Emancipatory Research/Emanzipatorische Forschung kann als radikalste und politischste Form Partizipativer Forschung beschrieben werden. Mit ihrem Ursprung in der feministischen Forschung wendet sie sich insbesondere einer Kritik gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse zu und möchte vor allem Menschen eine Stimme geben, die bisher sowohl in der Forschung, aber auch in gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen marginalisiert, unterdrückt und ausgeschlossen waren/sind (Schuppener et al. 2021). Mit dem Ziel einer Analyse von Unterdrückungs- und Ausschlussverhältnissen sollen auch im Forschungsprozess selbst Machtverhältnisse zwischen akademisch Forschenden und Ko-Forschenden fokussiert werden: Die organisatorische und inhaltliche Kontrolle sowie die Entscheidungsmacht innerhalb des Forschungsprozesses obliegt hier den ,Betroffenen‘Footnote 4, um größtmögliche Selbstbestimmung zu ermöglichen sowie Emanzipations- und Empowermentprozesse mit dem Forschungsvorgehen zu verknüpfen (Hauser 2020). „Emanzipatorische Forschung wird international auch im Kontext zugeschriebener geistiger Behinderung vielfach angewandt“ (Schuppener et al. 2021, S. 115) und zum Teil sogar priorisiert: „Many researchers have a strong belief that all research with people with a disability should be emancipatory and include co-researchers as a part of this emancipatory process“ (Smith-Merry 2019, S. 1936).

Participatory Action Research/partizipative Handlungsforschung verfolgt die Intention, sogenannte Proband*innen nicht zu verobjektivieren, sondern als Forschungspartner*innen anzuerkennen (Schuppener et al. 2021). Basierend auf den Merkmalen der Aktionsforschung (Lewin 1946) geht es hier nicht im engeren Sinne um eine Forschungsmethodologie, sondern vielmehr um eine grundsätzliche demokratieförderliche Haltung (Goeke 2016), welche immer auch mit der Intention der Veränderung sozialer Wirklichkeit verbunden ist: Bei der Aktionsforschung steht eine „Arbeit mit Gruppen in ihren sozialen Bezügen“ (von Unger 2014c, S. 14) und die Beteiligung der (marginalisierten) ,Betroffenen‘ an dem Umgang mit neuem Wissen als Forschungsergebnis im Sinne einer Veränderung der sozialen Prozesse, in welche sie selbst involviert sind, im Fokus. Als Beispiel nennt von Unger (von Unger 2014c, S. 14) die Arbeiten des brasilianischen (Sozial-)Pädagogen Paolo Freire zur Alphabetisierung marginalisierter Gruppen. Durch die Involvierung benachteiligter Personen ohne akademischen Bildungshintergrund kann der Participatory Action Research-Ansatz grundsätzlich als partizipativer Forschungszugang verstanden werden: „As we search for practical knowledge and liberating ways of knowing, working with people in their everyday lives, we can also see that action research is participative research, and all participative research must be action research“ (Reason und Bradbury 2008, S. 4 zitiert nach von Unger 2014c, S. 22).

Inclusive Research/Inklusive Forschung wird von Walmsley und Johnson (2003) definiert als „research in which people with learning disabilities are active participants, not only as subjects but also as initiators, doers, writers and disseminators of research“ (Walmsley und Johnson 2003, S. 9). Der Ansatz der ,Inclusive Research‘ wird im Stufenmodell von Wright et al. (2010, s. Abb. 6.1) durch die Stufen 8 und 9 repräsentiert (Hauser 2020), da akademisch Forschende hier primär als Unterstütz*innen auftreten und die Hauptverantwortung, Kontrolle und Entscheidungsgewalt bei den Ko-Forscher*innen liegt. Demzufolge kommt Menschen mit Lernschwierigkeiten(= sogenannter intellektueller Beeinträchtigung) als Ko-Forscher*innen hier eine sehr einflussmächtige Rolle in Form einer Entscheidungs-, Kontroll- und Ausführungsgewalt zu, die sich in folgenden Standards äußert:

  • „Das Forschungsthema soll zentrale Bedeutung für den Personenkreis Menschen mit Lernschwierigkeiten haben.

  • Durch die Forschung sollen die Interessen von Menschen mit Behinderung vertreten werden und sie sollte Ergebnisse generieren, die sich positiv auf die Lebensumstände der Betroffenen auswirken.

  • Die Forschenden ohne Behinderungserfahrungen sind solidarisch den Interessen verpflichtet.

  • Menschen mit Lernschwierigkeiten sollten die Kontrolle über den Forschungsprozess und den Umgang mit den Ergebnissen haben.

  • Menschen mit Lernschwierigkeiten sollten dabei unterstützt werden, selbst forschend tätig zu sein, um ihre Perspektiven und Kompetenzen zum Ausdruck bringen zu können.

  • Alle Teile des Forschungsprozesses müssen barrierefrei zugänglich sein.“ (Walmsley und Johnson 2003, S. 16; S. 64 zitiert nach Hauser 2020, S. 68 f.)

Die Inklusive Forschung intendiert nicht nur eine Reflexion von Machtverhältnissen, sondern eine „Umkehr der Macht- und Kontrollverhältnisse im Forschungsprozess“ (Hauser 2020, S. 69), wodurch auch Elemente der emanzipatorischen Forschung angesprochen sind. Gleichzeitig wird hier eine besondere Rolle von akademisch Forschenden beschrieben: Sie haben „ihre erworbenen Fähigkeiten und ihr Wissen zur Verfügung zu stellen“ (Curdt 2016, S. 250). Diese Form der ,Wissensteilung‘ impliziert „z. B. auch bestimmte Literatur zugänglich zu machen […], Untersuchungsmethoden bereit zu stellen, damit Ko-Forschende mit Lernschwierigkeiten ihre Forschungsthemen und -vorhaben, ihre Ziele und Forschungsfragen finden bzw. realisieren lernen und können“ (Curdt 2016).

Bezüglich des Konzeptes und auch der Terminologie des ,Inclusive Research‘ lässt sich auf differente kritische Positionen verweisen, sei es die Gefahr des Vorwurfs einer ,Nicht-Wissenschaftlichkeit‘ (Markowetz 2009) oder auch die grundsätzliche Verengung eines Inklusionsverständnisses, welches auf Menschen mit Lernschwierigkeiten fokussiert. Daher kennzeichnet Goeke (2016) den Terminus „Inklusive Forschung“ als irreführend, weil er eigentlich alle Heterogenitätsdimensionen einbeziehen müsste. So sollte der Begriff ,Inklusive Forschung‘ besser in Anlehnung an Nind (2014) umfassender – auch im Sinne einer Oberkategorie – verstanden werden, indem er für diverse Ansätze steht: „Partnership and user-led research, child-led research, peer research, community research, activist scholarship, decolonising research, community-based participatory research, participatory action research and democrativ dialogue“ (Nind 2014, S. 2 f. zitiert nach Goeke 2016, S. 38).

Immer wieder sehen sich Ansätze der Partizipativen Forschung mit einer Legitimationsnotwendigkeit bezüglich der wissenschaftlichen Qualität konfrontiert. Hier ist es hilfreich, auf die von Hauser (2020) herausgearbeiteten Qualitätskriterien Partizipativer und Inklusiver Forschung zu verweisen (Abb. 6.2), welche in Form von Kriterienclustern eine Orientierung und Bezugnahme auf die Qualität und Güte im gemeinsamen Forschen ermöglichen. Zur näheren Erörterung und Auseinandersetzung mit den Kriterien sei auf Hauser (2016, 2020) verwiesen.

Abb. 6.2
figure 2

Übersicht zu Qualitätskriterien Partizipativer und Inklusiver Forschung (Hauser 2020, S. 274)

Partizipativ-orientierten Forschungsbemühungen wohnt grundsätzlich ein Potenzial inne, hegemoniale Strukturen aufzudecken und den komplexen Zusammenhang von Wissen und Macht kritisch zu beleuchten (DIFGB 2020). „Paternalistische und defizitorientierte Sichtweisen über z. B. Menschen mit Behinderung [sollen] überwunden werden“ (Goeke 2016, S. 43). Gleichzeitig findet jedoch auch Partizipative Forschung meist angebunden an den akademischen Bildungsbereich statt und läuft somit immer Gefahr, der Wirkmacht exklusiver Institutionslogik von HochschulenFootnote 5 zu unterliegen. Da die Organisation von Hochschule stark durch ökonomische, meritokratische (Przytulla 2021) und ableistische Logiken geprägt ist, muss sich eine Partizipative Forschung immer selbstkritisch daraufhin befragen, ob sie echte, wirkmächtige Formen der Beteiligung für Ko-Forscher*innen ohne akademischen Bildungshintergrund ermöglicht oder lediglich eine ,Schein-Partizipation‘ eröffnet, bei welcher die alleinige Definitionsmacht klar bei akademisierten Forscher*innen liegt.

In diesem Zusammenhang kann das Konzept der Hegemonieselbstkritik (Brunner 2017) einen wertvollen Beitrag leisten, die Situiertheit wissenschaftlicher Forschung insgesamt einer kritischen Reflexion zu unterziehen und den „konstitutiven Zusammenhang verschiedener Macht- und Herrschaftsverhältnisse [in Forschung] zu denken“ (Thym 2019, S. 7): Selbstreflexion reicht demzufolge nicht aus als ethischer Grundanspruch einer (Partizipativen) Forschung; es muss auch um die Infragestellung des Bezugspunktes der Selbstreflexion gehen. Forschung ist eben immer eingebettet in Wissenschaft und damit in die (Re-)Produktion von (akademischem) Wissen. Hier erfordert eine Hegemonieselbstkritik die stetige kritische Reflexion des „Privileg[s] weißer, euro- und androzentrischer Wissensproduktion […], das die Kolonialität von Wissen, Macht und Sein aufrechterhält und sich in der Wissenschaftspraxis in zahlreiche weitere Privilegien sozialer, politischer und ökonomischer Art übersetzt“ (Brunner 2017, S. 199). Es geht hier also um eine „Kritik an Hegemonie von innen heraus, im Unterschied zu einer Hegemoniekritik von außenFootnote 6“ (Thym 2019, S. 7). Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch die „Unhintergehbarkeit verschiedener Erfahrungen“ (Thym 2019, S. 6 mit Bezugnahme auf Ang 1995), wie z. B. Behinderungserfahrungen, Erfahrungen illegitimer Verbesonderung (Krauthausen 2020) oder Erfahrungen empfundener Veranderung (Boger 2020). Demzufolge muss Partizipative Forschung immer auch eine Anerkennung von Differenz(erfahrungen) implizieren und sich selbstkritisch befragen in Bezug auf ,Paternalisierungsfallen‘ und Mechanismen der ,Alibi-Beteiligung‘. Innerhalb eines gemeinsamen Forschens muss also zusammenfassend der unverhandelbare Anspruch einer kritischen (Selbst-)Reflexion „sozialer Positionen im Sinne von privilegierten Standorten“ mit dem Ziel einer „wirklichen[n] De-Hierarchisierung“ (Thym 2019, S. 8 mit Bezugnahme auf Dietze 2008, S. 40) als Grundlage gelten.

„Auf Fragen rund um Macht und Privilegien, darüber, wie man sie abbauen kann, wie wirkliche Partizipation möglich ist und wann Scheinpartizipation droht, gibt es oft keine einfachen Antworten. Ebenso gibt es für die Dilemmata, die sich auftun, keine perfekten Lösungen, sondern [lediglich] Annäherungen an die Umsetzung eines partizipativen Anspruchs“ (Schwörer et al. 2022). In diesem Sinne sollte eine Partizipative Forschung immer auch eine Suchbewegung sein, die auf der Basis einer forschungsethischen Reflexion, einer Pluralisierung und einer Hegemonieselbstkritik bereichernde Erkenntnisse und Anstöße zur Veränderung sozialer Realitäten ermöglichen kann.

4 Reflexionen aus der partizipativ-orientierten Forschungsarbeit mit Jugendlichen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im Wohnheim

Durch Partizipative Forschung kann ein kritischer Diskurs bereichert werden, weil gerade das pluralisierte Forschen „Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten sowie Forschungsroutinen unterbricht und zum Innehalten zwingt, erlaubt […], andere Fragen oder alte Fragen neu zu stellen und neue Denkwege zu erproben. Wenn wir dies gemeinsam tun, entsteht ein kritischer Diskurs.“ (Dederich 2017b, S. 36)

Eine menschenrechtsbasierte, verantwortungsbewusste und „institutionenkritische“ (Baumgartinger 2014; Arn 2017) Forschungspraxis ist darauf ausgerichtet, „die Machtstrukturen, Diskriminierung und Ausschlusspraktiken im Hinblick auf das Phänomen der sogenannten geistigen und/oder mehrfachen Behinderung sichtbar zu machen“ (Schuppener et al. 2020, S. 147). Durch einen partizipativen Forschungsstil sollten Räume für Emanzipation geschaffen werden und es sollte auch eine Ermutigung zur Auseinandersetzung mit sensiblen oder tabuisierten Themen erfolgen.

Welche Räume für Partizipation in der gemeinsamen Forschungsarbeit mit Jugendlichen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im Wohnheim im Rahmen des Forschungsprojektes „Umgang mit herausforderndem Verhalten im Kontext stationärer Einrichtungen der Behindertenhilfe – Freiheitsbeschränkende und freiheitsentziehende Maßnahmen (FeM) aus Sicht von Kindern & Jugendlichen, Eltern/Erziehungsberechtigten und Mitarbeiter*innen“ (FeM_SiKuM) möglich waren, soll hier konstruktiv-kritisch reflektiert werden.

Das Projekt FeM_SiKuM (Laufzeit 09/2017–06/2021) fand im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsverbundes stattFootnote 7. „Insgesamt sollen durch die Erkenntnisse der drei Verbundprojekte die Anwendung von FeM im Kontext stationärer Einrichtungen der sogenannten Behindertenhilfe eine stärkere Beachtung – in Form einer Enttabuisierung – erfahren und als Grundlage für die Reflexions- und Reduktionswürdigkeit von FeM im Rahmen pädagogischen Handeln dienen“ (Dworschak et al. 2018b, S. 166). Im Leipziger FeM_SiKuM-Projekt stand die Ermittlung der Subjektperspektive von Kindern und Jugendlichen mit sogenannter geistiger Behinderung im Hinblick auf das Erleben des Umgangs mit herausforderndem Verhalten sowie direkten Formen von freiheitseinschränkenden Maßnahmen (FeM) im Mittelpunkt. Darüber hinaus wurden auch Mitarbeiter*innen und Eltern hinsichtlich ihrer Erlebnisse und Erfahrungen in der Anwendung von FeM interviewt mit dem Ziel der finalen Formulierung konkreter Unterstützungsbedarfe für Kinder & Jugendliche, Eltern und Mitarbeiter*innen im Kontext dieser belastenden Thematik.

Zur Unterstützung bei der Methodenentwicklung für die Erhebung der Sichtweisen der Kinder und Jugendlichen erfolgte im FeM_SiKuM-Projekt eine partizipativ-orientierte Zusammenarbeit – in Form einer Fokusgruppenarbeit – mit neun Jugendlichen mit zugeschriebener geistiger Behinderung, die in einer stationären Wohneinrichtung leben und direkte und/oder indirekte Erfahrungen mit der Anwendung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen haben. Die Zusammenarbeit mit der Fokusgruppe lässt sich insgesamt auf der Stufe 5 nach dem Modell von Wright et al. (2010) der Partizipation (Abb. 6.1) verorten.

Wie aus den Plakaten (Abb. 6.3) zur Akquise und zum Ablauf der Arbeit mit der Fokusgruppe ersichtlich wird, waren insgesamt sechs Wochenend-Workshops geplant mit dem Ziel einer Beteiligung der Jugendlichen an a) der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Themenbereichen Macht, Freiheit und freiheitsentziehenden Maßnahmen, b) der Entwicklung der Erhebungsinstrumente für die Hauptstudie und c) der Diskussion und Aufbereitung der Forschungsergebnisse. Letztendlich konnten aufgrund der Corona-Pandemie nur die ersten vier Workshops wie geplant durchgeführt werden. Die Forschungsergebnisse wurden der Fokusgruppe zurückgemeldet, konnten jedoch nicht mehr umfassend und differenziert mit den Ko-Forscher*innen diskutiert werden.

Abb. 6.3
figure 3

Akquise-Plakat zur Gewinnung der Fokusgruppe & Ablaufübersicht der Fokusgruppenarbeit

Folgend findet eine strukturierte Reflexion der partizipativ-orientierten Fokusgruppenarbeit innerhalb des FeM_SiKuM-Projektes entlang der oben skizzierten forschungsethischen Spannungsfelder statt:

Spannungsfeld 1: Genese von Forschungsvorhaben und Erkenntnisinteresse

Es handelte sich bei diesem Projekt um eine „Quasi-Auftragsforschung“, da das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS) die Gründung des Forschungsverbundes SEKiB initiierte, um auf eine Medienberichterstattung zur Situation von Kindern und Jugendlichen in WohneinrichtungenFootnote 8 zu reagieren. Die Einbindung der Betroffenen war dem Ministerium ein Anliegen und damit war eine partizipative Ausrichtung möglich und erwünscht. Das Forschungsthema wurde jedoch vom ministerialen Auftraggeber und den akademisch Forschenden der Universität Leipzig gesetzt und nicht durch die Jugendlichen selbst initiiert. Zudem standen hierdurch auch politische Verwertungsinteressen im Fokus.

Spannungsfeld 2: Feldzugang

Eine große Herausforderung im Feldzugang bestand in der Schwierigkeit des Zugangs über Gatekeeper (in unserem Fall: Wohnheimleitungen, Wohnbereichsleitungen). Die Auswahl der jugendlichen Ko-Forscher*innen oblag damit nicht uns als Forscher*innen, sondern war auf eine Art „Vorauswahl“ der Wohnheimleitung angewiesen. Damit hatten Menschen ohne Behinderungserfahrungen hier eine zentrale Entscheidungsdominanz und stellten das Vorhaben u. U. eher auch Jugendlichen vor, welche von ihnen als mitteilungsfreudig erachtet wurden und sich bei der Thematik ggf. wenig kritisch äußern würden. In jedem Fall sind derartige Einflüsse und andere unbewusste Projektionen der Gatekeeper auf diesen Auswahlprozess nicht gänzlich zu verhindern und waren durch uns lediglich entlang einer offenen Ansprache dieser Problematik thematisierbar.

Spannungsfeld 3: Informierte Einwilligung

Zur Absicherung der informierten Einwilligung wurden Einwilligungserklärungen in Leichter Sprache (mit Bebilderung) entwickelt und es wurden mit den Jugendlichen Informationen und Regeln für eine prozessorientierte informierte Einwilligung besprochen, um das Grundrecht auf Selbstbestimmung (Klärung bei jedem Treffen: Freiwilligkeit, grundlegendes Verständnis jedes Themas, Abbruch jederzeit möglich etc.) zu sichern. Es bestand eine große Herausforderung darin, im Vorfeld einschätzen zu müssen, wieviel Information wichtig ist für die Jugendlichen, um informiert einwilligen zu können. Wir konnten in der Zusammenarbeit u. a. auf verbalsprachliche Verstehens-Kompetenzen zurückgreifen; ist dies nicht der Fall, gestaltet sich der Prozess der informierten Einwilligung nochmal deutlich schwieriger.

Spannungsfeld 4: Schadensfreiheit und Belastungserleben

Bei FeM handelt es sich um eine äußerst sensible und zumeist auch tabuisierte Thematik, die inhaltlich im Mittelpunkt stand. Hier waren immer wieder mangelnde zeitliche Ressourcen eine Erschwernis für den partizipativen Forschungsanspruch, weil es stets noch mehr Zeit gebraucht hätte für eine Beschäftigung mit einer Thematik, die belastend sein und (Re-)Traumatisierungen beinhalten kann. Dennoch haben wir versucht, stets hinreichend Raum für Gesprächsbedarfe anzubieten und über ,Hilfekarten‘Footnote 9 zudem eine Wohnheim-interne Ansprechpartnerin sowie auch eine institutions-externe Psychologin für die Jugendlichen sichtbar und niedrigschwellig verfügbar zu machen.

Spannungsfeld 5: Gestaltung der konkreten Erhebungssituation

Kritisch zu berücksichtigen ist, dass wir (aus organisatorischen und rechtlichen Gründen) die Wochenend-Workshops in den Räumlichkeiten des Wohnheims durchführen mussten. Hier gab es zwar einen geschützten Rahmen, weil wir stets in einem eigenen großen Raum arbeiten konnten, aber das Risiko der Belastungen und Verzerrungen durch institutionelle Erwünschtheit ist nicht zu verleugnen. Darüber hinaus haben wir versucht, die Gestaltung von Situationen der Zusammenarbeit sehr stringent an den Bedürfnissen und Wünschen der Jugendlichen auszurichten. Insgesamt wurden alle Materialien speziell für die Jugendlichen konzipiert und an deren individuelle Bedarfe angepasst.

Spannungsfeld 6: Datenschutz

Auch zur Information und Absicherung des Datenschutzes wurden Dokumente in Leichter Sprache (mit Bebilderung) entwickelt und die Aspekte Anonymisierung und Vertraulichkeit wurden prozessorientiert in den gesamten Fokusgruppenarbeitsverlauf eingeflochten.

Spannungsfeld 7: Auswertung und Ergebnisse

Bedingt durch die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Schutzmaßnahmen konnten die Jugendlichen letztlich nur unzureichend in Fragen zur Ergebnisdiskussion und -aufbereitung mit einbezogen werden.

Eine Herausforderung in der Fokusgruppenarbeit im FeM_SiKuM-Projekt insgesamt bestand in dem Dilemma des Beziehungsaufbaus in partizipativ-orientierten Forschungskontexten: Einerseits sind Forscher*innen einer professionellen Distanz verpflichtet, andererseits bedarf es in der Kommunikation über höchstpersönliche Themen einer vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre. Die dabei entstehenden Beziehungen sind immer temporärer Gestalt. Eine Herausforderung, die sich im Zuge dessen auftut, ist die Frage nach dem Umgang mit vorherrschenden Biografien von Beziehungsabbrüchen und dem hohen Eingebundensein in professionelle Beziehungsstrukturen. Forscher*innen können in diesem Zusammenhang schnell zur Projektionsfläche für unerfüllte Beziehungswünsche werden (Frieters-Reermann et al. 2019). „Um diesen Erwartungen vorzubeugen, bedarf es einer Nähe, die professionell reflektiert werden muss. Dies fordert eine ehrliche und transparente Kommunikation über Anliegen und Rolle der Forschenden im Aufeinandertreffen mit den Teilnehmenden (Buchner 2008)“ (DIFGB 2020, S. 12 f.). Dies haben wir in der Zusammenarbeit mit den ko-forschenden Jugendlichen versucht, umzusetzen und gleichzeitig mit einer Supervision für die akademisch Forschenden zu reflektieren.

Darüber hinaus haben wir uns auch mit der Unauflösbarkeit des folgenden themenspezifischen Dilemmas konfrontiert gesehen: „Institutionelle Kontexte bedingen strukturelle Gewalt und Zwang in hohem Maße und ermöglichen gleichzeitig kaum eine Thematisierung dieser Erfahrungen seitens der betroffenen Kinder und Jugendlichen“ (Heusner et al. 2020, S. 251 f.). Dies bestätigte sich auch in der Fokusgruppenzusammenarbeit und daher gilt es künftig noch sensibler zu analysieren, welche Räume und Anlässe geschaffen werden müssen, damit alle Stimmen gehört werden und bestehende Hegemonien und Paternalisierungen sichtbar und bearbeitbar werden.

Die partizipativ-orientierte Arbeit mit der Fokusgruppe war dennoch eine große Bereicherung. So konnten die Jugendlichen die akademischen Forschenden bei der Entwicklung und Reflexion der Erhebungsinstrumente unterstützen. Gemeinsam wurde überlegt, welche Themenbereiche und Fragestellungen für die Gesprächsleitfäden zum FeM-Erleben relevant sind. Ebenso konnten gemeinsam visuelle, handlungsorientierte und kreative Methoden (z. B. Wimmelbild zum Leben im Wohnheim, Bildkarten zu FeM-Situationen, Gefühlsskalen, Arbeit mit Tablets) für die Erhebung erprobt und weiterentwickelt werden. Darüber hinaus konnten die Jugendlichen eine Reihe von Kompetenzen erwerben, die sich auch über das konkrete Projekt hinaus positiv auswirken. Somit kann das Potenzial dieses Forschungsstils insgesamt hervorgehoben werden. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass sich die Projekt-Laufzeiten, die personellen und materiellen Voraussetzungen sowie die Praxis der Projektbeantragung verändern müssen, damit eine wirklich umfassende Partizipative Forschung möglich wird, die den Einbezug von Forschungspartner*innen mit Behinderungserfahrungen bereits bei der Festlegung des Erkenntnisinteresses sowie folgend im gesamten Forschungsprozess möglich macht (Hauser 2020).