Wie und wo leben Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen? Welche Vorstellungen haben sie selbst für ein „gelingendes Leben“? Welche Unterstützung benötigen sie, um ihre persönlichen Wünsche realisieren zu können?

Diesen Fragen wurde über Jahrhunderte hinweg keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. „Zuständig“ für diese Menschen waren ausschließlich ihre Familien, allenfalls die Einrichtungen der Armenfürsorge. Als im Kontext der Industrialisierung Familien zunehmend von Betreuungsaufgaben überfordert waren, glaubte man Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts mit der Gründung von sog. Heil- und Pflegeanstalten eine ausreichende Antwort für diese prekären Situationen gefunden zu haben. Die zentralistische Ausrichtung dieser Institutionen erleichterte in der NS-Zeit den Zugriff auf die „Schwachsinnigen“, „biologisch Minderwertigen“, um sie im Rahmen des Euthanasie-Programms zu ermorden (Klee 1983).

Dieses System – Familie oder Anstalt – blieb bis etwa zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu unhinterfragt. Erst in den 1960er/1970er Jahren entwickelte sich grundlegendere Kritik. Diese richtete sich zum einen gegen die (meistens unfreiwillige) Rolle der Großeinrichtungen im sog. Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Zum anderen forderten Eltern und Fachleute, die sich 1958 in der „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ zusammengeschlossen hatten, eine Abkehr von der bisherigen Versorgungspraxis: Zugang beeinträchtigter Kinder zum Bildungssystem sowie zu Arbeitsmöglichkeiten, später auch die Gründung von gemeindenahen Wohneinrichtungen, die im Gegensatz zu den Großeinrichtungen eine Fortführung des engen Kontakts zwischen erwachsenen Menschen und ihren Angehörigen ermöglichen und die Integration ins Wohnumfeld erleichtern sollten.

Die Kritik wurde von staatlichen Institutionen aufgegriffen. Es galt, rechtliche Grundlagen zu schaffen, mit denen neue und andere Unterstützungssysteme für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen finanziert werden konnten. Zudem ließ sich die deutsche Sozialpolitik, unterstützt von wissenschaftlichen Forschungen, von international verhandelten Ansätzen leiten. Motor für die Weiterentwicklung der Strukturen und Konzepte waren insbesondere

  • fachliche Impulse aus dem westlichen Ausland zur Normalisierung der Lebensbedingungen (Principle of Normalization), zur Realisierung von Lebensqualität (Quality of Life), zu neuen Wohnkonzepten (Supported Living), Verfahren der Hilfeplanung (Person-centered Planning) sowie gemeinwesenorientierten Ansätzen (Community Care, Community Living);

  • Forderungen von Menschen mit Behinderung für ein selbstbestimmtes Leben inmitten der Gesellschaft. Diese Entwicklung geht zurück auf die Independent Living-Bewegung in den USA, der sich auch Menschen mit intellektuellen Einschränkungen anschlossen. Unter dem Logo „People First“ – „Mensch Zuerst“ dringen sie darauf, nicht länger diskriminierend als „geistig behindert“, sondern als Menschen mit Lernschwierigkeiten adressiert zu werden;

  • die seit 2001 im deutschen Sozialrecht (SGB IX) für Menschen mit Behinderung verankerten Zielperspektiven Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft;

  • die seit 2009 in Deutschland in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK), die die vollständige und wirksame gesellschaftliche Partizipation und Inklusion von Menschen mit Behinderung proklamiert (Art. 3 UN-BRK) und im Bereich des Wohnens und Lebens in der Gemeinde eine selbstbestimmte Lebensführung und die Einbeziehung in die Gemeinschaft einfordert (Art. 19 UN-BRK);

  • der seit 2016 im Bundesteilhabegesetz festgeschriebene Paradigmenwechsel von der institutionellen Orientierung zur Personenzentrierung, der die kategoriale Unterscheidung zwischen den Unterstützungssystemen (ambulant und stationär) abzuschaffen sucht, die Position der Menschen mit Behinderung stärkt und ihre Partizipation an allen Planungen und Entscheidungen, die ihr eigenes Leben betreffen, einfordert.

Die Veränderungsprozesse und spezifische Fragestellungen im Kontext wohnbezogener Teilhabe von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen wurden in Forschungsprojekten unter Berücksichtigung der jeweiligen Leitkonzepte empirisch untersucht, analysiert und begleitet. Schwerpunkte waren Bestandsaufnahmen der Wohnsituation zu unterschiedlichen Zeitpunkten, Prozesse der Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung, die Untersuchung unterschiedlicher Wohnsettings hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Selbstbestimmung und Teilhabe und die Verbesserung der individuellen Lebensqualität, Konversionsprozesse in Komplexeinrichtungen, die Rolle von Mitarbeiter*innen und Angehörigen sowie Wohnen bei spezifischen Bedarfen, z. B. im Alter oder bei komplexem Unterstützungsbedarf einschließlich herausfordernder Verhaltensweisen, und Fragen der Organisationsentwicklung, der lokalen Unterstützungssysteme, der Sozialplanung und der Quartiersentwicklung.

Im Folgenden wird unter Bezugnahme auf jeweils relevante sozialpolitische Entwicklungen ein Überblick über Studien gegeben, die seit den 1980er Jahren wesentliche Etappen der Wohnforschung in Deutschland repräsentieren, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Die Darstellung erfolgt chronologisch entlang der Leitkonzepte Normalisierung der Lebensbedingungen, Lebensqualität, Selbstbestimmung und Teilhabe sowie soziale Inklusion und Partizipation. Studien im deutschsprachigen Ausland werden nur vereinzelt einbezogen.

1 Leitkonzept: Normalisierung der Lebensbedingungen

Der Begriff des Normalisierungsprinzips wurde erstmals 1943 im Kontext der Neuausrichtung der Behindertenpolitik in Schweden verwendet, die u. a. ein sozialpolitisches Konzept zur Neu- und Umgestaltung der Unterstützungsleistungen für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen implizierte: Basierend auf bürgerrechtlichen Gesichtspunkten, insbesondere der Gleichstellung, wurde das Ziel des Zugangs auch dieser Menschen zu gesellschaftlichen Bereichen wie dem Bildungssystem, dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, formuliert. Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, die auch im Erwachsenenalter auf andragogische und/oder assistierende Unterstützung angewiesen sind, sollte zumindest eine Lebensführung ermöglicht werden, die den Standards aller Bürger*innen des Landes entspricht. In Dänemark wurde das Normalisierungsprinzip aufgegriffen, ohne jedoch die bürgerrechtlichen Aspekte ebenso stark zu betonen. Bei der Rezeption des Konzepts in Deutschland in den 1970er/1980er Jahren stand zunächst der Gedanke der Normalisierung des Alltags in (Groß-)Einrichtungen im Mittelpunkt: Trennung von Wohnen und Arbeit, Leben in gemischtgeschlechtlichen Gruppen, Privatsphäre u. a. (Kastl und Metzler 2015).

Aus einer gänzlich anderen – wissenschaftlich-soziologischen – Perspektive wurden in den 1970er Jahren, vor allem durch Goffman (1973), die entpersönlichenden Wirkungen eines Lebens in Großeinrichtungen thematisiert. In seinen stigmatisierungstheoretischen Analysen der von ihm als „totale Institution“ bezeichneten Einrichtungen wie Gefängnisse, Psychiatrien und andere geschlossene Anstalten konnte er aufzeigen, wie der Aufenthalt der „Insassen“ zu einem erheblichen Identitätsverlust führt. Dieser wird durch unterschiedliche Verhaltensweisen wie „Unterwerfung“/Anpassung, Übernahme der zugeschriebenen Identität, Rebellion oder auch Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten (Hospitalisierung) kompensiert. In Österreich haben Fengler und Fengler (1984) auf der Basis einer ethnografischen Studie auf Stationen einer Psychiatrischen Landesklinik Merkmale der sozialen Organisation beschrieben und Handlungspraxen der dort tätigen Pfleger*innen, Ärzt*innen, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen analysiert – mit teilweise ähnlichen Befunden wie die amerikanischen Studien. Als Folge der Kritik an den Anstalten wurden in den 1970er Jahren auch in Deutschland die tradierten Versorgungskonzepte für Menschen mit Behinderung in Großeinrichtungen und Psychiatrischen Kliniken einer kritischen Bilanz unterzogen und Forderungen nach Veränderungen laut.

1.1 Wohnbezogene regionale Studien

Veränderungen der Wohnsituation im Zeichen von Normalisierung erfordern zunächst eine Deskription der Ausgangslage durch Forschung. Sie analysiert gegenwärtige Wohnangebote der Behindertenhilfe und Formen der Fehlplatzierung in Einrichtungen, die nicht primär dem Wohnen von Menschen mit Behinderung dienen, und gibt Empfehlungen für die Weiterentwicklung.

1.1.1 Leben in Großeinrichtungen der Behindertenhilfe

Obwohl die Forderung des Normalisierungsprinzips „Wohnen so normal wie möglich“ auf die Eingliederung von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft zielte, setzten die tradierten überregionalen Anstalten in konfessioneller Trägerschaft mit integrierten Arbeits-, Beschäftigungs- und Freizeitangeboten sowie medizinischen, therapeutischen und sozialpädagogischen Fachdiensten zunächst auf eine Humanisierung der Lebensbedingungen innerhalb der Institutionen. Die räumlichen, strukturellen und personellen Bedingungen wurden verbessert, defizitorientierte Handlungsansätze durch bedürfnisorientierte Leitprinzipien abgelöst und Konzepte und Strukturen entwickelt, die die Institution als einen „Ort zum Leben“ begreifen, in dem Menschen mit Behinderung ihren Bedürfnissen entsprechend gut leben können und die notwendige Unterstützung erhalten sollen (Gaedt 1987, 1996).

Beispielhaft für die Lebensbedingungen in Großeinrichtungen der Behindertenhilfe in den 1980er Jahren seien Ergebnisse einer Studie in Bayern genannt (Haisch 1990): Die Gruppengröße (10–17 Personen), die räumlichen Bedingungen (4-, 5-, 8-Bett-Zimmer) und die Betreuungssituation wurden den Anforderungen an eine bedürfnisorientierte und entwicklungsanregende Gestaltung des Alltags nicht gerecht. Durch überwiegend unausgebildetes Personal, einen hohen Anteil an Pflegetätigkeiten und Nichtbeteiligung der Bewohner*innen an alltäglichen Aufgaben zeichnete sich eine Tendenz zur Entfachlichung der Arbeit ab, die eine Verarmung des Lebens in der Wohngruppe mit gleichzeitiger Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten zur Folge hatte. Diese Tendenz wurde auch in einer vergleichenden Untersuchung zur Umsetzung des Normalisierungsprinzips in Dänemark und Deutschland konstatiert (Thimm et al. 1985; Schiller 1985). Empfehlungen zur Verbesserung der Situation in Großeinrichtungen zielten auf die Größe und Zusammensetzung der Gruppen, die Qualifikation des Personals, die Arbeitsorganisation und eine entwicklungsanregende Gestaltung des Alltags in den Gruppen.

1.1.2 Ausgliederung aus Psychiatrischen Kliniken

Psychiatrische Kliniken waren seit jeher Auffangbecken für Menschen mit Behinderung, die wegen normabweichender Verhaltensweisen und/oder mehrfacher Beeinträchtigungen nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie betreut werden konnten und keine Aufnahme in anderen Einrichtungen fanden. Sie lebten dort unter menschenunwürdigen Bedingungen – gesellschaftlich isoliert, in hohem Maße fremdbestimmt, unter schlechten räumlichen Bedingungen, mit immer gleichbleibenden Tagesabläufen, medikamentös ruhiggestellt. Seit den 1980er Jahren wurden Menschen mit Behinderung, die in Psychiatrischen Kliniken fehlplatziert waren, im Rahmen von Enthospitalisierungsprojekten neue Lebensperspektiven eröffnet, zunächst in den westlichen Bundesländern.

Westliche Bundesländer

Infolge der Psychiatrie-Enquête des Deutschen Bundestages (1975), die die Missstände in den Kliniken öffentlich machte und die Ausgliederung der dort fehlplatzierten Menschen forderte, wurden in den 1980er/1990er Jahren in mehreren westlichen Bundesländern Enthospitalisierungsprojekte durchgeführt. Die Gestaltung und Lokalisierung der neuen Wohnsituation waren unterschiedlich, teils innerhalb größerer Einrichtungen der Eingliederungshilfe oder der Pflege, teils gemeindeintegriert. In Bremen, Hessen und im Rheinland wurden die Prozesse wissenschaftlich begleitet (Kruckenberg et al. 1995; Kruckenberg 1999; Wedekind et al. 1994). Die Auswirkungen der Ausgliederung auf die Bewohner*innen waren überwiegend positiv. Die alltagspraktischen und sozialen Fähigkeiten nahmen zu, die Tagesabläufe wurden normalisiert und Kontakte zum Lebensraum außerhalb der Wohneinrichtung wurden erschlossen. Bei einem Teil der Bewohner*innen kam es im neuen Lebensumfeld zu einem Rückgang aggressiver Verhaltensweisen. Auftretende Probleme standen in Zusammenhang mit der lückenhaften neurologisch-psychiatrischen und psychologischen Versorgung in den Regionen, fehlenden Arbeits- und Beschäftigungsangeboten für den Personenkreis sowie unzureichender Qualifikation des Personals und mangelnder Unterstützung der Mitarbeiter*innen durch Supervision und Beratung, vor allem in Krisensituationen.

Ähnlich positive Entwicklungen bei den alltagsbezogenen, sozialen und kommunikativen Kompetenzen wurden in einer Studie in Bayern zum Umzug einer Gruppe von Menschen mit schweren intellektuellen Beeinträchtigungen und autistischen Verhaltensweisen aus der Psychiatrie in ein Kleinstheim festgestellt (Dalferth 2000). Zur Messung der Veränderungen kam eine angepasste Form des Heidelberger-Kompetenz-Inventars zur Anwendung (Dalferth 1998). Auch bei dieser Personengruppe wurden Außenkontakte erweitert, selbstverletzendes und fremdgefährdendes Verhalten traten seltener auf. Die Studie gibt differenzierte Hinweise, wie die Integration dieses Personenkreises in die Gemeinde gelingen kann.

Teilweise andere Ergebnisse erbrachte eine etwa zeitgleich durchgeführte Begleitstudie zur Ausgliederung von Menschen mit Behinderung aus Bayerischen Bezirkskrankenhäusern in Wohnpflegeheime und Pflegeheime (Straßmeier 2000; Straßmeier et al. 2001). Zwar konnte die Lebensqualität der Betroffenen durch das Engagement der Beteiligten auch unter ungünstigen strukturellen Bedingungen (unzureichende Personalsituation, fehlende Tagesstrukturangebote) mancherorts verbessert werden. Wegen enger Zeitvorgaben und struktureller Umwälzungen im Bereich der Finanzierung seien die Bemühungen jedoch vielfach in halbherzigen Lösungen stecken geblieben, in manchen Fällen auch gescheitert. „Strukturen des Klinikalltags, restriktive Verhaltensmuster der Mitarbeiter gegenüber den Bewohnern und Priorisierung des Pflegekonzepts“ seien nach wie vor vorhanden (Straßmeier et al. 2001, S. 112).

Östliche Bundesländer

In den östlichen Bundesländern setzten Enthospitalisierungsprozesse erst nach der Wiedervereinigung ein. Bundesweit erstmalig nahm eine Studie in Berlin unmittelbar nach dem Fall der Mauer Anfang der 1990er Jahre die Wohnsituation von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen im westlichen und östlichen Teil der Stadt in den Blick (Seifert 1993, 1997a; Hahn 2009). Quantitative und qualitative Untersuchungen in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe sowie in Krankenhäusern und Pflegeheimen erbrachten, dass im Land Berlin etwa 1300 Personen (17 % von insgesamt rund 8000 Personen) fehlplatziert in klinischen und pflegerischen Einrichtungen lebten, unter Bedingungen, die ihre elementaren Bedürfnisse missachteten und eine konsequente Ausgliederung der Betroffenen erforderten (Seifert 1993, 1994). Der Anteil der Personen in Psychiatrischen Kliniken war mit jeweils rund 250 Personen in West und Ost etwa gleich hoch. Demgegenüber war der Anteil der Personen in Alten- und Pflegeheimen im Ostteil der Stadt zehnmal so hoch wie im Westteil (495 bzw. 48 Personen). Die im Rahmen des Forschungsprojekts erhobenen Daten wurden Planungsgrundlage des Berliner Senats für die Weiterentwicklung der Wohnangebote, einschließlich der Ausgliederung der Fehlplatzierten.

Im Jahr 1991 wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit ein Gutachten zur „Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR“ mit Empfehlungen zur Veränderung der Situation vorgelegt. In der Folge setzten auch in den neuen Bundesländern Enthospitalisierungsprozesse ein, die jedoch angesichts unzureichender Rahmenbedingungen und Weiterführung tradierter Handlungsansätze in einem Teil der aufnehmenden Einrichtungen eher als „Umhospitalisierung“ anstelle einer Verbesserung der Lebenssituation bezeichnet werden können (Hoffmann, 1998). Gelungene Enthospitalisierungsprozesse werden u. a. aus Sachsen-Anhalt berichtet (Theunissen und Hoffmann 1998; Böhning 1998).

Beispielhaft für positive Entwicklungen sei eine Studie aus Sachsen zur Ausgliederung von Langzeitpatient*innen mit intellektuellen Beeinträchtigungen aus einem Psychiatrischen Krankenhaus in betreute Wohnformen, Pflegeheime oder die Herkunftsfamilie genannt (Schneeberger 2010). Eine Befragung der Betroffenen mit dem Berliner LebensqualitätsprofilFootnote 1 zu ihrer objektiven und subjektiven Lebensqualität belegt, dass sie in allen untersuchten Bereichen von der Enthospitalisierung profitiert haben: Wohnsituation, Familie, Kontakte zu anderen, Freizeitaktivitäten, Arbeit, Ausbildung, Religion, ökonomische Situation, Gesundheit, Recht, Sicherheit. Dabei hatte die soziale Integration im persönlichen Umfeld, im Freizeitbereich und bei der Arbeit einen besonderen Stellenwert.

1.1.3 Leben im Altenheim

Trotz bundesweiter Enthospitalisierungsprozesse gibt es bis heute Fehlplatzierungen von Menschen mit Behinderung in Altenpflegeheimen, auch in jüngerem Alter. Die im Kontext von SGB IX und SGB XI nach wie vor ungeklärte Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung leistet diesen Entwicklungen Vorschub. Beispielhaft sei eine Studie in Hessen genannt, nach der Ende 2000 ca. 3 % der insgesamt 1427 in Altenheimen lebenden Menschen unter 60 Jahre alt waren. Mehr als ein Drittel der unter 60-Jährigen galt als „geistig behindert“ (Brings und Rohrmann 2001). Grund für den Einzug in ein Altenheim war überwiegend ein gestiegener Pflegebedarf.

Aussagen in Interviews mit rund 30 Personen zwischen 31 und 40 Jahren belegen, dass eine autonome Gestaltung des Tagesablaufs im Altenheim nicht möglich war. Gleichbleibende Rhythmen, institutionell festgelegte Essens- und Therapiezeiten und eine hohe Abhängigkeit von den Dienstplänen des Personals prägten den Alltag (Rohrmann 2003). Zudem wurde das wesentlich höhere Durchschnittsalter der übrigen Heimbewohner*innen als belastend erlebt. Ein großer Teil der Interviewpartner*innen hatte nur wenige soziale Kontakte innerhalb der Einrichtung, bereitgestellte Freizeitangebote entsprachen nicht ihren Interessen, Einsamkeitsgefühle und Langeweile gehörten zum Alltag. Rund ein Drittel der Befragten äußerte den Wunsch nach Veränderung ihrer Lebenssituation, die anderen schienen sich mangels Alternativen mit ihrer Lage arrangiert zu haben.

1.2 Bundesweite Bestandsaufnahme der Lebenssituation im Heim

Mitte der 1990er Jahren wurde von der Forschungsstelle „Lebenswelten behinderter Menschen“ der Universität Tübingen die bis in jüngster Zeit einzige bundesweite repräsentative Studie zu Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung in Einrichtungen der Behindertenhilfe durchgeführt (Wacker et al. 1998). Dabei rückten die Qualität der Wohnangebote (Struktur-, Prozess-, Ergebnisqualität) und die Lebensqualität der Bewohner*innen in den Institutionen in den Blick. Die quantitativen und qualitativen Erhebungen umfassten materielle und räumliche Bedingungen des Wohnens, die Interaktion zwischen Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen, Handlungsspielräume und Einflussmöglichkeiten von Bewohner*innen in organisatorischen Abläufen, die Gestaltung des Alltags und Zeitstrukturen im Tages-, Wochen- und Jahresablauf, soziale Beziehungen und Lebenszufriedenheit. Neben den Aussagen von Geschäftsführungen, Leitungspersonen und Mitarbeiter*innen hatten die Sichtweisen der Betroffenen einen besonderen Stellenwert.

Die Ergebnisse der Studie zeigten erhebliche Einschränkungen der individuellen Lebensführung (Metzler 2000). Empfehlungen zur Weiterentwicklung bezogen sich u. a. auf die weitere Ausdifferenzierung des Wohnangebots, den Ausbau von Einzelzimmern mit eigenem Sanitärbereich, die Reduzierung der Gruppengrößen und die Beteiligung der Bewohner*innen am Verfahren der Zusammensetzung der Gruppe, Ermöglichung von Abweichungen vom Gruppenprinzip im Heim, die Beteiligung der Bewohner*innen an der Auswahl des Gruppenpersonals, mehr fachliche Unterstützung und persönliche Beratung für die Mitarbeiter*innen sowie die Schaffung von personellen und sachlich-räumlichen Voraussetzungen zur Aufnahme von Menschen mit komplexen Hilfebedarfen, z. B. wegen herausfordernder Verhaltensweisen, zusätzlicher psychischer Probleme oder hohen pflegerischen und therapeutischen Bedarfs. Aktuelle Daten zur Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen in Privathaushalten, Wohneinrichtungen und Alten- und Pflegeheimen hat eine Repräsentativbefragung durch das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) vorgelegt (infas 2022).

2 Leitkonzept: Lebensqualität

Beeinflusst durch Entwicklungen im anglo-amerikanischen Raum gewinnen in den 1990/2000er Jahren Fragen der Qualitätsbeurteilung und -entwicklung im Fachdiskurs der Behindertenhilfe an Bedeutung (Beck 1994; Klicpera und Gasteiger-Klicpera 1995). Während es zunächst primär um die inhaltliche Bestimmung von Qualität im Sinne einer bis dahin kaum konturierten „guten“ Lebensqualität ging, hielt mit der Novellierung des § 93 BSHG (1994, S. 662) ein ökonomisch orientierter Begriff der „Dienstleistungsqualität“ Einzug. Ein systematisches Qualitätsmanagement mit Zertifizierungsnachweis sollte die Effektivität und Effizienz der eingesetzten Mittel erhöhen und der Wettbewerb unter den Anbietern die Qualität der Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung verbessern (Schädler 2004). Die erhofften Qualitätssteigerungen blieben jedoch aus.

In diesem Kontext entwickelte das Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste an der Universität Siegen (ZPE) Instrumente, die die Verbesserung der Qualität der Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung unterstützen sollten. Beispielhaft sei das Forschungsprojekt „Lebensqualität in Wohneinrichtungen“ (LEWO) genannt, das Indikatoren zur Einschätzung der Lebensqualität von Menschen mit Behinderung entwickelte und in einem Instrument zum fachlichen Qualitätsmanagement in sieben Gegenstandsbereichen verdichtete: Wohnort, Gestaltung des Hauses; Alltagsstrukturen, Routinen, Angebote, Tätigkeiten; Zusammenleben; nichtprofessionelle Beziehungen und Netzwerke; Rechte/Schutz; Mitarbeiterführung; Organisationsentwicklung (Schwarte und Oberste-Ufer 1994, 1997, 2001). In den folgenden Jahren legte das ZPE-Team weitere Instrumente vor, die das Wohnen von Menschen mit Behinderung betreffen: eine „Arbeitshilfe zur Qualitätsentwicklung in Diensten für Unterstütztes Wohnen von Menschen mit geistiger Behinderung“ (AQUA-UWO; Aselmeier et al. 2002) und ein weiteres zur Qualifizierung von örtlichen Netzwerken Offener Hilfen für Menschen mit Behinderung (AQUA-NetOH; Rohrmann et al. 2001).

Kern der Bemühungen um Qualität ist die bestmögliche Passung zwischen den individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen von einem „guten“ Leben und den jeweils gegebenen personellen, strukturellen, institutionellen, konzeptionellen und finanziellen Bedingungen. Dieser Prämisse sieht sich das Konzept Lebensqualität verpflichtet, das international als Schlüsselkonzept zur Planung, Gestaltung und Evaluation der Dienstleistungen im Bereich des Wohnens gilt. Es ist ein offenes Konzept, das die Wechselwirkungen zwischen objektiven Bedingungen, persönlichen Werten und Zielen und subjektivem Wohlbefinden in den Mittelpunkt stellt. Schalock et al. (2007) haben das Zusammenspiel von personenbezogenen Faktoren, Umweltbedingungen und gesellschaftlichen Aspekten von Lebensqualität in acht Dimensionen konkretisiert:

  1. 1.

    Emotionales Wohlbefinden (Erleben von Anerkennung, Gefühl der Zugehörigkeit, Geborgenheit und Sicherheit, psychische Gesundheit, Selbstwertgefühl u. a.)

  2. 2.

    Zwischenmenschliche Beziehungen (Dialog, Interaktion, Persönliche Beziehungen, soziale Netzwerke, soziale Unterstützung, Hilfen in Krisen u. a.)

  3. 3.

    Materielles Wohlbefinden (Wohnverhältnisse, persönlicher Besitz, Einkommen, finanzielle Lage, Hilfsmittel, Barrierefreiheit, Assistenz, Infrastruktur u. a.)

  4. 4.

    Persönliche Entwicklung (Identität, Selbstbewusstsein; Bildung/Lernen im Alltag; Kommunikation, Kompetenzen u. a.)

  5. 5.

    Physisches Wohlbefinden (Gesundheit; Körperpflege, Ernährung; Bewegung, Entspannung; Schmerzfreiheit; persönliche Sicherheit u. a.)

  6. 6.

    Selbstbestimmung (individuelle Bedürfnisse, Interessen, Ziele; Wahl- und Entscheidungsfreiheit; Beteiligung, Mitwirkung)

  7. 7.

    Soziale Inklusion (Gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft; Einbezogensein, Dazugehören; Übernahme sozialer/gesellschaftlicher Rollen; Unterstützung durch soziale Netzwerke und Dienste u. a.)

  8. 8.

    Rechte (Grundprinzipien: Privatsphäre, Respekt, würdevolle Behandlung, Mitsprache/Mitwirkung, Nicht-Diskriminierung; Gesetze auf Bundes- und Landesebene und international)

Außerhalb von Begleitforschungen zu Enthospitalisierungsprojekten gibt es in Deutschland nur wenige vergleichende Studien zur Lebensqualität von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Wohnsettings, insbesondere Längsschnittuntersuchungen sind rar.

2.1 Qualität aus Nutzerperspektive

Durch die im Lebensqualität-Konzept geforderte konsequente Einbeziehung der Nutzerperspektive wird der Blick auf die Wirkungen der Dienstleistungen gelenkt, die im Kontext der Qualitätsdiskussion lange Zeit gegenüber der Struktur- und Prozessqualität vernachlässigt wurden. Sie eröffnet Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen die Chance zur Partizipation an der Weiterentwicklung der Dienstleistungen und Angebote.

An den meisten neueren Untersuchungen zur Wohnsituation von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen sind die Betroffenen direkt beteiligt, z. B. durch Befragungen, Interviews, Fokusgruppen oder kreative Formen der Einbeziehung wie Workshops oder Zukunftswerkstätten. Teilweise werden die Aussagen der Betroffenen durch mündliche oder schriftliche Befragungen von Angehörigen, Trägervertreter*innen und Mitarbeiter*innen von Einrichtungen und Diensten sowie weiterer Personen bzw. Organisationen ergänzt. Die Studien sind teils deskriptiv, teils prozessbegleitend ausgerichtet und setzen unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte. Am häufigsten geht es um die allgemeine Zufriedenheit mit der Lebenssituation, Möglichkeiten der Selbstbestimmung, soziale Beziehungen und Kontakte, die Teilhabe am allgemeinen Leben und Wohnwünsche, im Einzelfall auch um das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung in einer Wohngemeinschaft.

Allgemeine Zufriedenheit

Menschen mit Behinderung in betreuten Wohnformen äußern sich überwiegend zufrieden mit ihrer Lebenssituation, weitgehend unabhängig vom jeweiligen Kontext (Bundschuh und Dworschak 2003; Dworschak 2004; Schäfers 2008; Seifert 2010a; Fischer und Molnár-Gebert 2015). Kriterien für die Bewertung sind z. B. die Beschaffenheit und die Lage der Wohnung bzw. Einrichtung, das Zusammenleben in der Gruppe einschließlich des Verhältnisses zum Gruppenpersonal, die Freizeitgestaltung, soziale Beziehungen und Kontakte sowie Möglichkeiten zur Selbstbestimmung. Kritisch bewertet werden das oftmals konfliktreiche Zusammenleben in Gruppen mit Menschen, die nicht selbst als Mitbewohner*innen ausgewählt wurden, und das Verhalten von Betreuer*innen (Seifert 2010a; Fischer und Molnár 2015).

Unterschiede in der Zufriedenheit stehen u. a. in Zusammenhang mit dem Ausmaß des Hilfebedarfs und der Gruppengröße (Schäfers 2008). So erleben Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf deutliche Einschränkungen ihrer Handlungsspielräume im Alltag, z. B. bei Freizeitaktivitäten, die personelle Unterstützung erfordern. Personen, die allein oder in kleinen Gruppen leben, äußern sich zufriedener mit der Wohnsituation und den Freizeitmöglichkeiten als Bewohner*innen von größeren Gruppen. Es gibt allerdings auch gegenteilige Aussagen. So wird in einer Studie von Jakobs (1987) mit Erwachsenen mit intellektuellen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Wohnformen die Annahme, dass ein „freieres“ und selbstständigeres Leben in Wohngruppen außerhalb von Heimstrukturen mit einem Mehr an subjektiv empfundener Lebenszufriedenheit korrespondiert, nicht bestätigt. Eine mögliche Erklärung wird darin gesehen, dass aktivere und unabhängigere Personen ein kritischeres Selbstverständnis von Lebensqualität haben.

Ähnlich waren in der Berliner „Kundenstudie“ die Zufriedenheitswerte der Personen im ambulant unterstützten Einzelwohnen etwas niedriger als in Wohnheimen oder Wohngemeinschaften (Seifert 2010a). Die zunächst paradox anmutende größere Zufriedenheit in Wohnheimen, die objektiv die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung einschränken, erklärt sich häufig aus mangelnder Kenntnis von alternativen Wohnkonzepten und/oder aus einer resignativen Anpassung an die gegebenen Bedingungen, wenn Änderungswünsche ohne Resonanz blieben. Dem gegenüber haben Frauen und Männer, die in einer eigenen Wohnung leben, eher Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Wohnsituationen und schauen wegen geringerer intellektueller Einschränkungen möglicherweise kritischer auf die Gegebenheiten. Eine Analyse der Kontextfaktoren erbrachte, dass ein Teil der in der „Kundenstudie“ befragten ambulant unterstützten Personen in sozial benachteiligten Stadtbezirken wohnt und bei der Einschätzung der Zufriedenheit auch subjektiv negativ bewertete Umweltaspekte einflossen, insbesondere die Beschaffenheit ihrer Wohnung, die Wohngegend und das soziale Umfeld. Die geäußerte Unzufriedenheit mit den jeweils gegebenen Bedingungen ist somit nicht gleichbedeutend mit einer Kritik an der Wohnform.

Selbstbestimmung

Auch im Hinblick auf die Selbstbestimmung spielen strukturelle Bedingungen eine wichtige Rolle. So sind in kleineren Wohnheimen, Außenwohngruppen und eigenständigen Wohngruppen signifikant mehr Entscheidungsmöglichkeiten gegeben als in Komplexeinrichtungen und Dorfgemeinschaften (Dworschak 2004), Personen in kleinen Gruppen erleben größere Wahlfreiheiten und deutlich geringere Reglementierungen (Schäfers 2008). Neben strukturellen Faktoren ist die Qualität der Interaktion zwischen Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen für die Realisierung von Selbstbestimmung bedeutsam: Obwohl vier Fünftel der Befragten in der Berliner „Kundenstudie“ angaben, im Wohnalltag genügend selbst bestimmen oder entscheiden zu können, stellten fast 40 % von ihnen fest, dass ihre eigene Meinung nur manchmal oder nie ernst genommen wird – ein Sachverhalt, der grundlegende Einstellungen gegenüber Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen tangiert und im Kontext des Anspruchs einer Kommunikation auf Augenhöhe kritischer Diskussion bedarf (Seifert 2010a). Auch das Fehlen von neutralen Anlaufstellen für Beschwerden und die geringe Inanspruchnahme des Heimbeirats bei Problemen sind Anzeichen für eine mangelnde Verankerung des Empowerment-Ansatzes in der Arbeit mit diesem Personenkreis.

Soziale Netzwerke

Das soziale Netzwerk von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen besteht überwiegend aus Angehörigen, professionellen Unterstützer*innen und Menschen mit Behinderung aus wohn- oder arbeitsbezogenen Zusammenhängen. Hinsichtlich der Größe und der Struktur des Netzes gibt es Unterschiede zwischen ambulant betreuten Wohnformen und stationären Einrichtungen (heute: „Besondere Wohnformen“): Heimbewohner*innen haben gegenüber Frauen und Männern in Außenwohngruppen ein umfangreicheres Gesamtnetzwerk, das allerdings zum überwiegenden Teil aus wohngruppenabhängigen Personen (Mitbewohner*innen, Mitarbeiter*innen) besteht. In Außenwohngruppen und Wohngemeinschaften steigt der Anteil wohngruppenunabhängiger Kontakte, beim betreuten Einzel- und Paarwohnen sind die sozialen Netze in ihrer Zusammensetzung differenzierter als bei Personen, die in Gruppen leben (Windisch et al. 1991; Dworschak 2004; Langhanky und Hußmann 2005; Hanslmeier-Prockl 2009). Kontakte zur Nachbarschaft sind eher die Ausnahme. Das heißt: Selbst bei einer räumlichen Platzierung der Wohnangebote im Gemeinwesen ist die soziale Integration nicht automatisch erreicht.

Teilhabe am allgemeinen Leben

Die Befragten der Berliner „Kundenstudie“ zeigten sich mit den Freizeitaktivitäten überwiegend zufrieden (Seifert 2010a). Bei den bevorzugten Freizeitpartner*innen standen Freund*innen an erster Stelle, gefolgt von Betreuer*innen und Mitbewohner*innen und den Eltern. Überraschend hoch war die Zahl derjenigen, die in ihrer Freizeit am liebsten allein sind (44 %). Die Freizeitvorlieben waren mit denen von Menschen ohne Behinderung vergleichbar, z. B. Spazierengehen, Freunde treffen, Verwandte besuchen, Einkaufsbummel machen, sportliche Aktivitäten, Cafébesuche und Disco. Hier wird die Vielfalt der Möglichkeiten, die in einer Großstadt offenstehen, wirksam. Teilweise wurden Treffpunkte und Freizeitklubs in Anspruch genommen, die von Trägern der Behindertenhilfe betrieben werden.

Das Vorhalten eigener Freizeitangebote durch Dienste und Einrichtungen der Behindertenhilfe wird kritisch bewertet, da sie die Nutzung allgemeiner Angebote des Gemeinwesens überflüssig machen und damit die Teilhabe am Sondersystem stärken (Aselmeier et al. 2007; Hanslmeier-Prockl 2009). Dennoch können die Freizeitangebote der Behindertenhilfe für Menschen im ambulant unterstützten Wohnen eine Anlaufstelle für Kontakte zu anderen Personen mit Behinderung sein, die das selbstständige Leben unterstützt und Einsamkeitserfahrungen mindert. Um der Separation entgegenzuwirken, sind Dienste und Einrichtungen der Behindertenhilfe aufgefordert, mit ihren Freizeitangeboten Verbindungen zum Gemeinwesen herzustellen.

Im stationären Bereich ist die Zufriedenheit mit den Freizeitmöglichkeiten vergleichsweise gering, insbesondere hinsichtlich der Ausübung von Hobbies, des Einkaufens oder des Essengehens und des Kinobesuchs. Die Möglichkeiten, sich sportlich zu betätigen oder Sportveranstaltungen zu besuchen und in die Kirche zu gehen, erhielten bessere Zufriedenheitswerte (Schäfers 2008). Befragungen von älteren Frauen und Männern mit intellektuellen Beeinträchtigungen zu bevorzugten Freizeitaktivitäten und Formen der tagesstrukturierenden Angebote zeigen, dass ihre Aktivitäten denen älterer Menschen ohne lebenslange Beeinträchtigung ähnlich sind, z. B. Spaziergänge (Mair 2008).

Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung

Eine bislang in nur wenigen Bundesländern praktizierte Form des Wohnens sind integrative bzw. inklusive Wohngemeinschaften, in denen Menschen mit und ohne intellektuelle Beeinträchtigung zusammenleben. In Orientierung an den Leitprinzipien Inklusion und Selbstbestimmung wurde der Alltag einer Reutlinger Gruppe über drei Jahre wissenschaftlich begleitet (Jerg 2001). Als Erhebungsinstrument dienten Gesprächsgruppen, an denen Bewohner*innen mit bzw. ohne Assistenzbedarf, Mitarbeiter*innen, Eltern und Trägervertreter*innen beteiligt waren. In der Analyse wurden förderliche und hemmende Bedingungen identifiziert, die bei der Realisierung weiterer Wohnprojekte dieser Art genutzt werden können. Eine wichtige Erkenntnis war, dass sich im Gegensatz zu institutionellen Formen des Wohnens im integrativen lebensweltorientierten Wohnprojekt das Verhältnis von Selbstbestimmung und Abhängigkeit anders darstellt. So werden durch die Einbindung von Bewohner*innen ohne Assistenzbedarf in die Wohngemeinschaft Formen institutionellen Denkens und Handelns verhindert und Bedingungen hergestellt, die dem privaten Wohnen ähnlich sind. Anders als in tradierten Wohnsettings haben die Bewohner*innen in dieser Wohnform eine „Machtposition“, die ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft seitens der Institution voraussetzt und eine permanente Vermittlungsarbeit der hauptamtlich Mitarbeiter*innen einfordert (Jerg 2001, S. 29). Seit 2020 besteht in Verantwortung des Trägers „Gemeinsam leben lernen“ (München) ein wissenschaftlich begleitetes Projekt zur bundesweiten Verbreitung inklusiver Wohngemeinschaften (https://www.wohnsinn.org).

Wohnwünsche

In regionalen Studien in Baden-Württemberg, NRW und Berlin zur Weiterentwicklung des Wohnens unter den Leitprinzipien Selbstbestimmung und Teilhabe äußern viele Menschen mit Behinderung Veränderungswünsche (Metzler und Rauscher 2004; Wissel et al. 2007; Seifert 2010a). Sie zielen auf das Leben in einer eigenen Wohnung (alleine oder mit Freund*in bzw. Partner*in) mit der individuell notwendigen Assistenz, in sozialen Bezügen und einem sozialen Umfeld, das eine gute Infrastruktur bietet und nicht durch eigene Probleme belastet ist, in einem sozialen Klima des Respekts und der Anerkennung. Jeweils etwa 40 % der Befragten möchten in einer eigenen Wohnung mit ambulanter Unterstützung leben. Einen etwas geringeren Prozentsatz der Umzugswilligen in eine selbstständigere Wohnform erbrachte eine Befragung von Heimbewohner*innen in der Untersuchung von Schäfers (2008) mit knapp 30 %. Langfristig wünschte sich sogar die Hälfte der Befragten einen Wechsel – ein Zeichen dafür, dass die gegenwärtige Wohnsituation nicht den Bedürfnissen und Lebenszielen dieser Personen entspricht.

Befragungen von Bewohner*innen von Komplexeinrichtungen im Prozess der Dezentralisierung lassen erkennen, dass zwar Wünsche nach eigener Gestaltung des Wohnraums, kleinere Wohngruppen und mehr Privatsphäre geäußert werden, viele aber mangels Kenntnis von Alternativen zur gegenwärtigen Wohnsituation keine konkreten Vorstellungen bezüglich einer anderen Wohnform entwickelt haben (Fischer und Molnár-Gebert 2015). Manche wünschen sich anstelle des eher beschaulichen Lebens auf dem Gelände der Komplexeinrichtung eine städtische Infrastruktur mit Einkaufsmöglichkeiten, Kneipen, Friseuren und Eisdielen sowie guter Anbindung an den Öffentlichen Personennahverkehr.

2.2 Qualität aus Beobachterperspektive

In einzelnen Studien wird der Zugang zur Alltagswirklichkeit von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen in Wohneinrichtungen über teilnehmende Beobachtungen erschlossen, weil die dort lebenden Menschen ihre Befindlichkeit primär über ihr jeweils individuelles Ausdrucksverhalten artikulieren und nicht selbst befragt werden können. Teilnehmende Beobachtungen sind ein Weg, sich der subjektiven Perspektive dieser Menschen in der gegebenen Lebenssituation anzunähern. Sie können ein Korrektiv zu Aussagen von Dritten sein, z. B. von Mitarbeiter*innen als Akteur*innen im Bereich des Wohnens.

Beispielhaft sei die Kölner Lebensqualität-Studie genannt, die die Lebenssituation von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf in unterschiedlichen Wohngruppen von Heimen der Eingliederungshilfe und Pflegeheimen in Nordrhein-Westfalen untersuchte (Seifert et al. 2001; Seifert 2002). Theoretischer Rahmen war ein mehrdimensionales Konzept von Lebensqualität, das objektive Lebensbedingungen, subjektives Wohlbefinden und persönliche Werte und Ziele integriert (Felce und Perry 1997). Das Modell ermöglicht eine differenzierte Betrachtung des subjektiven Wohlbefindens in fünf miteinander in Wechselbeziehung stehenden Bereichen: Physisches Wohlbefinden, soziales Wohlbefinden, materielles Wohlbefinden, Entwicklung und Aktivität, emotionales Wohlbefinden. Da aufgrund der erhöhten Abhängigkeit von Menschen mit schwerer Beeinträchtigung ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Lebensqualität dieses Personenkreises und der Qualität der Hilfen besteht, die man ihnen gewährt, wurden als zusätzliche Einflussfaktoren das professionelle Selbstverständnis und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter*innen in die Analyse einbezogen. Die Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtungen im Wohnalltag belegen eine große Diskrepanz zwischen dem professionellen Anspruch und der Umsetzung im Alltag. Ursachen dafür liegen einerseits in den jeweils gegebenen strukturellen und situativen Bedingungen, andererseits in der Konstellation von Persönlichkeitsmerkmalen, lebensgeschichtlichen Erfahrungen, aktuellen Befindlichkeiten, Einstellungen und spezifischen Kompetenzen der Beteiligten.

Auch eine Studie in Hessen zeigt erheblichen Handlungsbedarf auf (Trescher 2016). Hier wurde mittels des Verfahrens der objektiven Hermeneutik die Lebenssituation von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen in Intensivgruppen einer Großeinrichtung am Rande der Stadt und in Gruppen eines dezentral angelegten Wohnkomplexes mit weniger schwer beeinträchtigten Personen in der Nähe des Stadtzentrums untersucht. Als zentrales Ergebnis der Auswertung von Beobachtungsprotokollen, Interviews mit zwei Bewohner*innen und drei Mitarbeiter*innen sowie Strukturbeschreibungen werden Aspekte der Entfremdung konstatiert, die sowohl räumlich als auch sozial und emotional als vom üblichen Lebensalltag stark abweichend erlebt werden. Im Detail werden alltägliche Erfahrungen von Einsamkeit, Überwachung und Regulierung sowie Objektivierung konkretisiert, aber auch „Momente des Glücks“, die den Alltag aufhellen, der überwiegend durch Warten, Passivität und Gleichförmigkeit geprägt sei. Die emotional und sozial benötigte intensive Betreuung der Bewohner*innen finde kaum statt; die Konzentration auf bürokratische Vorgänge wie Dokumentation und Teilhabeplanung binde zeitliche Ressourcen der Mitarbeiter*innen, die eigentlich für die Arbeit mit den Bewohner*innen zur Verfügung stehen sollten.

Anthroposophisch ausgerichtete Formen des Wohnens und Lebens von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen in Sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften sind in Deutschland kaum erforscht (u. a. Drechsler 2005; Stamm 2011). Erste Modelle des gemeinsamen Lebens und Arbeitens von erwachsenen Menschen mit und ohne Behinderung wurden in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre als anthroposophische „Dorfgemeinschaften“ gegründet, als Gegenmodell zur damals vorherrschenden Anstaltsunterbringung. Stamm (2011) hat in vier Sozialtherapeutischen Lebensgemeinschaften in verschiedenen Bundesländern, überwiegend im ländlichen Raum, eine ethnografische Feldforschung zur Praxis des Alltagshandelns und dessen Begründung durch die Gemeinschaftsmitglieder durchgeführt. Über teilnehmende Beobachtungen, ein Forschungstagebuch und Gespräche mit Mitgliedern der Gemeinschaft nahm er sowohl die Strukturen des gemeinschaftlichen Lebens als auch einzelne Gemeinschaftsmitglieder als Individuen und die sozialen Interaktionen zwischen den handelnden Akteur*innen in den Blick. Hauptkategorien der Auswertung bezogen sich auf die Aspekte Ritual und Rhythmus, Zusammenleben, Innen und Außen, Individuum und Gemeinschaft. Die Ergebnisse der Analysen bestätigen, dass manche Lebensgemeinschaften im Kontext des Paradigmenwechsels der Behindertenhilfe zwar eine stärkere gemeinwesenbezogene Vernetzung anstreben, das tradierte Selbstverständnis als „eigenständige, sich von der Umgebung auch abgrenzende Gebilde, Organisationen mit eigener Form“ sei jedoch geblieben (Stamm 2011, S. 275). Handlungsleitend sei die sog. inverse Integration, wonach Menschen mit Behinderungen auch dann als integriert gelten, „wenn sie Normalität in einer speziellen – inszenierten – Gemeinschaft erfahren“ (Stamm 2011, S. 276). Der mit speziellen Einrichtungen tendenziell verbundene exkludierende Charakter sei dabei sekundär. Angesichts des Risikos, dass „die Freiheit des Einzelnen zugunsten gemeinschaftsrelevanter Belange deutliche Einschränkungen erfährt“, seien die bewusste Entscheidung der Menschen mit Behinderung für diese Lebensform und deren Hinterfragbarkeit und Revidierbarkeit von besonderer Bedeutung (Stamm 2011, S. 257).

2.3 Qualität aus Mitarbeiterperspektive

Mitarbeiter*innen von Einrichtungen und Diensten sind Träger von Reformrezepten. Ihre Motivation und Qualifikation sowie ihre Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen sind grundlegende Faktoren für eine qualitätsvolle Arbeit. In der bisherigen Wohnforschung wird diesem Sachverhalt nur punktuell Rechnung getragen (u. a. Neumann 1988; Seifert 1997b; Habermann-Horstmeier und Limbeck 2016). Dabei wird den Rahmenbedingungen in den Einrichtungen eine zentrale Rolle zugeschrieben.

Eine erste umfassende Situationsanalyse der Arbeitsbedingungen in Behindertenheimen erfolgte in Baden-Württemberg im Rahmen des staatlichen Forschungsprogramms zur Humanisierung des Arbeitslebens (Neumann 1988). Beteiligt waren zwei Großeinrichtungen mit über 1000 bzw. über 500 Plätzen und eine Einrichtung mit 120 Plätzen. Über die Analyse von Interviews mit Gruppenmitarbeiter*innen wurden Belastungselemente in der Arbeitssituation ermittelt, insbesondere im Umgang mit Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, im Zusammenhang mit Kooperationsproblemen in den Betreuerteams und strukturell-institutionsabhängige Faktoren (Wacker et al. 1985). Die Studie kommt zu dem Schluss, dass im Interesse einer optimalen Betreuung und Pflege der beeinträchtigten Menschen auch jeweils die Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen zu reflektieren seien. Zu den wesentlichen strukturellen und institutionsabhängigen Belastungsfaktoren, die der Veränderung bedürfen, zählen die mangelnden Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen der Mitarbeiter*innen, die unzureichenden Mitsprache- und Mitbestimmungsmöglichkeiten innerhalb der Institution, die unbefriedigende Kooperation der Betreuer*innen mit den Vorgesetzten, unklare Aufgabenteilung und Rollenzuweisung sowie die Arbeitszeitregelung, die zeitliche Belastung und die Gruppengrößen.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Studien zur Wohnsituation von Erwachsenen mit schweren intellektuellen Beeinträchtigungen in Berlin (Seifert 1997b). Ausgehend von der These, dass die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter*innen vom Grad der Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse durch die ökologischen Bedingungen am Arbeitsplatz abhängt, wurden über Interviews mit Mitarbeiter*innen in Vollzeitheimen und Wohnheimen sowie in Psychiatrischen Kliniken (in denen zum damaligen Zeitpunkt noch viele Personen mit intellektuellen Beeinträchtigungen fehlplatziert waren) Bedürfnisse und Belastungen im Arbeitsalltag identifiziert. Als wesentliche zufriedenheitsstiftende Komponente erwies sich die Erfüllung der Bedürfnisse nach Sinnhaftigkeit der Arbeit, nach Kooperation, nach Kompetenz sowie nach Eigenverantwortlichkeit und Mitsprache. Dringender Handlungsbedarf wurde hinsichtlich der Reduzierung der Gruppengrößen, der Verbesserung der Personalausstattung, der Qualifikation der Mitarbeiter*innen durch Praxisberatung, Supervision und Fortbildungen sowie der Verbesserung der Kooperation zwischen den Mitarbeiter*innen und mit externen Fachleuten und Angehörigen angemahnt. Einrichtungsstrukturen sollten die Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen berücksichtigen und mehr Eigenverantwortlichkeit und Mitsprache gewährleisten sowie Möglichkeiten der Psychohygiene zur Prophylaxe gegen die Gefahr des Ausbrennens vorhalten.

Auch im Rahmen des Forschungsprojekts WISTA („Wohnen im Stadtteil von Erwachsenen mit schwerer geistiger Behinderung“) nahm die Analyse der Arbeitszufriedenheit des Gruppenpersonals breiten Raum ein (Hahn et al. 2004; Richardt 1998). Als Zufriedenheit stiftend wurde die Realisierung eigener Bedürfnisse erlebt, z. B. das Zusammenleben in der Wohngruppe und die sozialen Kontakte im Team sowie das Einbringen der eigenen Kompetenzen und das Erleben von Anerkennung. Als problematisch erwiesen sich vor allem die unzureichende konzeptionelle Orientierung und die mangelnde fachliche Unterstützung in der Arbeit mit Menschen mit schweren Beeinträchtigungen. Ein wesentlicher Einflussfaktor war die Zusammensetzung der Wohngruppen. Die Arbeit in Wohngruppen, in denen ausschließlich Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf zusammenlebten, führte zu Überforderungssituationen, während das Arbeiten in heterogen strukturierten Gruppen als abwechslungsreich und motivierend erlebt wurde. Eine etwa zeitgleich durchgeführte Studie von Dieckmann (2002) bestätigt die große Bedeutung der Gruppenzusammensetzung für das Wohlbefinden der Bewohner*innen und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter*innen.

In jüngster Zeit befragten Habermann-Horstmeier und Limbeck (2016) in einer bundesweiten Studie 400 Betreuungskräfte in unterschiedlich strukturierten Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung (davon 10 % im ambulanten Dienst) zu Belastungen in ihrer Arbeitssituation. Im Ergebnis fühlen sich Mitarbeiter*innen in Wohnheimen besonders belastet, vor allem hinsichtlich der Arbeitsorganisation und Arbeitszeitgestaltung: Fast drei Viertel der Befragten beklagten, zu wenig Zeit für eine gute Betreuung der Bewohner*innen zu haben. Die Hälfte sah ihre Arbeit durch das zunehmende Alter der Bewohner*innen und den damit verbundenen höheren Pflegebedarf belastet. Ein Drittel bemängelte ungünstige Arbeitszeiten und häufiges kurzfristiges Einspringen für Kolleg*innen. Vom Gefühl der Überforderung betroffen sahen sich vor allem Personen, die mit psychisch beeinträchtigten Menschen und mit Menschen mit schwerer mehrfacher Beeinträchtigung arbeiten. Als weitere Belastungen wurden Faktoren benannt, die die Arbeitsorganisation ‚die Interaktion in der Einrichtung (zwischen Hierarchieebenen und innerhalb der Kollegenschaft), die Betreuer*innen und Kolleg*innen, Bewohner*innen und ihre Angehörigen sowie eine ausufernde Bürokratie betreffen. Viele schätzten ihren Gesundheitszustand negativ ein, fast die Hälfte der Befragten befürchtete ein Burnout in der näheren Zukunft. Knapp 40 % waren der Ansicht, dass sich die Betreuungsqualität negativ auf die Gesundheit bzw. das Wohlbefinden der Bewohner*innen auswirkt. Rund ein Drittel fühlte sich durch auffälliges Verhalten von Bewohner*innen belastet, insbesondere jene, die ein künftiges Burnout befürchteten. Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen – so das Fazit – hätte positive Auswirkungen auf das Arbeitsklima und die Arbeitsfreude und damit auch auf die Qualität der Betreuung.

2.4 Qualität aus Angehörigenperspektive

Die Rolle der Angehörigen in Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe ist in der wohnbezogenen Forschung ein bislang wenig bearbeitetes Thema. Im Fokus vorliegender Untersuchungen standen die Kooperation zwischen Eltern und Fachkräften und der Ablösungsprozess im Zusammenhang mit dem Wechsel des erwachsenen Kindes vom Elternhaus in eine Wohneinrichtung. Die Perspektive der Geschwister von Erwachsenen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, die sich oftmals von der Sichtweise der Eltern unterscheidet, ist bislang kaum Thema der Wohnforschung. Beispielhaft sei eine Studie von Seifert (1989) genannt, die aus ökologischer Perspektive Gruppeninterviews mit erwachsenen Geschwistern von Menschen mit (schwerer) intellektueller Beeinträchtigung durchgeführt hat, die in Heimen leben bzw. deren Auszug aus dem Elternhaus bevorsteht. Zum Themenspektrum gehörten u. a. die Beziehung zwischen den erwachsenen Geschwistern, Erfahrungen mit der Heimsituation und die Übernahme der Verantwortung für den Bruder oder die Schwester, wenn die Eltern dazu nicht mehr in der Lage sind.

Kooperation zwischen Eltern und Mitarbeiter*innen in Wohneinrichtungen

In der nach wie vor umfangreichsten Studie zur Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften von Klauß und Wertz-Schönhagen (1993) wird das Verhältnis zwischen Bewohner*in, Mitarbeiter*in und Eltern als tripolares Beziehungsgeflecht bezeichnet. Mitarbeiter*innen agieren im System Wohngruppe, die Eltern im System Familie, die Zusammenarbeit erfolgt an der Schnittstelle zwischen beiden Systemen. Die Bewohner*innen sind – als integraler Teil beider Systeme – Akteur*innen sowohl im professionell ausgerichteten und vertraglich geregelten Beziehungssystem Mitarbeiter*in/Bewohner*in als auch im persönlichen, individuell und emotional geprägten Beziehungssystem Eltern/Kind (Sohn bzw. Tochter). Jede der drei möglichen Beziehungen steht mit den beiden anderen in Wechselwirkung. Veränderungen auf einer Seite ziehen Veränderungen der anderen nach sich.

Zur Ermittlung von Einflussfaktoren auf die Kooperation zwischen Familie und Heim wurden Interviews mit Eltern und Mitarbeiter*innen aus vier verschiedenen stationären Einrichtungen unterschiedlicher Größe in Süddeutschland geführt. Die Analyse der Interviews ergibt, dass Probleme in der Zusammenarbeit sehr häufig auf eine mangelhafte Kommunikations- und Kritikkultur zurückzuführen waren: Gegenseitige Erwartungen wurden nicht artikuliert, die Arbeit in der Wohngruppe war für Eltern nicht transparent, Auseinandersetzungen bei auftretenden Problemen erschöpften sich oft in gegenseitigen Vorwürfen anstelle einer Klärung des Sachverhalts, ein fehlender Konsens über Zielsetzung und Schwerpunkte der Betreuung führte zu Konflikten. Die Mitarbeiter*innen fühlten sich im Rahmen ihrer Ausbildung nur unzureichend auf die Zusammenarbeit mit Angehörigen vorbereitet. Die Problematik wurde verstärkt durch ein geringes Interesse auf Leitungsebene, Kommunikationsstrukturen zu entwickeln, in denen der regelmäßige Austausch mit Eltern verbindlich vorgesehen und an Qualitätskriterien orientiert ist. Zur Verbesserung der Situation wurden die Qualifizierung der Mitarbeiter*innen für die Kooperation mit Angehörigen und die Verankerung der Zusammenarbeit mit Eltern im Qualitätsmanagement der Institutionen empfohlen.

Auch Interviews mit Mitarbeiter*innen in Berliner Wohneinrichtungen bestätigen Probleme in der Zusammenarbeit mit Eltern (Seifert 1997b). Die Befragten wünschten sich von den Angehörigen eine Anerkennung ihres pädagogischen Tuns und möglichst wenig Einmischung in die Arbeit. Erschwernisse in der Kooperation lagen nach Aussage der Mitarbeiter*innen vor allem in einer engen Bindung zwischen Eltern und den erwachsenen Kindern und noch nicht bewältigter Ablösung sowie in unterschiedlichen Ansichten über pädagogische Zielsetzungen.

Ablösungsprozesse beim Auszug aus dem Elternhaus

Im Berliner Forschungsprojekt WISTA besaß die Zusammenarbeit mit Eltern besonderes Gewicht, weil die wissenschaftlich begleiteten stadtteilintegrierten Wohngruppen für Erwachsene mit schweren intellektuellen Beeinträchtigungen auf Initiative von Eltern entstanden waren (Hahn et al. 2004). In allen Phasen des Forschungsprozesses gab es vielfältige Aktivitäten zur Einbindung der Angehörigen, u. a. Elterngruppen, Elternfreizeiten, Familiennachmittage, Einzelgespräche, Elternabende, Eltern-Sorgenbarometer und eine Eltern-Zwischenbilanz.

Ausgehend von den WISTA-Projektaktivitäten untersuchte Fischer (2008, 2009) in einer qualitativen Längsschnittstudie Ablöseprozesse in zwölf Familien mit erwachsenen Töchtern und Söhnen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf. Über zehn Jahre hinweg ging sie der Frage nach, unter welchen Bedingungen Eltern einer Ablösung positiv gegenüberstehen können und wie dieser Prozess gut gelingen kann. Auf der Basis von Interviews in drei Untersuchungszeiträumen und von Aktivitäten im Praxisfeld wurden familienspezifische Kompetenzen, Ressourcen und Strategien im Umgang mit dem Auszugserleben im Prozessverlauf dargestellt. Im Kontext bindungstheoretischer Theorien definiert die Studie das Ziel einer gelungenen Ablösung als „Autonomie in Verbundenheit“. Sie entsteht, „wenn bei fortdauernder emotionaler Verbundenheit zwischen Eltern und ihren erwachsenen Töchtern und Söhnen eine relativ autonome Lebensführung von beiden Seiten akzeptiert und subjektiv als zufrieden stellend empfunden wird“ (Fischer 2009, S. 56). Aus den Untersuchungsergebnissen wurden Empfehlungen für die Praxis abgeleitet. Zentrale Aspekte waren die Ausrichtung der Arbeit mit den Bewohner*innen auf einen gelingenden Bindungsaufbau, die Vertrauensentwicklung bei Eltern und Angehörigen als notwendige Basis für eine gelingende Ablösung und positive Zusammenarbeit sowie die Unterstützung der Handlungssicherheit der Mitarbeiter*innen im Ablöseprozess durch Vermittlung von (bindungstheoretischem) Fachwissen und Rückhalt bei Problemlagen.

Welche Auswirkungen ein nicht gelungener Ablöseprozess aufseiten der Eltern auf die Gestaltung der Beziehung zum Sohn oder zur Tochter nach dem Auszug hat, zeigen Ergebnisse einer qualitativen Studie in Niedersachsen (Schultz 2010): Etwa der Hälfte der befragten Eltern gelang es nicht, die Beziehung zu ihrem erwachsenen Kind zu einem stärker gleichberechtigten, erwachsenengemäßen Verhältnis zu verändern. Damit ist ein wesentliches Ziel der Persönlichkeitsentwicklung, die Individuation, erschwert, bei der der junge Mensch im Kontext der anhaltenden Beziehung zu den Eltern Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme für sich selbst entwickelt.

2.5 Leben im Familienverband

Formen des Zusammenlebens, die in der wohnbezogenen Forschung bislang nur wenig Beachtung gefunden haben, sind das Wohnen von Erwachsenen mit intellektuellen Beeinträchtigungen in ihrer Herkunftsfamilie und in Gastfamilien.

2.5.1 Wohnen in der Herkunftsfamilie

Schätzungen gehen davon aus, dass 40 bis 50 % der Erwachsenen mit lebenslang bestehenden intellektuellen Beeinträchtigungen auch noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter in ihrer Herkunftsfamilie leben, überwiegend bei den Eltern, im Einzelfall auch bei Geschwistern (BMAS 2013, S. 79). Genauere Daten liegen für Westfalen-Lippe vor (Thimm et al. 2019): Hier wohnten zum Zeitpunkt der Erhebung rund 36 % mit Angehörigen oder komplett selbstständig ohne Wohnunterstützung. Zu den Lebensbedingungen in den Familien, der Zufriedenheit der Beteiligten und Zukunftsplanungen gibt es nur wenige Untersuchungen. Studien aus den 1990er Jahren beurteilen die Lebenssituation von Erwachsenen mit intellektuellen Beeinträchtigungen im Elternhaus überwiegend kritisch (Seifert 2001a). Die familiären Sozialisationsbedingungen galten als defizitär, von Fremdbestimmung geprägt, vor allem in den Bereichen Freizeit, Kontakte, Sexualität, Zukunftsplanung und Konsumverhalten (Schatz 1998). Neuere Studien nehmen die Vielfalt von Familienkonstellationen in den Blick. Ihr Erkenntnisinteresse bezieht sich auf die Identifikation von Bedingungsfaktoren, die das Zusammenleben prägen und die Ablösung erleichtern oder erschweren. Im Zuge der Leitideen Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft haben sich Einstellungen und Handlungsorientierungen in den Familien verändert. Wie sich das auf die Teilhabepotenziale und -barrieren von Menschen mit Behinderung auswirkt, die auch im Erwachsenenalter in ihrer Herkunftsfamilie leben, ist bislang kaum erforscht.

Ein Großteil der Familien meistert die Herausforderungen im Alltag ohne Hilfen von außen, manche nehmen familienunterstützende Dienste oder Kurzzeitunterbringungen in Anspruch. Es ist absehbar, dass die Familien mit zunehmendem Alter der Eltern die Betreuung nicht auf Dauer werden leisten können. Untersuchungen zufolge sprechen sich dennoch viele Eltern dafür aus, weiterhin mit ihrem Sohn oder ihrer Tochter in einem Haushalt leben zu wollen. So zeigten Befragungen von Müttern und Vätern in verschiedenen Bundesländern relativ übereinstimmend, dass jeweils bei mehr als einem Viertel der Befragten der Verbleib in der Familie (incl. Wohnen bei Geschwistern) obere Priorität hat (Metzler und Rauscher 2004: 27 %; Stamm 2008: 32 %; Schäfers und Wansing 2009: 29 %; Seifert 2010a: 30 %). Weitere Studien lassen darauf schließen, dass ein längerfristiger Verbleib im Elternhaus von einem Großteil der Befragten nicht ausgeschlossen wird (Burtscher et al. 2015). Insbesondere Familien mit starkem innerem Zusammenhalt wünschen sich ein dauerhaftes Zusammenleben, auch bei schweren Beeinträchtigungen des Familienmitglieds (Hellmann et al. 2007; Schäfers 2018).

Wohnangeboten für Menschen mit Behinderung außerhalb des Elternhauses stehen diese Eltern eher skeptisch gegenüber; sie haben Sorge, dass individuelle Bedürfnisse dort nur unzureichend berücksichtigt werden. Ein Auszug wird von vielen nicht als altersangemessener Schritt in ein eigenständiges Leben gesehen, sondern als eine „mit Schuldgefühlen behaftete Weggabe, als ein Abschieben“ (Stamm 2008, 104). Ähnlich begründeten Eltern in einer Studie in Südtirol und Wien ihr Votum für ein Verbleiben im Elternhaus: Ein Wohnheim könne nie ein richtiges Zuhause für die erwachsenen Töchter und Söhne sein und würde zudem die über Jahre gewachsene Bindung zwischen Eltern und Kind gefährden (Klicpera und Gasteiger-Klicpera 1998). Von den insgesamt 200 befragten Angehörigen hielt ein noch höherer Prozentsatz als in Deutschland einen Auszug aus dem Elternhaus nicht für erstrebenswert. Dennoch äußerten manche Eltern, die mit ihren erwachsenen Kindern zusammenleben, auch kritisch zu bewertende Sachverhalte beim Wohnen in der Familie, insbesondere die mangelnde Förderung der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung im Elternhaus und fehlende soziale Kontakte (Seifert 2010a). Im Einzelfall wurden auch eigene Belastungen und Probleme im Zusammenleben mit dem erwachsenen beeinträchtigten Kind thematisiert.

Mit den Zukunftsvorstellungen von Eltern für ihre Söhne und Töchter haben sich Burtscher et al. (2015) im Berliner Forschungsprojekt ElFamBe („Älter werdende Eltern und erwachsene Familienmitglieder mit Behinderung“) über Fragebogenerhebungen in Familien, Interviews und anderen Formen des Austauschs mit Eltern (z. B. Themencafés) befasst. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Eltern passende Lösungen für die von ihnen gewählten Lebensentwürfe wünschen. Dazu gehört auch das Zusammenleben in der Familie. Die bestehenden wohnbezogenen Strukturen und Konzepte entsprechen meist nicht ihren Vorstellungen. Auf der Basis der Erhebungen wurden konkrete Vorschläge für die Zusammenarbeit von Mitarbeiter*innen der Behindertenhilfe und Eltern und für die Verbesserung der Angebotsstruktur gemacht. Sie orientieren sich an den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der Familien zur Unterstützung und Entlastung sowie zur künftigen Gestaltung des Zusammenlebens und der Perspektiven für ein Wohnen ihrer Töchter und Söhne außerhalb des Elternhauses.

In einigen Studien werden auch im Elternhaus lebende Töchter und Söhne selbst nach ihren Präferenzen befragt, z. B. in einer Untersuchung von Hellmann et al. (2007) zur Lebenssituation von schwer beeinträchtigten Frauen und Männern ab ca. 40 Jahren in ihrer Herkunftsfamilie. Fast alle der in Interviews befragten Frauen und Männer äußerten, dass sie möglichst lange im Elternhaus bleiben wollen. In Bezug auf die Zukunftsplanung zeigten sie sich in unterschiedlicher Weise aktiv: Einige benannten eigene Vorstellungen und wurden hinsichtlich der Umsetzung in Kooperation mit den Eltern selbst aktiv. Andere orientierten sich an den Zukunftsvorstellungen der Eltern, wollten aber die gegenwärtige Situation nicht von sich aus verändern. Eine dritte Gruppe fühlte sich durch eine Thematisierung von Zukunftsfragen eher verunsichert. In weiteren Familien wurden Gedanken an die Zukunft verdrängt; die Eltern wollten den Status quo erhalten, während ihre beeinträchtigten Angehörigen sich im Einzelfall auch ein Leben in einer Einrichtung vorstellen konnten. Die Autor*innen kommen zu dem Schluss, dass der Verlauf und die Ergebnisse von zukunftsbezogenen Diskussionen in den Familien in hohem Maß vom langjährigen Umgang miteinander und den dabei erworbenen Kommunikationsweisen abhängig ist (Hellmann et al. 2007).

Auch in der Berliner „Kundenstudie“ zeigten sich viele Frauen und Männer mit dem Wohnen bei den Eltern zufrieden, insbesondere hinsichtlich der Wohnbedingungen, des sozialen Umfelds, der Freiräume für Selbstbestimmung, der familiären Beziehungen und der Betreuung durch die Eltern sowie der Freizeitgestaltung (Seifert 2010a). Nur wenige berichteten von Problemen im Zusammenleben. Aber auch hier wollte ein Teil der Befragten in Zukunft anders wohnen als jetzt, möglichst in einer eigenen Wohnung mit Assistenz. Die Vorstellungen der befragten Eltern zum künftigen Wohnen ihrer erwachsenen Kinder unterschieden sich je nach Lebensalter, Lebenssituation, Lebenserfahrungen. Das Leben in einer eigenen Wohnung war in der Regel nicht die oberste Priorität. Die meisten bevorzugten gemeinschaftliche Wohnformen. Sie setzten auf ein „Leben in Nachbarschaften“, das dem Wunsch nach Individualität, Gemeinschaft, sozialer Einbindung in den Kiez und Nähe zu den Eltern Rechnung trägt (Seifert 2010a). Wertschätzung und Anerkennung sowie persönliche Beziehungen und Kontakte im Wohnumfeld hatten einen hohen Stellenwert. Bevorzugt wurden kleine Wohneinheiten für Menschen mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf, integriert in Hausgemeinschaften oder Mehrgenerationenhäuser. Auch individuelle Hilfearrangements z. B. mit persönlichem Budget waren eine Option.

2.5.2 Wohnen in Gastfamilien

Wohnen in Gastfamilien ist als eine Form des Betreuten Wohnens insbesondere in Baden-Württemberg und Westfalen-Lippe als Leistung der wohnbezogenen Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung etabliert. Sie wird quantitativ gegenüber anderen Wohnformen jedoch nur geringfügig in Anspruch genommen (Theunissen und Feschin 2018). So nutzten beispielsweise in Westfalen-Lippe im Jahr 2018 insgesamt 710 Erwachsene mit Behinderung das Angebot, überwiegend Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen.Footnote 2 Die Formen des Betreuten Wohnens in einer Gastfamilie sind unterschiedlich: 40 % leben in ihrer ehemaligen Pflegefamilie, 35 % in einer Gastfamilie, 11 % bei Einzelpersonen und 14 % bei Verwandten zweiten Grades. Die Betreuung wird durch Fachkräfte begleitet und unterstützt.

Im Rahmen des Forschungsprojekts LEQUI („Lebensqualität inklusiv(e): Innovative Konzepte unterstützten Wohnens älter werdender Menschen mit Behinderung“) wurde der Frage nachgegangen, inwieweit das Betreute Wohnen in Familien zur Sicherstellung der Lebensqualität von älter werdenden Menschen mit lebensbegleitenden intellektuellen Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung der Leitideen Teilhabe, Inklusion und Selbstbestimmung beitragen kann (Thönnes 2012). Die Analyse von Interviews mit Nutzer*innen, aufnehmenden Familien und Anbietern zeigte, dass die Familien und die Nutzer*innen das Zusammenleben als wechselseitigen Gewinn erlebten. Beide Seiten profitierten auf unterschiedliche Weise. So wurde von den älteren Menschen mit Behinderung die Erfahrung neuer Rollen, z. B. als Onkel oder Tante, Opa oder Oma, Bruder oder Schwester, als Wertschätzung ihrer Person erlebt. Umgekehrt schätzten die aufnehmenden Familien den emotionalen und funktionalen Beitrag zum familiären Zusammenleben, den die Menschen mit Behinderung leisten, als bereichernd. Anbieter berichteten, dass im Einzelfall der Altersabbau durch den Einzug in eine Gastfamilie verzögert wird. Die Bereitschaft der Familien, einen Menschen mit Behinderung bis zum Lebensende zu betreuen, steigt mit wachsender Intensität der Beziehung, eine Überforderung müsse allerdings verhindert werden.

Unter dem Aspekt der Inklusion lassen die Analysen erkennen, dass die Bewohner*innen sich ihrer „Zweiten Familie“ zugehörig fühlen. Sie sind selbstverständlich an familiären und gesellschaftlichen Aktivitäten beteiligt. Sie können eigene Entscheidungen treffen, benötigen dafür jedoch Ermutigung und Unterstützung. Die Möglichkeiten der Beteiligung an alltagsbezogenen Aktivitäten sind jedoch teilweise eingeschränkt, z. B. beim Einkaufen, bei der Zubereitung des Essens oder der Wäschepflege. Dadurch werden Chancen zum Erhalt der intellektuellen und motorischen Fähigkeiten im Alter durch das Erleben von Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit nicht genutzt und angepasstes Verhalten gefördert. Trotz dieser Einschränkungen resümiert die Studie, dass das Betreute Wohnen in Familien zur Steigerung der subjektiven Lebensqualität von Menschen mit Behinderung im Alter beiträgt – vorausgesetzt, dass bei der Auswahl geeigneter Gastfamilien die Bedarfe und Bedürfnisse sowie die Lebensumstände und Lebensvorstellungen der Familien und der anfragenden Nutzer*innen abgestimmt werden. Die individuelle Betreuung werde von den Nutzer*innen sehr geschätzt. Um bestehende Selbstbestimmungs- und Teilhabepotenziale tatsächlich zu nutzen, sei eine kontinuierliche Begleitung der Familien durch professionelle Fachkräfte erforderlich.

2.6 Schutz vor Gewalt

Gewalterfahrungen im Bereich des Wohnens von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen sind in der Forschung bislang wenig bearbeitet (u. a. Michalek 2000; Schröttle et al. 2013; Mayrhofer et al. 2019). Vorliegende Studien berichten übereinstimmend, dass die meisten der von Gewalt betroffenen Bewohner*innen bereits in ihrer Kindheit und Jugend entsprechende Erfahrungen machten. Beim Leben im geschlossenen System einer Einrichtung tragen Abhängigkeitsverhältnisse und mangelndes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen sowie fehlende soziale Kontakte, die im Konfliktfall Unterstützung geben könnten, dazu bei, dass Übergriffe unentdeckt bleiben. Auf der Suche nach externer Unterstützung sind Frauen besonders eingeschränkt, weil ihre Aussagen häufig als nicht glaubwürdig erachtet werden.

Michalek (2000) hat in Wohnheimen und Großeinrichtungen das Erleben von Gewalt und den Umgang mit Konflikten untersucht. Unter Anwendung qualitativer und quantitativer Verfahren erfasste sie moralische Bewertungen von pädagogischen Dilemmasituationen aus der Perspektive von Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen. Die Ergebnisse zeigen, dass hinsichtlich der Wahrnehmung konflikthafter Situationen die Dauer des Heimaufenthalts eine Rolle spielt: Die Sensibilität der Bewohner*innen für Gewalt und Konflikte war umso geringer, je länger sie im Heim lebten. So erschien vielen die Anwendung von Zwang als gerechtfertigt, wenn damit vermeintliche Ziele wie z. B. „Sauberkeit“ oder „Fürsorge“ erreicht werden. Bei den Mitarbeiter*innen war die Wahrnehmung von Gewalt umso geringer, je weniger sie pädagogisch qualifiziert für ihre Arbeit waren und je stärker der Institutionscharakter der Einrichtung ausgeprägt war. Besonders gravierend ist die Erkenntnis, dass Heimbewohner*innen keine institutionell verankerten Optionen zur Verfügung stehen, auf aggressive Konflikte und Gewalterfahrungen in ihrem Alltag aufmerksam zu machen. Bei der Suche nach Hilfe sind sie auf die Bezugsbetreuer*innen angewiesen. Wenn diese die Einschätzung einer von Bewohner*innen verbal oder nonverbal geschilderten Gewaltsituation nicht teilen, bleibt der Konflikt meist unentdeckt. Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass die individuellen Einstellungen von Mitarbeiter*innen zu Zwang und Gewalt von externen Faktoren abhängig sind, vor allem von ihrer fachlichen Qualifikation und von den institutionellen Bedingungen sowie der Kultur der Einrichtung. Die Ergebnisse wurden in Forderungen für die Praxis verdichtet.

Schröttle et al. (2013) untersuchten in einer repräsentativen Studie u. a. die Lebenssituation von Frauen mit Behinderung in privaten Haushalten und Einrichtungen. Rund ein Fünftel der Befragten waren Heimbewohner*innen mit intellektueller Beeinträchtigung (n = 318). 68 % von ihnen waren von psychischer Gewalt betroffen, 58 % von körperlicher Gewalt und 21 % von sexueller Gewalt. Die von den Frauen berichteten mangelnden Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens in Einrichtungen sowie die Einschränkungen der Privat- und Intimsphäre und der mangelnde Schutz vor unterschiedlichen Gewalterfahrungen durch Mitbewohner*innen und Personal zeigen den hohen Grad an Diskriminierung dieser Personengruppe in Heimen.

Eine repräsentative Studie in Österreich lenkt die Aufmerksamkeit auf die Identifikation von Risiko- und Schutzfaktoren und die Ableitung von Maßnahmen zur Gewaltprävention und zur Unterstützung von Gewalt betroffener Menschen mit Behinderung (Mayrhofer et al. 2019). Es wurden standardisierte Interviews mit Frauen und Männern mit Behinderung bzw. psychischer Beeinträchtigung in unterschiedlichen Einrichtungen der Behindertenhilfe und des Maßregelvollzugs, Fragebogenerhebungen bei Leitungspersonen und Mitarbeiter*innen der Einrichtungen sowie vertiefende qualitative Interviews mit Menschen mit Behinderung und mit Expert*innen aus verschiedenen Arbeitskontexten durchgeführt. 60 % der Befragten in Einrichtungen der Behindertenhilfe haben intellektuelle Beeinträchtigungen (n = 272).

Zentrale Erkenntnisse zu möglichen Einflussgrößen und Risikofaktoren, die Auswirkungen auf die Lebensqualität der Bewohner*innen und den Schutz vor Gewalt haben, werden auf unterschiedlichen Ebenen konkretisiert. Auf der institutionellen Ebene sind folgende Aspekte von besonderer Relevanz: Leitbild, Organisationskultur, Menschenbild, Rolle der Leitung, personenzentrierte Unterstützungskonzepte, Autonomie und Privatsphäre, Ressourcen und Möglichkeiten des Ausprobierens und Austauschens zwischen den Mitarbeiter*innen, De-Institutionalisierung, Wahlfreiheit für die Bewohner*innen hinsichtlich des Wohn- und Betreuungssettings. Auf der Ebene der Nutzer*innen spielen Empowerment-Prozesse, ein barrierefreier, niederschwelliger Zugang zu Informationen, die Sensibilisierung und Aufklärung über Gewalt, das Wahrnehmen und Setzen von Grenzen sowie die Wahrung der Privatsphäre, Rückzugsmöglichkeiten, Ausleben von Sexualität und ein effektiver Gewaltschutz eine wichtige Rolle. Deutlich wird, dass die Einrichtungen sich auf „äußerst unterschiedlichen Niveaus an Bewusstsein für und Umsetzung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen“ befinden (Mayrhofer et al. 2019, S. 25). Zwar gibt es in fast allen Einrichtungen mündlich kommunizierte Regelungen für den Umgang mit Gewaltvorfällen, dennoch werden Schulungen von Mitarbeiter*innen und Nutzer*innen der Einrichtungen zur Gewaltprävention und zum Umgang mit Gewaltvorfällen für dringend erforderlich gehalten.

3 Leitkonzept: Selbstbestimmung und Teilhabe

Der im Bundesteilhabegesetz verankerte Wandel von der institutionellen zur personenbezogenen Perspektive stellt an das System der Behindertenhilfe große Herausforderungen. Priorität hat die selbstbestimmte Lebensführung von Menschen mit Behinderung. Wünschen für ein individuelles Wohnen außerhalb besonderer Wohnformen soll entsprochen werden – „soweit sie angemessen sind“ (§ 104 SGB IX). Fehlende Ressourcen (insbesondere bei hohem Unterstützungsbedarf) und weiterhin bestehende institutionelle Strukturen stehen der personenzentrierten Gestaltung von Wohnsettings jedoch häufig entgegen. Der Wandel der Strukturen und Konzepte findet in der wohnbezogenen Forschung seinen Niederschlag. Untersucht werden insbesondere Prozesse der Dezentralisierung und Deinstitutionalisierung in Großeinrichtungen und deren Auswirkungen auf die Bewohner*innen, die Folgen der Ambulantisierung, alternative Wohnkonzepte für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf und für ältere Menschen mit lebensbegleitender Behinderung.

3.1 Dezentralisierung und Deinstitutionalisierung

Seit Mitte der 1990er Jahre kam es an einigen Standorten im Bundesgebiet zur Umwandlung großer stationärer Einrichtungen in gemeinwesenintegrierte Wohnsituationen. Bestehende Wohnangebote auf dem Stammgelände wurden abgebaut und kleinere Wohneinheiten in umliegenden Städten und Gemeinden geschaffen, die mehr Individualität, mehr Selbstbestimmung und mehr Teilhabe am allgemeinen Leben ermöglichen und einen Zuwachs an Kompetenzen mit sich bringen sollten. Im Gegensatz zu Norwegen, wo Anfang der 1990er Jahre die Heimstrukturen aufgelöst wurden, und zu Schweden, das 1997 die Schließung von (Groß-)Einrichtungen gesetzlich verordnete, fand in Deutschland an keinem Standort eine vollständige Auflösung der ehemaligen Anstalten bzw. später gegründeten großen Wohneinrichtungen statt.

3.1.1 Evaluation von Umwandlungsprozessen

Die Berliner Forschungsgruppe um Martin Th. Hahn untersuchte im Forschungsprojekt USTA („Umwandlung stationärer Einrichtungen für Erwachsene mit geistiger Behinderung in gemeinwesenintegrierte Wohnsituationen“) Einflussfaktoren von Umwandlungsprozessen in Brandenburg (Hahn et al. 1998, 2003; Eisenberger et al. 1999). Die zunächst auf eine Heimeinrichtung fokussierte Untersuchung musste nach bereits erfolgten umfangreichen Projektaktivitäten wegen einer Veränderung der ursprünglichen Planungen des Trägers abgebrochen werden. Die erforderliche Neuorientierung des Projekts mündete in eine retrospektive Untersuchung der Erfahrungen in bereits erfolgten Umwandlungsprozessen in Brandenburger Großwohnheimen, Komplexeinrichtungen und Landeskliniken. Dabei ging es u. a. um die Motivation der Träger zur Initiierung der Veränderungsprozesse, die strukturellen Bedingungen der Einrichtungen und des Umfelds, die Rolle der Leitung und der Mitarbeiter*innen, die Bewohner*innen und um Rahmenbedingungen, die sich für die angestoßenen Entwicklungen als förderlich oder hemmend erwiesen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass weder die Bewohner*innen noch die Mitarbeiter*innen bei der Initiierung und Planung der Veränderungsprozesse beteiligt wurden. Bei nur teilweise erfolgter Ausgliederung von Bewohner*innen blieben die Personen mit schweren Beeinträchtigungen zurück (Hahn et al. 2003). Als entscheidend für das Gelingen der Projekte erwiesen sich adäquate Rahmenbedingungen am neuen Wohnstandort. Durch Immobilienbesitz entstanden bei den Stammeinrichtungen meist Nachnutzungsprobleme, realisierbare Konzepte dazu fehlten.

In den 2000er Jahren beschleunigte ein Förderprogramm von Aktion Mensch die Umwandlung der Wohnbereiche von Groß- und Komplexeinrichtungen. Ziel der Dezentralisierungs- und Deinstitutionalisierungsprozesse war nicht allein die Verlagerung kleinerer Wohneinheiten in die Gemeinden, sondern auch die Verbesserung der individuellen Lebensqualität und die soziale Integration im Wohnumfeld. Mit 53 Trägern schloss die Aktion Mensch Zielvereinbarungen, die trotz erheblicher finanzieller Förderung zur „Umwandlung“ von weniger als 4 % der bundesweit insgesamt annähernd 200.000 Plätze führten.

Die Tübinger Forschungsstelle „Lebenswelten von Menschen mit Behinderung“ evaluierte die Umwandlungsprozesse in einzelnen Einrichtungen des Fachverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) und des Bundesverbands evangelische Behindertenhilfe (BeB) (Metzler und Springer 2010; Metzler und Pracht 2016). Im Bereich des CBP lag der Schwerpunkt der Evaluation auf einer qualitativen Analyse der Umwandlung im Hinblick auf Veränderungen in den Stammeinrichtungen, den Einschätzungen der Mitarbeiter*innen sowie vor allem den Wirkungen, die ein Umzug für die beteiligten beeinträchtigten Menschen hatte. Dies wurde im Bereich des BEB ergänzt um eine eingehende betriebswirtschaftliche Analyse.

Befragungen der Menschen, die in diesen Großprojekten von Umzügen betroffen waren, zeigten zunächst eine überaus große Zufriedenheit, vor allem in Hinblick auf die neu gewonnene Wohnqualität (eigenes Zimmer, eigenes Bad). Eine differenziertere Analyse dieser Ergebnisse zeigte jedoch zugleich die Abhängigkeit dieser Zufriedenheit von den Strategien der Umzugsplanung. Insbesondere wenn Träger die Menschen mit Behinderung als Akteur*innen in diesem Prozess wahrnahmen und ihnen durch Zukunftskonferenzen, Nutzung heiminterner Wohnberatung, Mitsprache bei Bauplanungen u. a. eine persönliche Entscheidung ermöglichten, reichte die Zufriedenheit weit über die neu gewonnene Wohnqualität hinaus. Das in solchen Prozessen stattfindende Empowerment veränderte die Menschen im Hinblick auf ihr Selbstvertrauen sowie ihre Identität; bei einzelnen Personen äußerte sich dies sogar kurz nach ihrem Umzug in weitergehenden Lebensplanungen, die auch neuerliche Umzüge nicht ausschlossen.

Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf waren in den ersten Jahren der Umwandlungsprojekte zunächst nicht oder kaum beteiligt und zählten damit zu den „Verlierern“ der Trägerstrategien. Im weiteren Verlauf wurden sie auch einbezogen. Für sie war jedoch die Umwandlung von stationären Wohnsettings in gemeindeintegrierte Wohnangebote nicht in jedem Fall ein Garant für mehr Lebensqualität. Wenn das Fortbestehen institutioneller Denkmuster eine individualisierte Alltagsgestaltung verhindert und die Nutzung der Infrastruktur des Sozialraums sowie soziale Kontakte zu Bürger*innen des Stadtteils aufgrund fehlender personeller Ressourcen nicht möglich sind, wird ihnen die Chance vorenthalten, für sich selbst bedeutende neue Erfahrungsräume zu erschließen. Unabhängig von der personellen Situation gilt fehlende Selbstständigkeit in den Köpfen vieler Mitarbeiter*innen als Grenze für soziale Inklusion (Falk 2016; Franz 2014a).

3.1.2 Deinstitutionalisieren als elementarer Prozess

Neben der Veränderung von Rahmenbedingungen besitzt der Prozess des Deinstitutionalisierens im Denken und Handeln der Beteiligten zentrale Bedeutung: „Handlungsabläufe, Verhaltensweisen, soziale Kontexte sind dann relativ institutionalisiert, je mehr sie von dauerhaften und gleichbleibenden, sehr oft kodifizierten und meist organisatorischen Regelstrukturen geprägt werden. Diese Strukturen beanspruchen ihre Gültigkeit relativ unabhängig vom Handeln und den Bedürfnissen konkreter Individuen. Diese werden damit immer in irgendeiner Form sozialer Kontrolle unterworfen, ihre Handlungsspielräume werden begrenzt. Deinstitutionalisierung ist dann jede Veränderung eines sozialen Kontextes bzw. Handlungsablaufs (hier: Wohnen), der die Dichte, Reichweite oder/und den Geltungsbereich institutioneller (hier: von einer Organisation ausgehender) Regelstrukturen verringert und dadurch zu größeren individuellen Handlungs- und Verhaltensspielräumen führt“ (Kastl und Metzler 2015, S. 23).

Die von Wolfgang Jantzen in einem Begleitforschungsprojekt zur Deinstitutionalisierung einer Großeinrichtung in Niedersachsen angewandte Methode der Fachberatung zeigte Wege auf, wie das Selbstverständnis der Mitarbeiter*innen im Interesse einer rehistorisierenden bedürfnisorientierten Arbeit mit Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen theoriegeleitet weiterentwickelt werden kann (Jantzen 2003). Ähnliche Prozesse hat Weber (2004) praxisbezogen dokumentiert. Systematische Längsschnittuntersuchungen stehen noch aus.

Eine retrospektive qualitative Untersuchung des Regionalisierungs- und Dezentralisierungsprozesses einer Groß- und Komplexeinrichtung in Hessen nahm den Zusammenhang zwischen organisationalem Wandel und Deinstitutionalisierung in den Blick. Theoretischer Bezugsrahmen war der soziologische Erklärungsansatz des Neoinstitutionalismus, nach dem sich eine Deinstitutionalisierung immer dann vollzieht, wenn institutionalisierte Prinzipien, die als Regeln, Normen oder Überzeugungen die Strukturen und das Handeln prägen, ihre Gültigkeit verlieren und neue Prinzipien leitend werden (Falk 2018). Unter der Zielsetzung, Gelingensfaktoren für die aktiven Veränderungen von Organisationen zur Förderung von Selbstbestimmung und Teilhabe zu identifizieren, wurden am Beispiel einer regionalen Wohneinheit sowohl strukturelle Aspekte (z. B. Gebäude, Organisation, Finanzierung, Platzzahlen, sozialpolitische und rechtliche Fragen) als auch kulturelle und fachliche Elemente (z. B. pädagogische Konzeption, Beziehungen der Beteiligten zueinander, Leitprinzipien, Einstellungen und Werte, Machtverhältnisse, Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft) untersucht (Falk 2016). Auf der Basis von Interviews mit Expert*innen, Mitarbeiter*innen und einzelnen Bewohner*innen sowie Dokumentenanalysen und teilnehmenden Beobachtungen im Wohnalltag kommt die Studie zu dem Schluss, dass die Vorgehensweisen der Organisation zur Veränderung der Strukturen und deren Vermittlung eine Bewusstseinsbildung beim Basispersonal bewirkten. Bislang vorherrschende Überzeugungen wurden infrage gestellt, z. B. die Schon- und Schutzbedürftigkeit der Bewohner*innen und deren Rund-um-Versorgung in Komplexeinrichtungen. Als neue leitende Prinzipien wurden die Normalisierung, die räumliche und funktionale Integration, die Personorientierung, die Selbstständigkeit, verbunden mit der Übernahme von Pflichten, und in geringem Maße auch Selbstbestimmung identifiziert. Die neuen Strategien fanden ihren Niederschlag im Platzabbau, in der Erschließung neuen Wohnraums in gesellschaftlich üblichen Nachbarschaften und in der Reduktion zentraler Strukturen und deren Verlagerung in die Region, verbunden mit einer Verantwortungsübergabe auf untere Organisationseinheiten. Die räumliche Integration der Bewohner*innen begünstigte die funktionale Integration, was sich förderlich auf die Entstehung sozialer Kontakte zu Bürger*innen des Sozialraums auswirken und soziale Integration zur Folge haben könnte.

Die Analyse des professionellen Handelns der Mitarbeiter*innen zeigte jedoch, dass die Leitprinzipien Selbstbestimmung und Teilhabe, Person- und Sozialraumorientierung nicht unabhängig vom jeweiligen Unterstützungsbedarf gelten. Es wurde weiterhin davon ausgegangen, dass die erforderlichen Unterstützungsleistungen für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen nur im stationären Bereich erbracht werden können. Alle wohnbezogenen Aktivitäten und Unterstützungsleistungen erfolgten organisationsintern, eine Vernetzung mit anderen Diensten im Sozialraum fand nicht statt, der fachliche Schulungsbedarf bei Mitarbeiter*innen in der neuen Wohnsituation wurde nicht erkannt. Die mangelnde partizipative Gestaltung des Entwicklungsprozesses beeinträchtigte Empowerment-Prozesse der Bewohner*innen. Die Studie resümiert, dass die Öffnung der Organisation für Kooperation und Vernetzung mit anderen dringend erforderlich ist, damit die Dienstleistungen entsprechend den Bedarfen und Vorstellungen der Nutzer*innen erbracht werden. Die Vernetzung und Kooperation beginne jedoch nicht erst nach den Veränderungen der Organisation, „sondern ist als Weg des Deinstitutionalisierens zu erachten“ (Falk 2016, S. 241).

3.2 Ambulantisierung

Das Ziel des selbstbestimmten Wohnens wird durch den bundesweiten Trend zur „Ambulantisierung“ unterstützt. Dieses ab den 1990er Jahren entwickelte Betreuungskonzept beinhaltet, dass Menschen mit Behinderung (vorrangig langjährige psychische Erkrankungen sowie Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen) eine eigene Wohnung beziehen, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit und/oder Grundsicherung bestreiten und durch anerkannte Anbieter der Behindertenhilfe persönlich unterstützt werden.

Laut Kennzahlenvergleich der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) leben bundesweit gegenwärtig 43 % der erwachsenen Menschen mit Behinderung, die Assistenzleistungen innerhalb und außerhalb besonderer Wohnformen (incl. Pflegefamilien) erhalten, in besonderen Wohnformen (ehem. stationäre Einrichtungen). Fast zwei Drittel davon sind Personen, die leistungsrechtlich als „geistig behindert“ bezeichnet werden (64 %). 57 % der Leistungsberechtigten erhalten Assistenzleistungen außerhalb besonderer Wohnformen, überwiegend Menschen mit einer „seelischen Behinderung“ (73 %). Der Anteil der Personen mit „geistiger Behinderung“ liegt bei 23 % (con_sens 2023, 6). Mehrere Studien belegen, dass Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und hohem Unterstützungsbedarf – von Ausnahmen abgesehen – wegen des Mehrkostenvorbehalts im BTHG (Bundesteilhabegesetz, § 104 Abs. 2 SGB IX) von Formen des ambulant betreuten Wohnens weitgehend ausgeschlossen werden (u. a. Schädler et al. 2008; Franz und Beck 2015, 2017).

Die Zuständigkeit für ambulante und stationäre Wohnhilfen der Eingliederungshilfe war in den Bundesländern vor Inkrafttreten des BTHG unterschiedlich geregelt, teils getrennt bei den örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträgern, teils in einer Hand. Exemplarisch wurden in einer fünfjährigen Begleitstudie die Wirkungen einer im Jahr 2003 erfolgten Zusammenlegung der Zuständigkeiten in NRW mittels quantitativer und qualitativer Verfahren untersucht (Schädler et al. 2008). Die Ergebnisse zeigen, dass durch die Zusammenlegung der Zugang zu ambulanten Leistungsformen für viele Menschen erleichtert und die Entwicklung flächendeckender ambulanter Angebotsstrukturen verbessert wurden. Zur Steigerung der Qualität der Unterstützung wurden konzeptionelle Weiterentwicklungen und eine Qualifizierung der Mitarbeiter*innen angemahnt.

Franz und Beck (2015, S. 184) fordern, die strukturellen Rahmenbedingungen und die Gestaltung der Organisation und der Prozesse der Teilhabeförderung „an ihrem Nutzen, ihrer Angemessenheit, Wirksamkeit und Vielfalt“ hinsichtlich der Eröffnung individueller Handlungsspielräume und Handlungssicherheit einzuschätzen. Zentrales Bewertungskriterium sollte die Orientierung an den individuellen Bedarfen und Wünschen sowie die Sicherung zentraler Bedürfnisse, z. B. nach Identität, sozialer Zugehörigkeit, körperlichem Wohlbefinden, Sexualität, Schutz und Sicherheit, Persönlichkeitsentwicklung und emotionaler Bindung sein.

3.2.1 Strukturelle Veränderungen

Ambulant unterstützte Wohnsettings mit getrennten Verträgen für Wohnen und Betreuung tragen zur Normalisierung der Lebensbedingungen bei, eröffnen mehr Wahlmöglichkeiten bei den Dienstleistungen und führen zu einer Erhöhung der Durchlässigkeit und Flexibilität der Leistungsformen (Franz und Beck 2015). Zur Realisierung einer selbst organisierten und flexibel einsetzbaren Unterstützung in individuell passenden Wohnformen hat die mit der Verabschiedung des SGB IX im Jahr 2001 erstmals eingeführte Leistungsform des Persönlichen Budgets besondere Bedeutung. Seit 2008 besteht ein Rechtsanspruch auf diese Leistung, sofern sich Menschen mit Behinderung dafür aussprechen.

Die Einführung des Persönlichen Budgets wurde in mehreren Modellprojekten wissenschaftlich begleitet (Kastl und Metzler 2005; Metzler et al. 2007). Die Erfahrungen aus diesen Projekten lassen sich weitgehend einheitlich zusammenfassen: Zu Beginn bestanden bei allen Beteiligten erhebliche Irritationen. Sowohl die nach wie vor von einem Fürsorgegedanken geprägten Leistungsträger der Eingliederungshilfe als auch die von Versorgungsgedanken geleiteten Sozialversicherungsträger mussten sich bei Anträgen auf ein Persönliches Budget von ihren Leitgedanken „verabschieden“. Antragsberechtigte Menschen mit Behinderung waren anfangs sehr verunsichert, in welchem Umfang und in welchen Inhalten ihre persönlichen Vorstellungen berücksichtigt werden könnten. Und auch die Leistungserbringer waren unschlüssig, welche ihrer Angebote sie als Dienstleistungen im Kontext des Persönlichen Budgets „verkaufen könnten“.

Soweit im Verlauf der Erprobung diese Fragen aller Beteiligten gelöst werden konnten, zeigte sich eine hohe Zufriedenheit insbesondere der Menschen mit Behinderung. Zum Teil konnten eindrückliche Fallbeispiele dokumentiert werden, in denen beeinträchtigte Menschen eine eigene Lösung für „festgefahrene Situationen“ erleben konnten (Kastl und Metzler 2005). Gleichwohl wirkt sich bei der Umsetzung Persönlicher Budgets bis heute erschwerend aus, dass die für die Gestaltung individueller Hilfearrangements erforderlichen Dienste in vielen Regionen erst unzureichend entwickelt sind (z. B. Assistenzdienste in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Freizeit, Kultur und Bildung, ambulante medizinisch-pflegerische, psychosoziale und therapeutische Dienste, unabhängige Beratungs- und Vermittlungsangebote sowie Krisendienste). Zudem erweist sich angesichts des angespannten Wohnungsmarkts der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum vielerorts als schwer zu überwindende Barriere (Franz und Beck 2017).

3.2.2 Auswirkungen auf die Nutzer*innen

Mehrere Studien belegen, dass das ambulant betreute Wohnen einen geeigneten Rahmen zur Individualisierung der Dienstleistungen bietet, die Möglichkeiten der Selbstbestimmung erhöht und stärker am Sozialraum orientiert ist (Schädler et al. 2008; Hanslmeier-Prockl 2009; Peiffer et al. 2009; Franz und Beck 2017). Die größere Verantwortung für die eigene Lebenssituation kann einen höheren Bedarf an Unterstützung zur Folge haben. Wird diesem nicht Rechnung getragen, kann es zu einer dauerhaften Überforderung und zu einem Scheitern an und in den neuen Bedingungen kommen. Von daher sind neben strukturellen Änderungen immer auch konzeptionelle Weiterentwicklungen, die auf die Stärkung der Nutzer*innen zielen, notwendig (Franz und Beck 2017). Die Entwicklung von Regiekompetenzen und sozialen Kompetenzen sowie von Fähigkeiten zum Aufbau sozialer Netzwerke, einschließlich individuell bedeutsamer Aspekte der Stadtteilorientierung und des sozialräumlichen Denkens, kann durch ortsnahe trägerübergreifende Bildungsangebote für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen unterstützt werden (Wissel et al. 2007).

Zufriedenheit mit den ambulanten Diensten

In Befragungen von Nutzer*innen und Mitarbeiter*innen der Dienste für Ambulant Betreutes Wohnen wurden u. a. die Wohnraumbeschaffung, die Informations-, Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten, die Regiekompetenz und Mitbestimmung der Nutzer*innen sowie die Integration, gesellschaftliche Teilhabe und Gemeinwesenorientierung thematisiert (Schädler et al. 2008). Die Unterstützungsleistungen wurden überwiegend als flexibel und individuell passend erlebt. Manche beklagten, dass sie bei der Auswahl der Unterstützer*innen und bei der Termingestaltung nicht beteiligt sind, insbesondere der Pflegedienste (Aselmeier et al. 2007; Schädler et al. 2008; Weber et al. 2009; Seifert 2010a). Weiterer Bedarf wurde in den Bereichen Beratung, Krisendienste und Erreichbarkeit am Abend und an Wochenenden gesehen. Eine Partizipation an der Gestaltung der Hilfen über regelhafte Gremien fand kaum statt. Nur wenige wollten wieder in die vorherige Wohnform zurückzukehren, z. B. wegen fehlender Nachtbereitschaft.

Um eine weitere Flexibilisierung der Hilfearrangements zu erreichen, erprobte eine Studie in Baden-Württemberg neue Unterstützungsformen, die auf der Kooperation verschiedener Dienste in der Gemeinde und der Vernetzung professionellen Handelns mit bürgerschaftlichem Engagement basierten (Metzler und Rauscher 2008). 80 % der befragten Klient*innen waren mit ihrem individuellen Hilfe-Mix zufrieden. Bei vielen konnte ein Zugewinn an Selbstständigkeit, Selbstvertrauen und Selbstbestimmung verzeichnet werden.

Soziale Netzwerke

Qualitative Netzwerkanalysen lassen erkennen, dass die sozialen Netze der Nutzer*innen ambulant betreuter Wohnsettings vergleichsweise klein und stark formell dominiert sind (Franz und Beck 2015; Seifert 2010a). Für die subjektive Zufriedenheit besonders bedeutsam ist die Qualität der Beziehungen: Vorliegende Studien zeigen den hohen Stellenwert von familiären Beziehungen und Kontakten zu Freund*innen und Bekannten, soziale Beziehungen zu Nachbar*innen und Menschen im Stadtviertel gehörten meist nicht zum engeren Teilhabenetz. Soziale Unterstützung erhielten die Nutzer*innen vor allem durch Vertrauenspersonen, insbesondere durch Mitarbeiter*innen. Die Zufriedenheit mit den Mitbewohner*innen der Wohngemeinschaften war insgesamt recht hoch, auftretende Konflikte im Zusammenleben wurden als belastend erlebt. Viele äußerten Einsamkeitsgefühle (Hanslmeier-Prockl 2009; Seifert 2010a; Franz und Beck 2015) – ein Sachverhalt, der den großen Unterstützungsbedarf beim Aufbau und bei der Pflege von informellen sozialen Kontakten belegt, sozialräumlich ausgerichtet und von ehrenamtlich Engagierten begleitet.

Selbstbestimmung

Übereinstimmendes Ergebnis mehrerer Untersuchungen zu Auswirkungen wohnbezogener ambulanter Unterstützungssettings war die Zunahme der Selbstständigkeit und Selbstbestimmung und eine Vergrößerung der Handlungsspielräume (Metzler und Springer 2010; Franz und Beck 2015, 2017). Sie erhöhen das Gefühl der Kontrolle über die eigenen Lebensumstände und stärkten das Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Allerdings bedürfen die psychosozialen Bedürfnisse von Nutzer*innen ambulant unterstützter Wohnformen stärkerer Beachtung, vor allem der Wunsch nach sozialen Kontakten und nach Sicherheit. In der Studie von Franz und Beck (2015, S. 111) äußerte ein Teil der Befragten Angstgefühle: Angst in der eigenen Wohnung (22 %) oder vor Mitbewohner*innen (15 %) bzw. Mitarbeiter*innen (8 %). Mit Blick auf die Funktion des Lebensbereichs Wohnen als Schutz- und Erholungsraum und auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Nutzer*innen und Mitarbeiter*innen erfordern diese Werte nach Einschätzung der Autor*innen besondere Aufmerksamkeit. Eine entsprechende Qualifizierung der Mitarbeiter*innen und eine konzeptionelle Verankerung geeigneter Handlungsansätze werden für unabdingbar erachtet. Durch regelmäßige Überprüfung der Passung zwischen der individuellen Situation und den Anforderungen sollen zudem Überforderungssituationen vermieden werden (Franz und Beck 2015).

Besonderer Handlungsbedarf besteht hinsichtlich der Partizipation an Prozessen, die die eigene Lebenssituation betreffen. Möglichkeiten der Mitbestimmung wurden vor allem bei der individuellen Gestaltung der Unterstützung realisiert, konzeptionelle Absicherungen der Mitwirkung bei Individuum übergreifenden Angelegenheiten waren nicht selbstverständlich. Als Anlaufstelle bei Beschwerden wurden überwiegend Mitarbeiter*innen und Leitungspersonen genannt, Beiräte zur Interessenvertretung wurden demgegenüber kaum in Anspruch genommen (Seifert 2010a; Franz und Beck 2015).

3.2.3 Anforderungen an Mitarbeiter*innen

Ambulant unterstütztes Wohnen trägt dazu bei, die Teilhabechancen von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen zu erhöhen. Untersuchungen in diesem Feld zeigen jedoch, dass die Gleichstellung ihrer Lebensbedingungen und ihre Anerkennung als gleichberechtigte Bürger*innen noch lange nicht erreicht ist (Hanslmeier-Prockl 2009). Zur Stärkung der Teilhabe werden einander ergänzende pädagogische, organisatorische und gemeinwesenbezogene Aktivitäten empfohlen, die in einem teilhabeorientierten Qualitätsmanagement zu verankern sind. Auf der individuellen Ebene geht es beispielsweise um die Ausbildung von Interessen und persönlichen Vorstellungen zur Gestaltung der eigenen Lebenssituation. Anforderungen an Assistenzdienste beziehen sich auf den Einsatz von Methoden einer Individuellen Teilhabeplanung und der Persönlichen Zukunftsplanung, auf die Reflexion der professionellen Arbeit durch fachlichen Austausch und auf die Kooperation mit kommunalen Akteur*innen, mit Vereinen, Betrieben und anderen Institutionen. Zur Umsetzung sind spezifische Qualifikationen erforderlich, die die selbstbestimmte Lebensführung unterstützen und das Beziehungsverhältnis zwischen Assistenznehmer*in und Assistent*in eindeutig bestimmen und sozialraumbezogene Arbeit integrieren. Hinsichtlich der in der UN-BRK differenziert beschriebenen Aufgaben des Gemeinwesens zur Förderung der Teilhabe konstatiert Hanslmeier-Prockl, dass die Ermöglichung und Sicherung von Teilhabe von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen an gesellschaftlichen Prozessen eine sozialstaatliche Aufgabe sei, „die nicht auf der Basis von Freiwilligkeit durch einzelne Bürger des Gemeinwesens realisiert werden kann“ (Hanslmeier-Prockl 2009, S. 234).

Die Veränderungen des professionellen Handelns im Kontext des Wandels von der institutionellen zur personalen Orientierung sind Gegenstand einer qualitativen Studie von Franz (2014a). Eine vergleichende Analyse der Interview-Aussagen von Mitarbeiter*innen aus dem ambulanten und stationären Bereich zeigte Unterschiede hinsichtlich der Handlungsansätze, die großenteils aus unterschiedlichen Anforderungen durch die Klientel resultieren. So war das professionelle Handeln in den jeweils individuell erbrachten ambulanten Diensten durch die Leitprinzipien Selbstbestimmung und Ressourcenorientierung geprägt, in Wohnheimen standen eher die körperlichen, sprachlichen und verhaltensbezogenen Defizite der Klient* innen im Vordergrund, denen im gruppenbezogenen Arbeiten jedoch nur bedingt Rechnung getragen werden konnte (Franz 2014b). Unterschiede zeigten sich auch im Verständnis von Pädagogik, in der Funktion der Hilfeplanung für die Arbeit mit den Klient*innen, in der Qualität der Teamarbeit und bei den Reflexionsmöglichkeiten. Mitarbeiter*innen im ambulanten Dienst standen mehr organisierte Formen der Reflexion zur Verfügung, z. B. regelmäßige Supervision und kollegiale Beratung im Teamgespräch, während im stationären Bereich eher informelle Formen dominierten, z. B. Gespräche, die aber angesichts zunehmenden Zeitdrucks in den Gruppen häufig nicht realisierbar waren. Der stationäre Bereich war zudem stärker von der Zunahme an Pflegetätigkeiten infolge des demografischen Wandels betroffen. Beide Bereiche sahen in der Ökonomisierung des sozialen Bereichs ein zentrales Problem, das sich im Zeit- und Kostendruck niederschlägt. Unterschiede gab es auch hinsichtlich der Reichweite der professionellen Arbeit: Während zu den Kernaufgaben der ambulanten Dienste die Begleitung ins Gemeinwesen, die Kontaktaufnahme mit der Gemeinde und Netzwerkarbeit gehörte, wurde in den Wohnheimen eher binnenorientiert mit den Bewohner*innen gearbeitet, zu anderen Lebensbereichen gab es nur wenige Bezugspunkte.

Trotz sozialraumorientierter Zielsetzungen ist jedoch auch im ambulanten Bereich die Umsetzung sozialräumlicher Arbeit begrenzt (Franz und Beck 2015). Es fehle an Zeit, Kenntnissen und Kompetenzen. Um eine durch Individualisierung und Sozialraumorientierung konzeptionelle Überfrachtung der Mitarbeiterrolle zu vermeiden, schlagen Franz und Beck (2015) vor, die sozialräumlichen Aufgaben ggf. unterschiedlichen Arbeitsebenen zuzuordnen.

3.3 Wohnen mit komplexem Unterstützungsbedarf

Trotz jahrelanger sozialpolitisch unterstützter Bemühungen der Behindertenhilfe um Individualisierung der Unterstützungssettings hat sich die Situation der Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf nur punktuell verbessert. Nach wie vor entscheidet überwiegend der Grad ihrer (Un-)Selbstständigkeit über die Zuweisung zu „besonderen Wohnformen“ mit Heimstrukturen, was eine zeitgemäße pädagogische bzw. andragogische Arbeit im Zeichen von Personenzentrierung und Sozialraumorientierung erheblich erschwert. Wegen der gesetzlich noch immer ungeklärten Schnittstelle zwischen den Leistungssystemen Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung steigt zudem das Risiko, dass sie bei erhöhtem Pflegebedarf auf Pflegeeinrichtungen verwiesen werden und Teilhabebedarfe unberücksichtigt bleiben. Individuelle Formen des Wohnens inmitten der Gesellschaft sind nur für wenige Menschen mit hohem personellem Unterstützungsbedarf eine Option. Der im BTHG gesetzlich verankerte Mehrkostenvorbehalt schiebt einen Riegel davor.

3.3.1 Wohnen im Heim

Unter der Zielsetzung, die Wohnbedürfnisse von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen zu ermitteln, Bedingungen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation zu identifizieren und Aufgabenfelder der Pädagogik/Andragogik in diesem Veränderungsprozess zu konkretisieren, wurde Anfang der 1990er Jahre im Rahmen der Berlin-Forschung eine qualitative Untersuchung durchgeführt (Seifert 1993, 1997b). Bezugsrahmen war ein mehrdimensionales Modell, das Lebensqualität – in Anlehnung an den ökologischen Ansatz von Bronfenbrenner – als abhängig vom Grad der Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse durch die sozialökologischen Gegebenheiten der Umwelt definiert. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen die Interaktion im Wohnbereich, die materielle Struktur des Wohnbereichs und des Umfelds, das soziale Netzwerk, die Teilnahme am allgemeinen Leben, die Akzeptanz durch die Bevölkerung und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter*innen.

Die Rekonstruktion der Alltagswirklichkeit von Menschen, die wegen beeinträchtigter kommunikativer Kompetenzen nicht selbst befragt werden konnten, erfolgte über problemzentrierte Interviews mit Mitarbeiter*innen aus Großeinrichtungen und Wohnheimen der Behindertenhilfe sowie Psychiatrischen Kliniken, die jeweils mit protokollierten Hospitationen in den Gruppen verbunden wurden. Schwerpunkte der Analyse waren das Wohlbefinden der Bewohner*innen unter den jeweils gegebenen Bedingungen, das soziale Netzwerk, die Entwicklung von Kompetenzen im Wohnalltag, Möglichkeiten zur Selbstbestimmung, erschwerte Interaktion durch herausfordernde Verhaltensweisen sowie die Teilnahme am allgemeinen Leben. Die Ergebnisse zeigten, dass die Realisierung des pädagogischen Anspruchs vielerorts durch personelle, institutionelle und strukturelle Hindernisse erheblich erschwert war – ein Indiz für die grundlegende Bedeutung der Lebens- bzw. Arbeitsbedingungen für die Herstellung von Wohlbefinden und Zufriedenheit auf beiden Seiten. Notwendige Schritte zur Verbesserung der Situation betrafen sowohl die Ermöglichung identitätsfördernder Austauschprozesse zwischen Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen als auch das Vorhalten der dafür erforderlichen Rahmenbedingungen. Die Ergebnisse mündeten in konkrete Empfehlungen für die Praxis – im Wohnbereich, in der Gemeinde und in der Gesellschaft – und für die weitere Forschung.

Anlass für eine einige Jahre später durchgeführte Studie in Nordrhein-Westfalen war das Inkrafttreten der Sozialen Pflegeversicherung (1996). Zur Minderung der Ausgaben der Eingliederungshilfe wurden in mehreren Bundesländern Einrichtungen der Behindertenhilfe ganz oder teilweise in Pflegeeinrichtungen umgewandelt, häufig mit „aufgesattelter“ Eingliederungshilfe, auf die jedoch kein Rechtsanspruch bestand. Das Infragestellen des Rechts auf Eingliederungshilfe zeigte die Notwendigkeit, das Spezifische der Pädagogik/Andragogik bei der Lebensbegleitung dieses Personenkreises gegenüber pflegewissenschaftlichen Ansätzen zu präzisieren.

Dieser Anforderung stellte sich eine Studie zur Lebensqualität von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Pflegeeinrichtungen in Nordrhein-Westfalen (Seifert et al. 2001; Seifert 2003, 2006a). Theoretischer Bezugsrahmen war das Lebensqualität-Modell von Felce und Perry (1997) mit den Dimensionen Physisches Wohlbefinden, Materielles Wohlbefinden, Soziales Wohlbefinden (persönliche Beziehungen, Gemeindeintegration durch Teilnahme am allgemeinen Leben), Entwicklung und Aktivität (Entwicklung der Persönlichkeit, der Kompetenzen und Fertigkeiten sowie der Selbstbestimmung und Mitbestimmung in allen Lebensbereichen) und Emotionales Wohlbefinden. Zur Annäherung an die subjektive Perspektive von Menschen, die sich nicht verbal zu ihrer Befindlichkeit unter den jeweils gegebenen Bedingungen äußern können, wurden teilnehmende Beobachtungen im Gruppenalltag durchgeführt. Sie eröffneten die Möglichkeit, das spezifische Ausdrucksverhalten der Bewohner*innen in angenehmen und belastenden Situationen zu erkennen und auf jeweils relevante Kontextbedingungen zu beziehen.

Die Ergebnisse zeigten erhebliche Unterschiede bei der Qualität der Unterstützung. Neben positiven Beispielen, die die Alltagsgestaltung an den individuellen Bedürfnissen der Bewohner*innen orientierten, gab es vielerorts problematische Situationen, die eine starke Diskrepanz zwischen dem professionellen Anspruch und der Umsetzung im Alltag erkennen ließen. Diese Diskrepanz war vielen Mitarbeiter*innen bewusst und wurde von ihnen – wie Interview-Aussagen zu entnehmen ist – als belastend erlebt. Die Ursachen lagen einerseits in strukturellen und situativen Bedingungen (z. B. Überforderung durch homogene Gruppenstrukturen, unzureichende Personalsituation, mangelnde Kooperation im Team, fehlende fachliche Unterstützung), andererseits in der Konstellation von Persönlichkeitsmerkmalen, lebensgeschichtlichen Erfahrungen, aktuellen Befindlichkeiten, Einstellungen und spezifischen Kompetenzen der Beteiligten.

Zusammenfassend wurde festgestellt, dass die Leitideen der Behindertenhilfe im Alltag von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen nicht überall wirksam werden. Die Partizipation an subjektiv bedeutsamen Lebensbereichen im weit gefassten Verständnis der WHO (2001) war für die meisten Frauen und Männer kaum realisiert. Die Normalisierung der Lebensbedingungen bezog sich in erster Linie auf institutionelle Strukturen, die soziale Integration in die Gesellschaft war ein fernes Ziel, auch bei gemeindenaher oder gemeindeintegrierter Wohnlage. Erkenntnisse der Schwerstbehindertenpädagogik und -forschung waren in der Praxis nur unzureichend implementiert, was zu Fehleinschätzungen der Lebensansprüche und Selbstgestaltungsmöglichkeiten dieser Personengruppe führte und vielfach eine einseitige Fokussierung des professionellen Handelns auf den Pflegebedarf zur Folge hatte. Besonders gravierende Einschränkungen des subjektiven Wohlbefindens der Bewohner*innen entstanden durch fehlende Wertschätzung, durch verobjektivierende Umgangsweisen, Vorenthalten von Kommunikation, Beziehung, Aktivität und Selbstbestimmung, mangelnde Assistenz bei der Erschließung der sozialen und materiellen Welt und Ausschluss von der Teilnahme am allgemeinen Leben. Permanente Deprivationserfahrungen und Stresserleben begünstigen das Entstehen oder die Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten und können psychosomatische Erkrankungen zur Folge haben.

Der Handlungsbedarf bezog sich vor allem auf die Verbesserung der strukturellen Bedingungen in den Einrichtungen, die Qualifizierung des Personals (z. B. nonverbale Kommunikation, Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten, Netzwerkarbeit im Interesse der Sozialen Inklusion), die Individualisierung der Lebensbegleitung durch konsequente Nutzerorientierung (Individuelle Hilfearrangements), die Partizipation in allen Lebensbereichen (Wohnen – Arbeit – Freizeit – Bildung) und die Entwicklung von Alternativen zur tradierten institutionellen Versorgungspraxis. Auf den Forschungsergebnissen basierend wurden als Handreichung für die Praxis „Checklisten zur Evaluation und Reflexion der professionellen Arbeit mit Menschen mit schwerer Behinderung im Bereich des Wohnens“ entwickelt (Seifert 2003).

In allen Studien zur Situation von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in Heimen werden die Größe und Zusammensetzung der Wohngruppen als bedeutsame Einflussfaktoren für die Interaktion zwischen Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen betrachtet. Welche Auswirkungen sie auf das Wohngeschehen und die Sozialkontakte von Bewohner*innen mit schweren Beeinträchtigungen innerhalb der Gruppe haben, war Gegenstand zweier Feldstudien von Dieckmann (2002). Theoretischer Rahmen war der Ansatz der Ökologischen Psychologie in der Tradition von Roger Barker. Als Untersuchungsmethoden kamen teilstrukturierte Beobachtungen, soziometrische Techniken und Fragebogenerhebungen zur Anwendung.

Hinsichtlich der Auswirkungen der Zusammensetzung der Bewohnerschaft stellt die Studie fest, „dass die Segregation und Konzentration schwer geistig behinderter Menschen in Wohngruppen zu sozialer Desintegration auch innerhalb der Wohngruppe führen“ (Dieckmann 2002, S. 433). Die Sozialbeziehungen zu Mitbewohner*innen werden reduziert und die Kontakte zu den Mitarbeiter*innen verstärkt. Dadurch könne in der Öffentlichkeit und auch in der sozialpolitischen Diskussion der Eindruck entstehen, dass schwerer beeinträchtigte Menschen keine sozialen Bedürfnisse hätten und ausschließlich auf die Hilfe der Betreuenden angewiesen seien – ein Sachverhalt, der ihren Anspruch „auf Eingliederung und Integration in kulturell übliches Wohn- und Arbeitsleben“ infrage stellt und die (kostengünstige) Zusammenlegung in speziellen Wohnbereichen oder -gruppen begünstigt (Dieckmann 2002, S. 327). In ausschließlich mit schwer beeinträchtigten Bewohner*innen besetzten Gruppen komme es zu einer Verarmung des Wohngruppengeschehens, es fehle an Vorbildern für gesellschaftlich übliche und geachtete Geschehensabläufe und Beziehungssysteme, was die Ausbildung lebenspraktischer Gewohnheiten erschwert und das Auftreten auffälliger Verhaltensweisen fördert. Dadurch werden die Chancen einer Integration in die Alltagswelt anderer Menschen mit und ohne Behinderung gemindert. In jüngster Zeit wurde im Forschungsprojekt IMPAK (Implementation von Partizipation und Inklusion für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen – Determinanten für Handlungsspielräume und bedarfsgerechte Unterstützungssettings) der Frage nachgegangen, wie es gelingt, im Bereich des Wohnens und des Lebens im Gemeinwesen für Menschen mit komplexer Beeinträchtigung bedarfsgerechte Handlungsspielräume im Sinne des SGB IX und der UN-BRK zu eröffnen und zu fördern (vgl. Beck und Franz 2024).

3.3.2 Wohnen im Stadtteil

Zum stadtteilintegrierten Wohnen von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in ortsüblicher Nachbarschaft gibt es nur wenige Studien. Im Rahmen des Berliner Projekts WISTA („Wohnen im Stadtteil für Erwachsene mit schwerer geistiger Behinderung“) wurden durch Elterninitiative entstandene stadtteilintegrierte (stationär finanzierte) Wohngruppen für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in zwei Wohnanlagen des Sozialen Wohnungsbaus über mehrere Jahre wissenschaftlich begleitet (Hahn et al. 2004; Hahn 2009). Dabei kamen qualitative und quantitative Verfahren zur Anwendung, ergänzt durch prozessgeleitete Aktivitäten im Praxisfeld mit einem vielgestaltigen methodischen Instrumentarium: Dokumentenstudium, Einzelgespräche, Gruppengespräche/-diskussionen, Interviews; Hospitationen, gemeinsame Aktivitäten; Erhebung des Entwicklungsstands der Bewohner*innen, Sorgenbarometer für Eltern, Fragebogenerhebungen.

Als wesentliche Einflussgrößen bei der Realisierung der Wohnprojekte standen folgende Untersuchungsfelder im Fokus: die Bewohner*innen (Vorbereitung und Annahme der neuen Wohnsituation; Wohlbefinden, Entwicklung, Selbstbestimmung; Zusammenleben in der Wohngruppe; auffällige Verhaltensweisen), die Eltern (Vorbereitung des Auszugs; Einschätzung der Entwicklung der Wohngruppen; Ablösungsprozesse), die Betreuer*innen (Organisationsstrukturen; Zusammenarbeit; Fachkompetenz; Motivation; Belastungen), die Leitung (Leitungsstruktur; Einarbeitung der Mitarbeiter*innen; Kooperation mit Eltern; fachlicher Rückhalt beim Träger; Befriedigungen und Belastungen) sowie das soziale Umfeld (Außenaktivitäten; nachbarschaftliches Zusammenleben; Verhältnis zu Dienstleistern).

Die Analyse der Erhebungen belegt, dass außerfamiliäres gemeinwesenintegriertes urbanes Wohnen für Erwachsene mit schweren intellektuellen Beeinträchtigungen und mehrfacher Beeinträchtigung möglich ist, wenn die notwendigen Rahmenbedingungen gegeben sind (Hahn et al. 2004; Hahn 2009). Dazu zählen u. a. eine nach Behinderungsgrad heterogene Zusammensetzung der Wohngruppen, spezifisch qualifiziertes Personal, ein gutes Zusammenwirken mit den Angehörigen durch Transparenz des Zusammenlebens in den Wohngruppen und eine Abgrenzung der jeweiligen Verantwortungsbereiche sowie architektonische Voraussetzungen (z. B. Schallisolierung, Freiräume zur Bewegung) und geeignete örtliche Bedingungen (Infrastruktur, Netzwerke).

Die meisten Bewohner*innen konnten ihre alltagsbezogenen Kompetenzen und ihre Freiheitsräume für Selbstbestimmung beim Wohnen erweitern. Herausfordernde Verhaltensweisen stellten hohe Anforderungen an das Personal und führten im Einzelfall zu krisenhaften Entwicklungen. Persönliche Begegnungen im Alltag initiierten bei Menschen in der Nachbarschaft und im Stadtteil Lernprozesse im Umgang mit dem Personenkreis und erhöhten die soziale Akzeptanz.

3.3.3 Wohnen mit ambulanter Unterstützung

Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf sind wegen des im BTHG nach wie vor bestehenden Kostenvorbehalts vom ambulant unterstützten Wohnen weitgehend ausgeschlossen (Schädler et al. 2008; Seifert 2010a; Franz und Beck 2015, 2017). Trotz positiver Erfahrungen in einzelnen Projekten erfolgt nach wie vor aufgrund der Quantität des Hilfebedarfs vorrangig eine Zuordnung zu stationären Wohneinrichtungen (Franz und Beck 2015). Die bestehenden Finanzierungsregelungen ermöglichen es vorwiegend größeren Organisationen, durch Bündelung der Ressourcen (z. B. durch räumliche Nähe) eine umfassende ambulante Unterstützung zu realisieren, einschließlich einer Nachtbereitschaft.

Erste Analysen in ambulant unterstützten Wohngemeinschaften mit Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf in Berlin und Münster wurden im Forschungsprojekt LEQUI vorgenommen (Greving et al. 2012; Dieckmann et al. 2016). Sie belegen, dass ein vergleichsweise günstiger Personalschlüssel und flexible Einzelabsprachen den Bewohner*innen ein großes Maß an Selbstbestimmung und Chancen zur Teilhabe am allgemeinen Leben ermöglichen, wobei die Kombination von Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflege besondere Anforderungen an die Kooperation zwischen den Fachkräften und die Koordination der Dienste stellt. Handlungsbedarf wird bei der Förderung der sozialen Beziehungen der Klient*innen und bei der Wahrnehmung sozialraumbezogener Aufgaben festgestellt, z. B. zu anderen Mieter*innen in Hausgemeinschaften (Dieckmann et al. 2012, S. 158).

Um innovative Konzepte auf eine breitere Basis zu stellen, wurde in Hessen ein Projekt zum ambulant unterstützten gemeindeintegrierten Wohnen von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und hohem Unterstützungsbedarf initiiert und wissenschaftlich begleitet (Projekt MitLeben; Steinmetz und Heimberg 2016; May et al. 2018). Beteiligt waren neun Organisationen, die über einen Zeitraum von fünf Jahren an unterschiedlichen Standorten personen- und sozialraumorientierte Teilhabeleistungen für den Personenkreis in Wohngemeinschaften und im betreuten Einzelwohnen entwickelten. Die wissenschaftliche Begleitung konzentrierte sich vor allem auf die Anforderungen der Kooperation mit Angehörigen (u. a. Begleitung im Ablöseprozess), die Qualifizierung der Mitarbeiter*innen zu person- und sozialraumorientierter Arbeit sowie die Einbeziehung der künftigen Bewohner*innen durch Persönliche Zukunftsplanung, Zukunftswerkstätten und sozialräumliche Methoden wie Autofotografie und Nadelmethode, einschließlich Stadtteilbegehung zur Identifizierung von subjektiv bedeutsamen Orten und Teilhabebarrieren. Zudem wurden Instrumente für eine partizipative Sozialraumforschung entwickelt (egozentrierte Netzwerkkarten).

Anfangs wurde in den Wohnprojekten eine starke Begrenzung auf den sozialen Nahraum und das bestehende soziale Umfeld einschließlich Angeboten der Behindertenhilfe beobachtet. Diese Einschränkungen sollten durch die Übernahme neuer sozialer Rollen und die Aneignung neuer Erfahrungsräume aufgebrochen werden. In diesem Kontext hatten die in jedem Projekt installierten Teilhabemanager*innen eine wichtige Rolle, zu deren Aufgaben u. a. die Beratung der Beteiligten, die Planung und Organisation des Projekts einschließlich der Sicherstellung des fachlichen Rahmens, die Festlegung der Ziele und die Kontrolle der Zielerreichung sowie die Kooperation mit anderen Organisationen gehörten.

Der Projektverlauf machte deutlich, dass für das Gelingen von Inklusions- und Partizipationsprozessen ein Arbeitsbündnis zwischen den Menschen mit Behinderung, ihren Angehörigen und den Professionellen von großer Bedeutung ist. Dabei geht es darum, gemeinsam Bildungsprozesse zu initiieren, die die Individualisierung und das Erwachsenwerden der Betroffenen und das Abgeben oder Teilen der Verantwortung unterstützen. Strukturelle Hemmnisse im Kontext der Projektentwicklung bezogen sich auf die Finanzierung, unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Hilfeplanung, die Suche nach geeignetem und bezahlbarem Wohnraum, die unzureichende Berücksichtigung regionaler, sozialräumlicher und individueller Bedingungen sowie zeitliche Verzögerungen durch langwierige Antragsverfahren beim zuständigen Kostenträger (Ehrhardt et al. 2015).

3.3.4 Nachbarschaftliches Zusammenleben

Die Idealvorstellung von Nachbarschaft ist eine örtlich gebundene Gemeinschaft von Verschiedenen, in der man sich kennt, sich trifft, miteinander kommuniziert, sich gegenseitig unterstützt, gemeinsam aktiv wird (von Lüpke 2008). Die Praxis ist davon oft weit entfernt. Aktive Kontakte i. S. sozialer Beziehungen entstehen nicht allein durch räumliche Nähe, sondern durch Interaktion. Nach Untersuchungen der Stadtsoziologie ist die Wahrscheinlichkeit intensiver Nachbarschaftsbeziehungen in sozial homogenen Quartieren höher als dort, wo eine geplant heterogene Zusammensetzung zu Toleranz oder Integration führen soll (Häußermann & Siebel, 2004). Das nur bedingt freiwillige Zusammenleben birgt Konflikte – ein Sachverhalt, der auch im nachbarschaftlichen Zusammenleben mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf eine Rolle spielt.

Bislang haben sich nur wenige empirische Studien mit nachbarschaftlichen Verhältnissen im gemeindeintegrierten Wohnen dieses Personenkreises befasst (u. a. Kruckenberg et al. 1995; Seifert 1997b, 2001b; Fischer et al. 1996, 1998; Dalferth 1998; Hahn et al. 2004). Meist wurden Mitarbeiter*innen zu ihren Erfahrungen mit der Nachbarschaft befragt, soweit möglich auch Nutzer*innen der Angebote, teilweise Eltern. Im Einzelfall wurden zusätzlich teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Befragungen von Nachbar*innen und Dienstleistern im Umfeld von gemeindeintegriert wohnenden Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf sind selten.

Erste Ansätze finden sich in Evaluationsstudien zur Enthospitalisierung von Menschen mit intellektueller und mehrfacher Beeinträchtigung und psychischen Erkrankungen aus Psychiatrischen Kliniken in gemeinwesenintegrierte Wohnsituationen, z. B. in Bremen. Hinsichtlich möglicher Einstellungsänderungen durch alltägliche Begegnungen ergaben Befragungen von Menschen im Umfeld, dass positive Einstellungsänderungen durch soziale Kontakte vor allem dann zu erwarten sind, wenn die nichtbeeinträchtigten Nachbar*innen diese Kontakte als eher freiwillig bzw. selbst initiiert erleben (Henning et al. 1993). Unerwünschte Kontakte, denen man im Alltag nicht ausweichen kann, haben eher ungünstige Auswirkungen auf die Einstellung gegenüber Menschen mit schweren Beeinträchtigungen.

Umfassende Untersuchungen im sozialen Umfeld von stadtteilintegrierten Wohngruppen mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf wurden im bereits erwähnten Berliner Forschungsprojekt WISTA durchgeführt (Hahn et al. 2004). Die Wohngruppen befinden sich in Mehrgenerationen-Wohnanlagen, in denen junge und alte Menschen, Alleinstehende und Familien, Erwerbstätige und Arbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung zusammenleben in mehreren Häuserriegeln mit gemeinschaftlichen Grünflächen, Begegnungs- und Spielmöglichkeiten und guten infrastrukturellen Bedingungen im Umfeld.

In Befragungen der nicht beeinträchtigten Mieter*innen wird deutlich, dass sie das integrierte Wohnen von Menschen mit Behinderung als grundsätzlich positiv einschätzten. Das gegenseitige Kennenlernen im Alltag mindere Ängste. Für Kinder bedeute das Zusammenleben Normalität; bei Jugendlichen werde diskriminierenden Verhaltensweisen vorgebeugt. Dennoch gestaltete sich das nachbarschaftliche Zusammenleben nicht immer leicht. Während sich in einer der beiden Wohnanlagen durch bewusste Kontaktaufnahme mit Mieter*innen und Informationen zum Wohnalltag der beeinträchtigten Bewohner*innen sowie ihrer Aktivitäten von Anfang an ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis entwickelte, gab es in der anderen deutlich größeren Wohnanlage insbesondere in der Anfangsphase Schwierigkeiten (Seifert 2001b). Die befragten Mieter*innen führten Probleme teilweise auf strukturelle Bedingungen zurück, vor allem auf die Ansammlung von Menschen in schwierigen Lebenslagen in der Wohnanlage, die eine Vielzahl eigener Probleme zu bewältigen haben. Manche übten Kritik am Verhalten der Wohngruppen-Betreuer*innen, die an gegenseitigen Kontakten kaum interessiert seien und wenig Rücksichtnahme und wenig Verständnis bei Beschwerden von Nachbar*innen zeigten, z. B. über Lärmbelästigungen aus den Wohnungen. In Befragungen von Dienstleistern in der Umgebung wurde deutlich, dass die meisten in der Anfangszeit unsicher und ängstlich im Umgang mit schwer beeinträchtigten Kund*innen waren. Inzwischen seien sie nichts Besonderes mehr, auch wenn im Kontakt mit ihnen manchmal Probleme auftreten.

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass nur die konkrete Teilhabe dieses Personenkreises am normalen Leben „jene Lernprozesse bewirken kann, die ihn und andere für die Normalität befähigen“ (Hahn et al. 2004, S. 437). Soziale Integration ist kein einseitiger Akt der Eingliederung und Anpassung an das Bestehende; beide Seiten müssen sich in Entwicklungsprozesse begeben und sich in einer dynamischen Balance zwischen Annäherung und Abgrenzung aufeinander zubewegen. In diesem Prozess spielt die Unterstützung durch soziale Netzwerke eine wichtige Rolle, andernfalls gerät eine kleine Einrichtung in die Gefahr der Isolation.

Vielen Problemen kann durch strukturelle und personelle Maßnahmen vorgebeugt werden, z. B. bei der Planung der baulichen Gegebenheiten und der Gestaltung des Wohnbereichs, die die Wohnbedürfnisse beider Seiten, der Mieter*innen mit und ohne Behinderung, berücksichtigen müssen (Lindmeier 1998). Eine nach Behinderungsgrad heterogene Zusammensetzung der Wohngruppen und eine sozial ausgewogene Mieter- bzw. Nachbarschaftsstruktur bieten größere Chancen zum Gelingen inklusiver Projekte mit dem Personenkreis als ‚Schwerstbehindertengruppen‘ und ein von eigenen Problemen belastetes Umfeld. Gleichermaßen bedeutsam sind Kommunikationsstrukturen, die Raum geben, Probleme anzusprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, z. B. ein Siedlungsmanagement, das die Belange aller Mieter*innen bzw. Anwohner*innen im Blick hat und Nachbarschaft fördernde Aktivitäten initiiert. Vor zentraler Bedeutung ist die sozialraumbezogene Qualifikation der Mitarbeiter*innen im gemeindeintegrierten Wohnen von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen.

3.4 Wohnangebote bei herausforderndem Verhalten

Der Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten ist in Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe nach wie vor ein Schlüsselproblem, insbesondere bei fremdgefährdendem und selbstverletzendem Verhalten (Seifert 2004, 2006b; Büschi et al. 2018). Befragungen von Mitarbeiter*innen zeigen, dass es nicht selten zu festgefahrenen Situationen kommt, in denen sie an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geraten und zu Maßnahmen greifen, die mit einer respektvollen Pädagogik nicht zu vereinbaren sind. Viele Merkmale auffälligen Verhaltens sind durch institutionalisierte Lebensformen bedingt (Kühn et al. 2002). Deprivationserfahrungen prägen den Lebensweg der Betroffenen (Theunissen und Kulig 2019). Insbesondere Bewohner*innen mit langen Heimkarrieren und ehemalige Psychiatriepatient*innen haben in früheren Lebensabschnitten Repressionen unterschiedlichster Art erlitten und individuelle Strategien entwickelt, damit umzugehen.

Dezentralisierungsmaßnahmen von Groß- und Komplexeinrichtungen haben vielerorts dazu geführt, dass Menschen, die sich und andere gefährden, als „Restgruppe“ in den Institutionen verbleiben, mit gravierenden Auswirkungen auf die individuelle Lebensqualität. Die Konzentration des Personenkreises an einem Ort begünstigt restriktive Maßnahmen, verstärkt die Isolation und verhindert soziale Kontakte mit der Umwelt und die Teilhabe am Leben der Gesellschaft (Dalferth 1998).

3.4.1 Interventionen

Nach Aussagen von Mitarbeiter*innen sind herausfordernde Verhaltensweisen im Wohnalltag häufig durch personelle, räumliche und zeitliche Veränderungen, Mitarbeiterwechsel, Verlust von Bezugspersonen, Missachtung individueller Wünsche und Bedürfnisse sowie durch Überforderung und Angst auslösende Situationen bedingt (Seifert 2004). Auch ein gesteigertes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung kann Anlass für herausforderndes Verhalten sein. Die Auswirkungen sind für alle Beteiligten belastend und finden in einer permanent angespannten Gruppenatmosphäre ihren Niederschlag. Mitbewohner*innen zeigen Unruhe, Angst, Unsicherheit und Rückzugstendenzen, sehen sich körperlichen Angriffen ausgesetzt und hinsichtlich der Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Wünsche vernachlässigt. Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Wohnbereichs sind eingeschränkt und die persönliche Freiheit durch notwendiges Verschließen von Räumen oder Türen eingeengt. Mitarbeiter*innen sehen sich sowohl physischen Belastungen infolge körperlicher Auseinandersetzungen als auch extrem hohen psychischen Belastungen ausgesetzt, die zu Angst, Verzweiflung, Ratlosigkeit, Lähmung, Frustration und Hilflosigkeit führen, auch zu Schuldgefühlen, Unsicherheit, Unzufriedenheit und Versagensängsten (Seifert 2004).

Problemlösungsstrategien sind vielfältig, aber nach Aussagen von Mitarbeiter*innen nicht immer erfolgreich (Seifert 1994, 2004, 2006b; Büschi et al. 2018). Sie umfassen verhaltensbezogene Maßnahmen (Abbau der Auffälligkeiten, Aufbau alternativer Verhaltensweisen), bedürfnisorientierte Maßnahmen (z. B. Zuwendung, Kommunikation, Beschäftigung, Entspannung) und teambezogene Maßnahmen (z. B. Teamgespräche, Fortbildung, Supervision, abteilungsübergreifende Beratungsgespräche) sowie institutionsbezogene Maßnahmen (z. B. Integration in den Gruppenübergreifenden Förderbereich oder die Werkstatt für beeinträchtigte Menschen, Umzug in eine andere Wohngruppe, Beantragung von zusätzlichem Personal). Nach Ansicht von Mitarbeiter*innen liegt die größte Schwierigkeit bei der Umsetzung der Maßnahmen in der mangelnden Passung zwischen den Zielsetzungen der pädagogischen Arbeit und den personellen Kapazitäten der Wohngruppen. Nicht selten seien restriktive Maßnahmen wie Festhalten, Fixieren, Einschließen, Vergabe von Psychopharmaka und Einweisung in eine Psychiatrische Klinik kaum vermeidbar (Seifert 1994, 2004).

3.4.2 Betreuungssettings

Herausforderndes Verhalten gehört in vielen Einrichtungen der Behindertenhilfe zum Betreuungsalltag, im stationären Bereich häufiger als in ambulanten Settings. Bei angemessenen Rahmenbedingungen sind spezielle Betreuungssettings nicht zwingend erforderlich. Dennoch stoßen Mitarbeiter*innen in der Betreuung von Menschen mit herausforderndem Verhalten vielerorts an Grenzen. Darum wurden in mehreren Bundesländern für diesen Personenkreis sog. Intensivgruppen und geschlossene Wohnformen eingerichtet.

Intensivgruppen

Intensivgruppen zeichnen sich aus durch einen höheren Personalschlüssel, eine spezielle Qualifikation der Mitarbeiter*innen, fachliche Beratung und adäquate räumliche Bedingungen sowie tagesstrukturierende Maßnahmen (Dieckmann und Giovis 2007; Theunissen und Kulig 2019). Durch (Re-)Aktivierung bzw. Erweiterung der Kompetenzen der Bewohner*innen und Veränderung sozial unerwünschter Verhaltensweisen soll eine (Wieder-)Eingliederung in normalisierte Wohn- und Unterstützungsarrangements ermöglicht werden.

Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung eines dreijährigen Modellversuchs mit Therapeutischen Wohngruppen in Baden-Württemberg Anfang der 2000er Jahre zeigen, dass die Voraussetzungen für eine (Wieder-)Eingliederung bei den meisten teilnehmenden Personen erreicht wurden (Dieckmann und Giovis 2007): Häufigkeit und Intensität der herausfordernden Verhaltensweisen nahmen ab, mehr als drei Viertel von ihnen waren in der Lage, sich sozial verträglicher zu verhalten, die kommunikativen Kompetenzen konnten erweitert und die Frustrationstoleranz und Lenkbarkeit erhöht werden, freiheitsentziehende Maßnahmen wie Fixieren oder Time-out konnten teilweise eingestellt werden. Die meisten fanden eine Beschäftigung im Arbeitsbereich oder im Förderbereich einer Werkstatt für beeinträchtigte Menschen. Der Umfang der persönlichen sozialen Netzwerke blieb unverändert, allerdings fanden einzelne Kontakte häufiger als zuvor statt. Fast ein Drittel der Teilnehmenden war bereits in eine nicht-aussondernde Wohnform umgezogen, weitere Umzüge standen bevor.

Schwierigkeiten bei der Reintegration in normalisierte Wohnsettings waren auf eine mangelnde Kooperation zwischen Mitarbeiter*innen der Therapeutischen Wohngruppen und den (wieder-)aufnehmenden Einrichtungen und fehlende Klarheit über inhaltliche und finanzielle Handlungsspielräume bei der Ausgestaltung des künftigen Wohnarrangements zurückzuführen. Zudem habe eine fehlende Verankerung der Therapeutischen Wohngruppen in regionalen Hilfesystemen, in denen Leistungserbringer verbindlich kooperieren, zur Folge, dass Anbieter wohnbezogener Dienste sich mit Verweis auf bestehende spezielle Gruppen einer Versorgungsverpflichtung entziehen.

In jüngster Zeit haben Theunissen und Kulig (2019) die aktuelle Betreuungssituation von Menschen mit intellektueller und mehrfacher Beeinträchtigung und herausfordernden Verhaltensweisen in Einrichtungen in Baden-Württemberg untersucht. 70 % von ihnen werden in Sondergruppen betreut, 30 % in regulären Gruppen. Trotz tendenziell guter Rahmenbedingungen in den Sondergruppen erwiesen sich die homogene Zusammensetzung der Gruppen und die daraus resultierenden hohen Anforderungen an das Personal, die Burn-out-Risiken bergen, als kontraproduktiv. Je größer die Gruppe, desto geringer die Möglichkeiten der Bewohner*innen für Selbstbestimmung und Teilhabe am allgemeinen Leben und für individuelles Eingehen auf ihre sozialen Bedürfnisse und Anforderungen. Negativ bewertete Verhaltensweisen können sich gegenseitig verstärken. Eine externe Unterstützung, z. B. durch Konsulentendienste, wurde für dringend erforderlich gehalten. Wie bereits in der Begleitstudie von Dieckmann und Giovis (2007) thematisiert, erweist sich die Reintegration in reguläre Wohnformen auch hier als voraussetzungsvoll. Für viele scheint die Therapeutische Wohngruppe zu einem dauerhaften bzw. längerfristigen Wohnort zu werden. Darum sollte die Wiederaufnahme durch den abgebenden Wohndienst verbindlich vereinbart werden.

Geschlossene Wohnformen

Nach Erkenntnissen einer Studie von Reichstein und Schädler (2016) zur gegenwärtigen Wohnsituation von Menschen mit intellektuellen und psychischen Beeinträchtigungen in Nordrhein-Westfalen werden für Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen zunehmend geschlossene Wohnformen etabliert, im Rheinland überwiegend als eingestreute geschlossene Plätze oder Wohngruppen, in Westfalen-Lippe als vollständig geschlossene Einrichtungen (Schädler und Reichstein 2018). Das Konzept eingestreuter geschlossener Plätze oder kleiner geschlossener Wohngruppen fand bei den befragten Einrichtungen und Diensten breite Zustimmung. Geschlossene Einrichtungen wurden nur etwa von der Hälfte für erforderlich erachtet, insbesondere in ländlichen Bereichen. In großstädtischen Milieus erschien die Etablierung geschlossener Einrichtungen weniger dringlich, weil ambulante und flexible Angebotsstrukturen zur Unterstützung des Personenkreises in offenen Einrichtungen hier leichter umgesetzt werden könnten, z. B. die medizinische Versorgung, psychosoziale Unterstützung und psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten.

Im geschlossenen Bereich war das Qualifikationsniveau der Mitarbeiter*innen höher als in offenen Einrichtungen. Dennoch bestand in beiden Einrichtungstypen ein erheblicher Bedarf an einrichtungs- und trägerinterner sowie externer Beratung und Unterstützung, auch an trägerübergreifenden Unterstützungsangeboten wie Supervision und Konsulentendienste. Kooperation und Vernetzung mit anderen Diensten gab es nur punktuell. Die Infrastruktur im Umfeld der Einrichtungen wurde genutzt. Die soziale Einbindung des Personenkreises im Quartier wurde von Mitarbeiter*innen für wichtig erachtet, gelang jedoch häufig nur ansatzweise, weil diesbezüglich Aktivitäten oftmals an Grenzen gesellschaftlicher Akzeptanz stießen. Eine Sensibilisierung des Sozialraums sei dringend erforderlich. Um die Tendenz zur Unterbringung von Menschen mit herausforderndem Verhalten in speziellen Einrichtungen aufzuhalten, erachten es Schädler und Reichstein für notwendig, „die erforderlichen konzeptionellen Entwicklungsanstrengungen für die Versorgung des sog. ‚harten Kerns‘ im Rahmen regionaler Teilhabeplanung zu verorten“ (Schädler und Reichstein 2018, S. 117). Wichtige Voraussetzung sei eine Verbesserung der Datenlage.

3.4.3 Externe Beratung und Unterstützung

Zur Stärkung der Kompetenzen der Mitarbeiter*innen in Wohnsettings mit Menschen mit herausforderndem Verhalten werden eine externe Unterstützung durch Fachkräfte oder interdisziplinäre und multiprofessionelle Konsulentendienste für erforderlich gehalten, wie sie seit langem in den Niederlanden praktiziert werden (Dieckmann und Giovis 2007; Theunissen und Kulig 2019; Reichstein und Schädler 2016). In einer retrospektiven Evaluationsstudie wurde die Wirksamkeit eines solchen Dienstes im Rheinland untersucht (Seifert 2004, 2006b, 2007). Bezugsrahmen war der system-ökologische Ansatz, der die Wechselwirkungsprozesse zwischen dem Individuum und seiner sozialen Umwelt sowie den strukturellen Bedingungen seines Lebensraums einschließlich der lebensgeschichtlichen Erfahrungen als wesentliche Bedingungsfaktoren von Verhaltensauffälligkeiten begreift (Seifert et al. 2001). Folgende Maßnahmenfelder wurden hinsichtlich ihrer Wirksamkeit analysiert: Veränderungen der Wohnsituation; Personelle Veränderungen; Erweiterung der Mitarbeiterkompetenz; Erweiterung von Beobachtung, Problemanalyse, Diagnostik; Veränderungen am Betreuungskonzept; Veränderungen sozialer Beziehungen; Veränderungen in der Alltagsgestaltung bzw. Lebensführung; Veränderung bei Beschäftigung, Freizeit, Bildung; spezielle Maßnahmen.

Die Evaluationsergebnisse zeigen, dass bei den meisten Bewohner*innen Häufigkeit und Intensität der Verhaltensauffälligkeiten abnahmen, insbesondere fremdgefährdende und selbstverletzende Verhaltensweisen. Viele konnten positive Fähigkeiten und Eigenschaften entwickeln bzw. verstärken, z. B. im Bereich der lebenspraktischen und intellektuellen Fähigkeiten, im Sozialverhalten und im Bereich der Emotionalität. Die Wirksamkeit der durchgeführten Maßnahmen besaß für Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen unterschiedliche Bedeutung. Für Bewohner*innen erwiesen sich in erster Linie solche Herangehensweisen als wirksam, die ihnen emotionale Sicherheit gewähren, mehr Freiheitsräume eröffnen und durch Aktivität und Beschäftigung die persönliche Entwicklung anregen. Für das Gruppenpersonal wurden vor allem Maßnahmen als hilfreich erlebt, die die Arbeit erleichtern, mehr Einblick in Zusammenhänge geben und durch neues Know-How mehr Handlungssicherheit bringen. Beispiele sind der Einsatz von mehr Personal, die Qualifizierung der Mitarbeiter*innen, regelmäßige Fallbesprechungen im Team sowie Fortbildung und Supervision. Die fachliche Begleitung durch externe Berater*innen eröffnete neue Sichtweisen auf die Problemlage und befähigte das Team zum Aufbrechen festgefahrener Situationen.

3.4.4 Empfehlungen zur Weiterentwicklung

Allen Studien ist gemeinsam, dass gemeindenahe Wohn- und Unterstützungsarrangements Vorrang vor der Separierung von Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen in zentralisierte, auf Dauer angelegte Wohnsettings haben sollten. Es wird empfohlen, Therapeutische Wohngruppen als zeitlich befristete spezielle Maßnahme in ein Handlungskonzept einzubetten, „das primär auf eine aufsuchende Beratung der Betroffenen und ihrer Bezugspersonen setzt“ (Dieckmann und Giovis 2007, S. 118). Anlass für entsprechende Maßnahmen können die Durchführung einer umfassenderen verstehenden Diagnostik, eine Entlastung des Wohnumfelds, die Erprobung von Interventionen und die gemeinsame Suche nach angemessenen Lösungen sein. Die Rückführung ins „normale“ Wohnumfeld muss sorgfältig geplant und gestaltet werden. Weitere Empfehlungen beziehen sich auf die Qualifizierung der Mitarbeiter*innen für den Umgang mit herausforderndem Verhalten, die Einführung von Konsulentendiensten als verbindlicher Bestandteil kommunaler Hilfesysteme, die Schaffung kleiner gemeinwesenintegrierter Wohnsettings für den Personenkreis auf der Basis einer kommunalen Versorgungsverantwortung im Kontext kommunaler Teilhabeplanung sowie eine personenzentrierte Finanzierung auch erhöhter Unterstützungsbedarfe ohne Bindung an eine bestimmte Wohnform (Dieckmann und Giovis 2007; Theunissen und Kulig 2019).

3.5 Wohnen im Alter

Bundesweit nimmt die Zahl der alt werdenden Menschen mit lebenslanger intellektueller Beeinträchtigung zu. Einen Überblick über die Lebenssituation dieses Personenkreises in Nordrhein-Westfalen geben Dieckmann et al. (2015). So lebten nach Ergebnissen einer empirischen Studie in Westfalen-Lippe im Jahr 2014 22 % der Personen im Alter von 50 Jahren und älter bei ihren Angehörigen, 16 % in ambulant betreuten Wohnformen und 54 % in stationären, überwiegend gemeindebasierten Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe, davon 6 % in Außenwohngruppen oder Einzelwohnungen und 15 % in Komplexeinrichtungen (Thimm et al. 2018, 2019). Bundeslandübergreifende repräsentative Daten fehlen.

Im Prozess des Älterwerdens und im Alter sind Menschen mit Entwicklungsaufgaben konfrontiert, die bei der Neugestaltung dieser Lebensphase zu berücksichtigen sind (Schäper et al. 2010; Dieckmann et al. 2015). Neben der Auseinandersetzung mit zunehmenden gesundheitlichen Einschränkungen und fortschreitendem Kompetenzabbau sowie Erfahrungen des Verlusts vertrauter Personen erfordert der Wegfall der Arbeit und der damit verbundenen Kontakte zu Arbeitskolleg*innen eine Umgestaltung des sozialen Netzwerks und die Gestaltung der frei gewordenen Zeit. Die veränderten Bedürfnisse und Bedarfe stellen neue Anforderungen an wohnbezogene Einrichtungen und Dienste. Wie diese durch strukturelle und konzeptionelle Anpassungen gelöst werden können, ist Gegenstand mehrerer Forschungsprojekte (u. a. Dieckmann und Metzler 2013).

3.5.1 Umzug in Altenpflegeheime

Durch Inkrafttreten der UN-BRK in Deutschland (2009) ist das Recht von Menschen mit Behinderung festgeschrieben, selbst zu entscheiden, wo und mit wem sie leben möchten. Für alt werdende Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen ist diese Option überwiegend nicht gegeben. Nicht nur wegen des zunehmenden Pflegebedarfs, sondern auch aus Kostengründen muss ein zunehmender Anteil von ihnen in Altenpflegeheime umziehen. Im Gegensatz zur allgemeinen Bevölkerung, die Pflegeheime überwiegend erst am Ende ihres Lebens in Anspruch nimmt, verbringen Menschen mit lebenslanger Beeinträchtigung häufig die gesamte Alterslebensphase in allgemeinen oder speziell auf Menschen mit Behinderung ausgerichteten Pflegeeinrichtungen.

Nach Untersuchungen in Westfalen-Lippe wurden im Jahr 2016 rund 7 % der Erwachsenen mit intellektueller Beeinträchtigung ab 50 Jahren in Pflegeheimen gem. SGB XI betreut; bei den Personen ab 65 Jahren waren es bereits 22 % (Thimm et al. 2018, 2019; Dieckmann et al. 2019; Haßler et al. 2019). Die meisten leben in speziellen, von Trägern der Behindertenhilfe gegründeten oder aus Langzeitbereichen Psychiatrischer Anstalten entstandenen Pflegeeinrichtungen. Umzüge erfolgten meist aus stationären Wohneinrichtungen desselben Trägers, häufig wegen des zunehmenden pflegerischen Unterstützungsbedarfs oder spezifischer pflegerischer Maßnahmen; demenzielle Erkrankungen waren eher selten der Anlass für den Wechsel (Thimm et al. 2018). Nach Ergebnissen der Studie findet in einzelnen Komplexeinrichtungen „ein mehr oder weniger systematisches und vor- und fürsorglich verstandenes Screening von älteren Bewohner*innen in Wohnangeboten der Eingliederungshilfe in Bezug auf die Notwendigkeit/Sinnhaftigkeit eines Umzugs in eine spezielle Pflegeeinrichtung statt – unabhängig davon, ob das von den Personen auch wirklich gewünscht wird“ (Thimm et al. 2018, S. 114). Die Konzentration auf trägerinterne Angebote verhindere eine verstärkte Kooperation mit vorhandenen Angeboten der Altenhilfe unter anderer Trägerschaft und mit ambulanten Pflegediensten sowie die Entwicklung von Alternativen zur stationären Pflegeeinrichtung im Einzelfall. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung im Alter durch einen Umzug in ein Pflegeheim Gefahr laufen, durch Verlust ihres individuellen Anspruchs auf Eingliederungshilfe in ihren Möglichkeiten zur Teilhabe beschränkt zu werden (Thimm et al. 2019).

3.5.2 Innovative Konzepte unterstützten Wohnens im Alter

Auch bei zunehmendem Unterstützungs- und Pflegebedarf wollen die meisten Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung auch im Alter so selbstbestimmt wie möglich in ihrem vertrauten Umfeld leben und am allgemeinen Leben teilnehmen. Die Neuerungen des BTHG, die die sektorale Unterscheidung zwischen ambulanten und stationären Wohnleistungen zugunsten personenzentrierter Unterstützungssettings aufheben, bieten dazu eine gute Grundlage.

Vor diesem Hintergrund haben sich Dieckmann et al. (2013) mit innovativen Konzepten unterstützten Wohnens älter werdender Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung befasst (Projekt LEQUI). Unter Bezugnahme auf die Leitideen Teilhabe, Inklusion und Selbstbestimmung wurden ausgewählte ambulant betreute Wohn- und Unterstützungsarrangements mittels standardisierter und offenerer qualitativer Methoden hinsichtlich ihrer Relevanz für Menschen mit Behinderung im Alter evaluiert (Schäper et al. 2010; Greving et al. 2012). Die Analyse der Rahmenbedingungen in zwei ambulant unterstützten Wohnprojekten mit 24-h-Betreuung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in Berlin und Münster erbrachte eine Reihe positiver Aspekte, die die Lebensqualität der Bewohner*innen erhöhen: gute Personalbesetzung, flexible Einsatzzeiten durch Kombination von Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung, eine Pauschale für die Nachtwache, eine koordinierte und durch eine gemeinsame Zielvorstellung getragene Zusammenarbeit zwischen pädagogischem Dienst und ambulantem Pflegedienst (Dieckmann et al. 2012). Die Versorgung war durch erreichbare Geschäfte, Arztpraxen, Cafés und Restaurants wohnortnah gewährleistet, die Einbindung der Wohngemeinschaften in reguläre Nachbarschaften erleichterte soziale Kontakte. Als verbesserungsbedürftig gilt die Abstimmung zwischen den Diensten der Eingliederungshilfe und der Pflege, die Kooperation der Mitarbeiter*innen und deren gemeinsame Verantwortung für das gesamte Unterstützungsarrangement, die Weitergabe von Informationen sowie die Zusammenarbeit mit Angehörigen. Von besonderer Bedeutung ist die Feststellung, dass die professionellen Begleiter*innen es stärker als ihre Aufgabe ansehen sollten, die Nutzer*innen bei der Gestaltung sozialer Beziehungen zu unterstützen und deren soziale Kompetenzen zu verbessern.

Aus den gewonnenen Erkenntnissen wurden Empfehlungen für das ambulant unterstützte Wohnen abgeleitet (Dieckmann et al. 2013). So solle sich z. B. der Umfang der gewährten Fachleistungsstunden auch im Alter an den individuellen Bedarfen orientieren. Zudem sollte die Wohnassistenz verstärkt für kleinräumliche Quartiere und Nachbarschaften und einen in räumlicher Nähe wohnenden Kreis von Klient*innen konzipiert werden. Eine Vernetzung mit anderen, ergänzenden Diensten und Angeboten aus den Bereichen Behindertenhilfe, Altenhilfe und Gesundheitswesen sowie mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen sei unabdingbar. Neben der Bereitstellung von Wahlmöglichkeiten zur individuellen Gestaltung des Alltags, dem Aufrechterhalten von Kompetenzen und der Förderung der Gesundheit bzw. eines gesundheitsfördernden Lebensstils sind die Unterstützung der Teilnahme am Leben in der Gemeinde und die Pflege und Stärkung sozialer Netzwerke von besonderer Bedeutung. Sie sollten als verbindliche Aufgaben der Mitarbeiter*innen in den Konzeptionen der Leistungserbringer verankert sein. Dabei haben die Zusammenarbeit mit ehrenamtlich Engagierten und die aktive Einbindung eines individuell zusammengestellten Unterstützerkreises in die Hilfeplanung besonderes Gewicht.

Die Ergebnisse der Untersuchung münden in Empfehlungen für die Gestaltung von sozialraumorientierten Wohn- und Unterstützungsarrangements mit und für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung im Alter. Als durchgängige Gestaltungsdimensionen werden „(1) die Partizipation von Menschen mit Behinderungen an Gestaltungsprozessen auf der politischen und organisationalen Ebene und in Bezug auf ihre eigene, individuelle Lebensplanung, (2) die Einbettung von Gestaltungsentscheidungen in ein quartiersbezogenes Denken und Handeln, (3) die Förderung von Bildungsprozessen für die Sicherung der Lebensqualität im Alter“ genannt (Dieckmann et al. 2013, S. 30).

3.6 Wohnen mit Migrationshintergrund

Im Jahr 2022 hatten 29 % der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund.Footnote 3 Mit Blick auf die Gestaltung des Wohnens für beeinträchtigte Menschen nicht-deutscher Herkunft stellt sich die Frage, welche Erwartungen sie an Unterstützungsleistungen der Behindertenhilfe richten und welche Barrieren hinsichtlich der Inanspruchnahme bereits bestehender Angebote wahrgenommen werden. Bislang gibt es dazu nur wenige empirische Untersuchungen. Sie basieren meist auf qualitativen Erhebungen zu spezifischen Fragestellungen oder auf quantitativen Erhebungen mit kleinen Stichproben zu ausgewählten Merkmalen der Lebenssituation (Windisch 2014).

Häufig erfolgt eine Fokussierung auf eine bestimmte Zielgruppe. So wurden z. B. jüdische Migrantenfamilien aus der ehemaligen Sowjetunion, die Töchter und Söhne mit intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigungen haben, schriftlich zu ihrer Lebenssituation befragt und ausgewählte Familiensituationen einer genaueren Analyse unterzogen. Die meisten Personen mit intellektueller Beeinträchtigung dieser Bevölkerungsgruppe leben bei ihren Angehörigen oder in ihrem häuslichen Umfeld (Bader und Kohan 2009). Fast alle möchten auch künftig zusammenleben, auch mit zunehmendem Alter der Angehörigen. Darum sei ein steigender Bedarf an familienentlastenden Angeboten zu erwarten. Perspektivisch seien durch die jüdische Gemeinde und ihre Organisationen differenzierte kultursensible Wohnangebote für die Menschen mit Behinderung zu schaffen.

In einer Teiluntersuchung der Berliner „Kundenstudie“ zu wohnbezogenen Bedarfen von Migrant*innen mit intellektuellen Beeinträchtigungen standen türkischstämmige Menschen und ihre Familien im Mittelpunkt (Seifert 2010a, 2012, 2014). Interviews mit Akteur*innen der türkischen Community machten deutlich, dass die bestehenden Unterstützungssysteme strukturell und konzeptionell nur unzureichend auf die Belange dieses Personenkreises eingestellt sind und meist nur in Überforderungssituationen von den Familien in Anspruch genommen werden. Vorbehalte sind in Einstellungen und Erfahrungen begründet, die den Zugang erschweren. So werden z. B. Wohnangebote eher als Versorgungsinstitutionen bewertet, wenn die Familie nicht angemessen für ihren Angehörigen sorgen kann, denn als Institutionen, die Teilhabe ermöglichen. Dazu kommt die Sorge vor negativen Reaktionen ihres sozialen Umfeldes, wenn das beeinträchtigte Kind in eine betreute Wohnform zieht.

Nach Einschätzung der Befragten wird die Existenz von Einrichtungen für Menschen mit Behinderung inzwischen zunehmend als hilfreiche Unterstützung in veränderten Lebenslagen wahrgenommen, auch wenn eine solche Lösung dem Selbstverständnis der Familien entgegensteht. Bei der Aufnahme in eine Wohneinrichtung können Unterschiede in den Werthaltungen von Mitarbeiter*innen und Angehörigen Konflikte auslösen. Sie entzünden sich u. a. an der Ausrichtung der Unterstützungsstrukturen an den Leitideen Selbstständigkeit und Selbstbestimmung, die den Werten türkischer Familien, wie Bindung an die Familie und Schutz durch familiäre Beziehungen, entgegenstehen.

Um die Inanspruchnahme von wohnbezogenen Hilfen zu erleichtern, sind nach den Ergebnissen der Studie auf unterschiedlichen Ebenen Zugangsbarrieren abzubauen, vor allem Informationsdefizite, Sprachbarrieren und bürokratische Hemmnisse. Notwendig seien zielgruppenspezifische Beratungs- und Informationsangebote, niedrigschwellige Kontakt- und Begegnungsstätten und die Einbeziehung von Ressourcen der türkischen Community (z. B. bilinguale Kompetenz, Lotsendienste, bestehende Netzwerke im Stadtteil). Die Aktivitäten erfordern eine enge Zusammenarbeit zwischen der Behindertenhilfe und den Migrantenorganisationen sowie mit den Familien. Grundlegend für die Arbeit mit Migrant*innen ist die Wertschätzung der Vielfalt von Lebensentwürfen, gepaart mit der Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Haltung und eigener Vorurteile, die den Umgang mit anderen Menschen prägen (Diversity-Kompetenz). Das Wissen um kulturelle Hintergründe darf – so das Votum der Befragten – jedoch nicht dazu führen, Personen mit migrantischem Hintergrund lediglich unter dem Blickwinkel der kulturellen Zugehörigkeit zu begegnen. Eine Ethnisierung von Problemen erschwere die Zusammenarbeit.

Die Frage, ob ethnisch ausgerichtete Angebote, z. B. spezielle Wohngruppen für Personen mit türkischem Migrationshintergrund, den Interessen der Familien entsprechen, ist angesichts der Heterogenität der Zielgruppe nicht eindeutig zu beantworten. Das Spektrum der Interessen reicht von klarer Priorität muslimisch ausgerichteter Angebote bis hin zur Bevorzugung der interkulturellen Öffnung von Regeleinrichtungen. Unterschiedlichen Prioritätensetzungen sollte bei der Planung von Angeboten durch Bereitstellung alternativer Wohnmöglichkeiten Rechnung getragen werden. Für Frauen und Männer mit Behinderung, die langfristig in ihren Familien betreut werden, sollten nach Einschätzung der Befragten niedrigschwellige Freizeitangebote im Stadtteil erschlossen werden, die sie auch außerhalb des Familienverbands wahrnehmen können.

4 Leitkonzept: Soziale Inklusion und Partizipation

Als einer der ersten Vertreter einer gemeinwesenorientierten Behindertenhilfe in Deutschland hat Walter Thimm vor 20 Jahren im Rahmen einer vergleichenden Studie zur Umsetzung des Normalisierungsprinzips in Deutschland und Dänemark darauf hingewiesen, dass die individuumbezogene Perspektive in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung und ihren Familien durch eine sozialräumliche Perspektive zu ergänzen ist, die die Gestaltung des Gemeinwesens in den Blick nimmt: „Die Feststellung und Reklamierung von individuellen Hilfen zur Integration und Partizipation (…), ihre Legitimationen und legislativen Absicherungen laufen ins Leere, wenn nicht gleichzeitig die Gestaltung der Infrastruktur der nahen sozialen Räume, in denen Partizipation und Integration alltagspraktisch verwirklicht werden müssen, in Angriff genommen wird“ (Thimm und Wachtel 2002, S. 25).

Im Zeichen von Inklusion und Partizipation wird inzwischen das im Feld der Sozialen Arbeit entwickelte und aus der Gemeinwesenarbeit der 1970er Jahre hervorgegangene Fachkonzept Sozialraumorientierung zunehmend auch in der Behindertenhilfe rezipiert. Sozialraumorientierte Arbeit will dazu beitragen, Lebensbedingungen so zu gestalten, „dass Menschen dort entsprechend ihren Bedürfnissen zufrieden(er) leben können“ (Hinte 2009, S. 21). Früchtel und Budde (2010) haben die zentralen Handlungsfelder in einem mehrdimensionalen Modell (SONI-Modell) auf der Ebene der Lebenswelt und auf der Systemebene beschrieben, die Orientierung für sozialräumliche Arbeit im Feld der Behindertenhilfe geben können.

In den lebensweltbezogenen Handlungsfeldern „Individuum“ und „Netzwerk“ geht es um die Stärkung der individuellen Ressourcen der beeinträchtigten Menschen, um die Erweiterung ihres persönlichen Netzwerks, um das Erschließen von Ressourcen im Quartier zur Verbesserung der Teilhabechancen und um die Mitwirkung an Prozessen und Gremien, die sich für die Angelegenheiten von Menschen mit Behinderung, die Weiterentwicklung von Angeboten und das Zusammenleben im Stadtteil engagieren. Für eine wirksame Mitwirkung benötigen Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen kontinuierlich Assistenz. Sie sollte nicht nur situationsbezogen gewährleistet werden, sondern Bestandteil eines Konzepts zur „Unterstützten Partizipation“ sein, welches die Beteiligten mit Mitteln der Erwachsenenbildung zur Selbstvertretung befähigt (Seifert 2010a).

In den systembezogenen Handlungsfeldern „Organisation“ und „Sozialstruktur“ stehen auf der Ebene des Hilfesystems strukturelle und konzeptionelle Veränderungen im Vordergrund, z. B. durch Flexibilisierung der Dienstleistungen, konsequenten Quartiersbezug der Angebote, die strukturelle Verankerung der Mitwirkung von Menschen mit Behinderung in allen relevanten Bereichen, Qualifizierung des Personals für sozialraumbezogene Aufgaben und die Einbeziehung von Freiwilligenmanagement, die trägerübergreifende Kooperation und Vernetzung und die kontinuierliche Beteiligung an regionalen Planungsprozessen sowie die Steuerung und Finanzierung der Hilfen. Auf der Ebene der Sozialstruktur ist die Passung der sozialpolitischen und rechtlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich der Bedarfe von Menschen mit Behinderung in allen Lebensphasen im Blick. Lokale Akteur*innen innerhalb und jenseits der Behindertenhilfe sind zur sozialräumlichen Zusammenarbeit aufgerufen, um kommunalpolitische Entwicklungen konstruktiv zu begleiten. Die Beteiligung der in der Kommune lebenden Menschen sollte verbindlicher Bestandteil an Prozessen kommunaler Planung und Entwicklung sein. Grundlegende Prämisse ist die gemeinsame Verantwortung für die Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens.

Mehrere wohnbezogene Forschungsprojekte haben sich mit dem Stand der Umsetzung sozialräumlicher Konzepte in der Behindertenhilfe befasst und Empfehlungen zur Weiterentwicklung gegeben (u. a. Schädler et al. 2008; Seifert 2010a; Dieckmann et al. 2013; Franz und Beck 2015). Die Analysen der quantitativen und qualitativen Erhebungen der Berliner „Kundenstudie“ zeigen in folgenden Bereichen erheblichen Handlungsbedarf (Seifert 2010b, S. 32 f.):

  • Der städtische Raum bietet durch die Vielfalt seiner Quartierskulturen und Beteiligungsstrukturen gute Chancen zur sozialen Einbindung von Menschen mit Behinderung. Viele Ressourcen bleiben jedoch ungenutzt, weil das System der Behindertenhilfe in den Lebensbereichen Wohnen, Arbeit, Freizeit und Bildung separierende Alternativen zu allgemeinen Angeboten vorhält.

  • Sozialraumorientierte Aufgaben werden praktiziert, sie sind jedoch kaum strukturell verankert. Das Engagement ist in hohem Maße abhängig von der Motivation einzelner Personen oder Personengruppen. Die Arbeit mit Menschen mit Behinderung ist nach wie vor auf die Unterstützung von Individuen fokussiert, die fehlende Finanzierung fallunspezifischer Arbeit verhindert eine systematische Öffnung in den Sozialraum.

  • Bürgerschaftliches Engagement wird als „Türöffner“ in die Gemeinde genutzt, ist aber nur bei etwa der Hälfte der befragten Anbieter konzeptionell verankert. Vorbehalte aufseiten hauptamtlicher Mitarbeiter*innen erschweren die Einbindung freiwilliger Ressourcen beim Erschließen des Sozialraums.

  • Teilhabe wird innerhalb der Behindertenhilfe überwiegend als soziale Teilhabe verstanden. Die politische Dimension von Teilhabe i. S. von Mitwirkung in Angelegenheiten, die für Menschen mit Behinderung selbst und für andere bedeutsam sind, wird bei intellektuellen Beeinträchtigungen kaum unterstützt. Vorhandene Beteiligungsstrukturen in den Berliner Bezirken sind für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen kaum erschlossen.

  • Inklusives Denken ist nicht selbstverständlicher Bestandteil der Realisierung von Angeboten. Die Mitwirkung an regionalen Planungen wird nicht systematisch praktiziert, Schnittstellen zu anderen Hilfesystemen werden nur ansatzweise genutzt (z. B. Jugendhilfe, Altenhilfe, Psychiatrie). Mitarbeiter*innen von Einrichtungen und Diensten sind für sozialraumbezogene Aufgaben nur unzureichend vorbereitet.

Auf der Basis einer vergleichenden Untersuchung unterschiedlicher Modelle einer personellen Verantwortung für die Sozialraumeinbindung schlussfolgert das Forschungsprojekt MUTIG („Modelle der Unterstützung der Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung im Alter innovativ gestalten“), dass die Einbindung in den Sozialraum klare Verantwortlichkeiten und Prozesse braucht. Die Zielsetzung der Teilhabe im Gemeinwesen müsse von allen Mitarbeiter*innen selbstverständlich mitgedacht werden, für eine stärkere Sozialraumeinbindung seien jedoch Ressourcen und qualifizierte Fachkräfte mit Netzwerkkompetenz erforderlich. Eine Kombination von individueller Assistenz und fallunspezifischer Arbeit sei empfehlenswert (Schäper & Dieckmann, Vortrag auf der Abschlusstagung des Projekts am 4./5. März 2020 in Münster).

4.1 Soziale Einbindung im Gemeinwesen

Aussagen von Menschen mit intellektuellen und mehrfachen Beeinträchtigungen zu ihren Vorstellungen vom Leben inmitten der Gesellschaft lassen erkennen, dass es nicht allein um ein möglichst selbstbestimmtes Wohnen außerhalb von Institutionen geht. Um sich als Bürger*innen wirklich zugehörig zu fühlen, sind für sie soziale Beziehungen, Anerkennung und Wertschätzung im Wohnumfeld wichtige Voraussetzungen (Metzler und Rauscher 2004; Seifert 2010a). Tragfähige soziale Beziehungen entwickeln sich jedoch nicht von selbst, sondern werden „aktiv gestaltet und beruhen auf Bedingungen wechselseitiger Sympathie, gemeinsamen Interessen und sozialer Nähe“ (Franz und Beck 2015, S. 20). Nutzer*innen ambulant unterstützter Wohnformen berichten teilweise von gegenseitiger Hilfeleistung (z. B. Entgegennahme von Post, Versorgung von Haustieren oder Blumen in Urlaubszeiten) oder gegenseitiger Unterstützung in Haushaltsangelegenheiten; gemeinsame Interessen, die verbindend wirken können, gibt es eher selten (Seifert 2010a).

Studien zum gemeindeintegrierten Wohnen von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen zeigen übereinstimmend, dass die räumliche und funktionale Integration bei vielen realisiert, die soziale Einbindung jedoch nur unzureichend gelungen ist (Hanslmeier-Prockl 2009; Seifert 2010a; Franz und Beck 2015). Versorgungs- und Dienstleistungen, öffentliche Verkehrsmittel sowie soziale und kulturelle Angebote werden genutzt. Insbesondere bei jüngeren Erwachsenen bestehen häufig positive Kontakte zu Dienstleistern im Stadtviertel, z. B. zum Kellner in der Pizzeria, zu Verkäufern im Dönerladen oder in der Eisdiele. Eine infrastrukturell ungünstige Lage der Wohnung kann die Nutzung der lokalen Ressourcen allerdings stark einschränken und die Abhängigkeit von Unterstützung erhöhen (Schädler et al. 2008). Nach Ergebnissen der Berliner „Kundenstudie“ sind persönliche Kontakte zu anderen Menschen in der Wohngegend selten. Begegnungen beim Einkaufen, beim Spazierengehen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln erscheinen – möglicherweise dem großstädtischen Ambiente geschuldet – eher oberflächlich, meist freundlich, im Einzelfall auch diskriminierend. Viele haben keinen Ort in der Nähe, an dem sie sich mit anderen treffen und gemeinsam etwas unternehmen können. Bei Wohnheimbewohner*innen sind soziale Kontakte stark auf den Wohnbereich konzentriert. Positiv erlebte soziale Beziehungen sind überwiegend im primären Netzwerk lokalisiert; Kontakte mit Menschen mit Behinderung und Familienangehörigen überwiegen.

Das Verhältnis zur Nachbarschaft entspricht weitgehend der ‚Normalität‘ nachbarschaftlicher Kontakte: Grußbeziehungen und gelegentliche Unterhaltungen (Günther 2009). Frauen und Männer mit intellektuellen Beeinträchtigungen, die in der Berliner „Kundenstudie“ befragt wurden, beurteilen das Verhalten von Nachbar*innen überwiegend positiv (Seifert 2010a): Fast alle werden freundlich gegrüßt, bei mehr als der Hälfte finden Unterhaltungen statt, ein Drittel erhält im Bedarfsfall Hilfe, einzelne werden ab und zu in die nachbarschaftliche Wohnung eingeladen oder unternehmen in ihrer Freizeit etwas gemeinsam mit Nachbar*innen (n = 120). Vereinzelt wird über Lärmbelastung von Mieter*innen im Haus geklagt.

Terfloth et al. (2016) haben im Rahmen einer Begleitforschung zu Praxisprojekten einen „Index für Inklusion zum Wohnen in der Gemeinde“ vorgelegt, der – unter Nutzung bestehender kommunaler Strukturen – Impulse zur Entwicklung inklusionsorientierter Wohnangebote gibt. In diesem Zusammenhang werden in einem umfangreichen Fragenkatalog u. a. das Verhältnis zur Nachbarschaft sowie zu Menschen im Stadtteil und Erfahrungen mit Vereinen und Treffpunkten reflektiert und Anstöße zum Nachdenken über Verbesserungen der gegenwärtigen Situation gegeben.

4.2 Inklusive Sozialplanung

Die von der UN-BRK vorgegebenen Leitprinzipien Inklusion und Partizipation erfordern Veränderungen im Denken und Handeln der Verantwortungsträger auf unterschiedlichen Ebenen. Kern ist die unbedingte Zugehörigkeit von Menschen mit Beeinträchtigung als Bürger*innen der Gesellschaft und ihre Beteiligung an Entwicklungsprozessen. In mehreren Bundesländern sind erste Schritte zu einem inklusiven Gemeinwesen zu verzeichnen. Sie werden flankiert durch Forschungsprojekte, die durch Untersuchungen ausgewählter Fragestellungen Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen im Rahmen einer kommunalen Teilhabeplanung vorlegen und Strategien auf dem Weg ins Gemeinwesen der Zukunft aufzeigen. Beispielhaft seien die Arbeiten des Zentrums für Planung und Evaluation Sozialer Dienste an der Universität Siegen (ZPE), des Zentrums zur interdisziplinären Erforschung der Lebenswelten behinderter Menschen an der Universität Tübingen (Z.I.E.L.) und des Instituts für Teilhabeforschung an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (Abt. Münster) genannt.

Mit Blick auf bundesweite Entwicklungen in den letzten Jahren beschreiben Schädler und Rohrmann (2009) auf kommunaler Ebene drei wesentliche Strategien für die Entwicklung wohnbezogener Hilfen für Menschen mit Behinderung, die auf jeweils unterschiedlichen Problemdefinitionen basieren und unterschiedliche Wirkungen für die beteiligten Akteure haben. Neben den Szenarien der „Ambulantisierung“ (Zuordnung zu Hilfeformen entsprechend dem jeweiligen Hilfebedarf) und der „Sektoralen Reform“ (Aufhebung der Unterscheidung zwischen stationären und ambulanten Leistungsformen) wird als dritter möglicher Weg der Behindertenpolitik das Szenario „Inklusives Gemeinwesen“ aufgezeigt, das Teilaspekte der anderen Szenarien integriert, aber nicht zum Kernstück der Planungen macht. Es geht „nicht von den Strukturfragen der Leistungserbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe aus, sondern blickt auf das Gesamtgeschehen, das durch staatliche und zivilgesellschaftliche Anstrengungen inklusiv, d. h. teilhabefördernd zu gestalten ist, so, dass institutionelle Ausgrenzungen möglichst vermieden werden“ (Schädler und Rohrmann 2009, S. 71). Im Kontext der umfangreichen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten am ZPE der Universität Siegen haben Rohrmann et al. (2010) Materialien zur örtlichen Teilhabeplanung für Menschen mit Behinderung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie können den jeweiligen kommunalen Gegebenheiten angepasst werden. Eine Arbeitshilfe zur Planung inklusiver Gemeinwesen fasst wesentliche Elemente zusammen und gibt Impulse für Projektideen (Rohrmann et al. 2014).

Bausteine zur Stärkung der Teilhabechancen müssen eingebettet sein in strategische Planungen zum Aufbau eines inklusiven Gemeinwesens. Als Querschnittaufgabe von Politik und Verwaltung sollen sie gewährleisten, dass in allen Lebensbereichen und Lebensphasen die notwendigen Unterstützungsleistungen in der Gemeinde gesichert sind und Barrieren der Teilhabe abgebaut werden. Am Prozess der Strategieentwicklung sind alle gesellschaftlichen Gruppen zu beteiligen, z. B. Menschen mit Behinderung, Selbsthilfe, Behindertenhilfe, lokale Akteure, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Kirche, Verwaltung, Politik (Rohrmann et al. 2010). Für die Beteiligung von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen erweisen sich offene Foren als geeigneter Raum zur Artikulation ihrer Vorstellungen, vorausgesetzt dass die Informationen in Leichter Sprache aufbereitet werden und Diskussionsverläufe dem Personenkreis Gelegenheit geben, ihre Sichtweisen in der ihnen möglichen Form einzubringen (Seifert 2011).

Am Beispiel der Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Alter beschreiben Schäper et al. (2019) im Forschungsprojekt SoPHiA („Sozialraumorientierte kommunale Planung von Hilfe- und Unterstützungsarrangements für Menschen mit und ohne lebenslange Behinderung im Alter“), wie im Rahmen einer inklusiven Sozialplanung durch Kooperation und Vernetzung der bislang versäulten Systeme der Altenhilfe und der Behindertenhilfe auf lokaler Ebene Synergieeffekte hergestellt werden können, die auch bei steigendem Unterstützungs- und Pflegebedarf den Verbleib im gewohnten Umfeld sicherstellen. Davon würden auch jüngere Personen mit komplexem Unterstützungs- und Pflegebedarf profitieren, die bislang überwiegend in separierenden Institutionen betreut werden. Die Bedingungen für ein lebenslanges, möglichst selbstbestimmtes Wohnen von Menschen mit und ohne Behinderung im Sozialraum beziehen sich auf „die soziale und alltagsbezogene Infrastruktur im Nahbereich, auf Lage und baulichen Zustand der eigenen Wohnung, auf die Gestaltung des öffentlichen Raums im unmittelbaren Wohnumfeld sowie auf personale Netzwerke mit Aktivitäten im Bereich Kultur und Solidarität im Gemeinwesen“ (Frewer-Graumann et al. 2016, S. 1).

Das methodische Vorgehen der Studie umfasste quantitative und qualitative Verfahren: Beteiligungsveranstaltungen, schriftliche und mündliche Befragungen, Gruppendiskussionen, Fokusgruppen, Felderkundungen, Nadelmethode, Sozialraumbegehungen, Sozialraumkarten. Auf der Basis von Untersuchungen zur Bevölkerung und Infrastruktur in einem städtischen und einem ländlichen Raum und Aussagen von Expert*innen wurden Leitziele für eine inklusive Sozialplanung entwickelt. Dabei waren sechs Handlungsfelder von besonderer Relevanz: Wohnen; Assistenz und Service; Pflege und Gesundheit; Freizeit, Bildung und Kultur; Kommunikation und Partizipation; Information und Beratung. Die erforderlichen Prozesse wurden exemplarisch in Praxisprojekten mit aktiver bürgerschaftlicher Beteiligung diskutiert und teilweise umgesetzt. Die Erkenntnisse des Projekts wurden in einem Manual für die Praxis inklusiver Sozialplanung für Menschen im Alter aufbereitet (Schäper et al. 2019). Wesentliche Elemente sind die Federführung durch die Kommune, die politische Mandatierung, die Vernetzung, die Bürgerbeteiligung, dauerhafte Kooperationsstrukturen, kontinuierliche Sozialdatenanalyse und Sozialberichterstattung, regelmäßige Planungskonferenzen und quartiersbezogenes Denken (Frewer-Graumann et al. 2016, S. 106 ff.).

4.3 Quartiersentwicklung

Die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen fordert die Kommunen auf, inklusive, kultursensible und generationengerechte Quartiere zu entwickeln – als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge. Wesentliche Kennzeichen solcher Quartiere sind (AG Freie Wohlfahrtspflege NRW 2012, S. 9):

  • Partizipation und Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger;

  • Barrierefreiheit im persönlichen Wohnumfeld und im öffentlichen Raum;

  • Mobilität der Quartiersbewohnerinnen und -bewohner;

  • Ermöglichungsstrukturen für Begegnung, Kommunikation, lebendige Nachbarschaft und bürgerschaftliches Engagement;

  • für alle wahrnehmbare und zugängliche, wohnortnahe Unterstützungs- und Beratungsstrukturen für Hilfen und Pflege;

  • die Nutzung aller vorhandenen Strukturen von Arbeiten und Leben im Quartier;

  • ein soziales Klima von Achtsamkeit, Wertschätzung und gemeinschaftlicher Verantwortung;

  • Kultursensibilität im Hinblick auf Zuwander*innen, unterschiedliche Milieus und Lebensformen;

  • Inklusion von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen.

Im Forschungsprojekt LEQUI wurden unterschiedlich ausgerichtete Quartierskonzepte hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf die Behindertenhilfe evaluiert (Graumann et al. 2012). Die Ergebnisse zeigen, dass bei der Implementierung solcher Konzepte eine gute Infrastruktur, ein barrierefreier Sozial- und Wohnraum, Kooperationspartner und die soziale Akzeptanz von Menschen mit Behinderung in der Nachbarschaft von Bedeutung sind. Hinsichtlich der Akzeptanz biete eine gemischte Bevölkerungsstruktur gute Voraussetzungen. Vorteile von Quartierskonzepten liegen in der zielgruppenübergreifenden Angebotsgestaltung, die allerdings Kooperationsbeziehungen sowohl auf der Fallebene als auch auf der institutionellen Netzwerkebene erfordert, z. B. mit Wohnungsunternehmen, einem nahegelegenen Stadtteiltreffpunkt oder einer Tagespflegeeinrichtung der Altenhilfe. Die Öffnung von Tageseinrichtungen der Altenhilfe für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen setze allerdings entsprechend qualifiziertes Personal voraus, insbesondere hinsichtlich der Wahrung der Selbstbestimmung. Der Einsatz von Nicht-Fachkräften müsse genau geprüft und ggf. mit einer Schulung verbunden werden.

Bemerkenswert ist, dass die Leitidee Selbstbestimmung in allen Konzeptionen verortet ist, bei der Umsetzung in der Praxis jedoch einen unterschiedlichen Stellenwert hat. So richten Unterstützungsdienste, die aus der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung hervorgegangen sind, die Assistenz konsequent an den Bedürfnissen der Assistenznehmer*innen aus. Bei den Angeboten, die aus traditionellen Angeboten der Behindertenhilfe heraus entwickelt wurden, dominiert bei Leitung und Mitarbeiter*innen eher der Fürsorgegedanke. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Quartierskonzepte für ältere Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen geeignet sein können, vorausgesetzt, dass die Angebote an den speziellen Bedürfnissen dieser Personengruppe angepasst werden, z. B. durch die Gewährleistung von Versorgungssicherheit durch einen Bereitschaftsdienst, und dass quartiersbezogene Arbeit entsprechend den Ansprüchen an die Realisierung eines inklusiven Gemeinwesens finanziert wird.

Um Inklusionsprozesse zu unterstützen, beteiligen sich einige Träger der Behindertenhilfe bereits jetzt aktiv an Quartiersentwicklungsprojekten (Haubenreisser 2013; Dieckbreder und Meine 2015). Ihr Engagement ist besonders dann gefragt, wenn sie – im Sinne einer Win-Win-Strategie – eigene Ressourcen in das Quartier einbringen und ihre Angebote zielgruppenübergreifend gestalten. So sind z. B. Assistenz- oder Pflegedienste nicht nur für Menschen mit Behinderung von Interesse. Ein Treffpunkt im Stadtteil sollte attraktiv für alle sein, ein Feld für ehrenamtliches Engagement und Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung bieten. Bestehende Treffpunkte werden diesem Anspruch nicht immer gerecht, adressatenorientierte Angebote dominieren (Schädler et al. 2008; Hanslmeier-Prockl 2009).

5 Resümee

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in der Behindertenhilfe in Deutschland Entwicklungen vollzogen, die grundlegende (und durchaus positive) Auswirkungen auf die Wohn- und Lebenssituation sowie die Lebensperspektiven von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen haben. Seit den 1970er Jahren sind – als Gegenentwurf zur bis dahin üblichen Versorgung in Großeinrichtungen – vielerorts kleinere gemeindenahe Wohneinrichtungen und nach und nach auch Wohnangebote mit ambulanter Unterstützung entstanden. Der Wandel der Betreuungskonzepte hat das Hilfesystem jedoch nicht grundlegend verändert. Es ist geprägt durch ein Nebeneinander von tradierten Konzepten und individuellen sozialraumorientierten Unterstützungssettings. „Besondere Wohnformen“ im Sinne stationärer Angebote dominieren. Insbesondere für Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf gibt es kaum Alternativen zum Leben im Heim, weil regionale Unterstützungsstrukturen nicht für spezielle Bedarfe ausgerichtet sind und die Finanzierung individueller Wohnformen für diesen Personenkreis an Grenzen stößt.

Angestoßen wurden diese Entwicklungen vor allem durch politische Diskussionen und sozialpolitische Neukonzeptionen der westlichen Industrienationen. Hier spielten insbesondere die bürgerrechtlichen, gleichstellungsorientierten Erklärungen der Vereinten Nationen eine große Rolle. Nach der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948) folgten die „Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons“ (1971), die „Declaration on the Rights of Disabled Persons“ (1975) und weitere. Erste sozialwissenschaftliche, insbesondere soziologische Analysen betrachteten die Wirkungen von (Groß-)Einrichtungen auf die dort lebenden Menschen. Insbesondere die Arbeiten von Erving Goffman wiesen auf die entpersönlichenden Wirkungen „totaler Institutionen“ hin. Und schließlich wurden mit dem Bundessozialhilfegesetz 1962 erstmals – zumindest in Deutschland – Rechtsansprüche beeinträchtigter Menschen auf finanzielle Unterstützung, insbesondere der Finanzierung wohnbezogener Hilfen geschaffen.

Wie in diesem Beitrag dargelegt lassen sich die Anfänge wohnbezogener Forschung in Deutschland ebenfalls auf die 1970er Jahre datieren. Im Vordergrund standen dabei zunächst empirische Bestandsaufnahmen bestehender Versorgungsstrukturen. Erste Vergleiche zwischen deutschen und vor allem skandinavischen Systemen wurden im Kontext des Normalisierungsprinzips insbesondere von Walter Thimm unternommen. Im weiteren Verlauf gewann die wohnbezogene Forschung zunehmend reflexiven Charakter. So erfordert beispielsweise das Konzept der Lebensqualität explizit eine subjektbezogene Sichtweise und damit ein methodisches Vorgehen, das die Perspektiven der Nutzer*innen von Wohnangeboten stringent in den Blick nimmt.

Mit der Neudefinition des Behinderungsbegriffs durch die WHO (2001), die insbesondere auch in den Sozialwissenschaften rezipiert wird, orientierte sich Forschung zunehmend an den Teilhabebereichen der ICF. Dies erforderte eine systemökologische Perspektive, die den Einfluss konzeptioneller, struktureller, personeller und finanzieller Bedingungsfaktoren auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung und notwendige Weiterentwicklungen analysiert. Es kamen quantitative und qualitative Forschungsmethoden zur Anwendung, z. B. Fragebogenerhebungen, standardisierte und teilstandardisierte Interviews, Fokusgruppen, Workshops, Zukunftskonferenzen, (teilnehmende) Beobachtungen, videogestützte Beobachtungsanalysen, sozialraumorientierte Verfahren sowie inhaltsanalytische Auswertungen von Dokumenten. Das Untersuchungsinstrumentarium orientierte sich teilweise an Konzepten der anglo-amerikanischen Forschung (z. B. Lebensqualität), teils an deutschen Instrumentarien (z. B. zur Verhaltensbeobachtung). Sehr häufig wurden Instrumente dem jeweiligen Forschungsgegenstand entsprechend im Rahmen der Projekte theoriebasiert selbst entwickelt. Längsschnittuntersuchungen sind rar, z. B. zu Fragen der Nachhaltigkeit von Deinstitutionalisierungsprozessen oder der subjektiven Lebensqualität in unterschiedlichen Wohnsettings. Auch Partizipative Forschung mit Beteiligung von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen in allen Phasen des Prozesses wohnbezogener Forschung ist bislang nur ansatzweise realisiert.

Aktuelle Zielsetzung ist ein inklusives Gemeinwesen, in dem sich alle Menschen willkommen fühlen, in dem Verschiedenheit wertgeschätzt und individuelle Interessen und Bedürfnisse beachtet werden und die Bürgerrechte für jeden gesichert sind, unabhängig vom Alter, vom Geschlecht, vom kulturellen Hintergrund oder von Art und Ausmaß einer Behinderung. Die inklusive Perspektive stellt spezifische Anforderungen an Forschungsdesigns und gibt Impulse zur Bearbeitung bislang vernachlässigter Themen, z. B. zu Gelingensfaktoren für nachbarschaftliches Zusammenleben oder zu Wohn- und Teilhabevorstellungen von intellektuell beeinträchtigten Menschen nicht-deutscher Herkunft.

Die wohnbezogene Forschung ist aufgefordert, sich insbesondere aus disziplinären Zugehörigkeiten zu lösen und um eine disziplinübergreifende Orientierung zu bemühen. In diesem Sinn engagiert sich das im Jahr 2015 gegründete Aktionsbündnis Teilhabeforschung für eine Neuorientierung und Neugestaltung der deutsch-sprachigen Forschungslandschaft über die Lebenslagen beeinträchtigter Menschen.Footnote 4 In künftigen Forschungsvorhaben im Bereich des Wohnens sind sozialrechtliche Perspektiven, betriebswirtschaftliche Ansätze, Strategien kommunaler Sozialplanung, stadtsoziologische Erkenntnisse, Wirkungen architektonischer Planung, (erwachsenen-)pädagogische Ansätze und vieles weitere zu berücksichtigen. Dabei sollten auch die aktuellen Beteiligungsformen von Bürger*innen eines Landes oder einer Kommune aufgegriffen werden. In einem für alle Menschen so zentralen Lebensbereich wie dem Bereich des Wohnens sind unterschiedliche Interessen gegeneinander abzuwägen und im Sinne einer von allen getragenen Kultur des Zusammenlebens auszutarieren. Hier kommen vielerorts bereits Instrumente und Methoden zum Einsatz, die geeignet sind, auch Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die sich wegen kultureller oder sprachlicher Hindernisse oder besonderer Anforderungen bei der Bewältigung ihres eigenen Alltags gewöhnlich nicht an öffentlichen Foren beteiligen. Sie könnten auch die Partizipation von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen erleichtern.

Bedeutsam erscheinen zudem prospektive Studien, in denen Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen (und ihre Angehörigen) längere Zeit vor Beantragung einer wohnbezogenen Unterstützung äußern können, „wo, wie und mit wem sie leben möchten“ (§ 19 UN-BRK). Ergebnisse solcher Studien sind relevant für kommunale Sozialplanung sowie Stadtentwicklungsprojekte ebenso wie für Leistungsträger und Leistungserbringer im Kontext der Leistungen zur Teilhabe (SGB IX).

Abschließend ist mit Blick auf die Forschungslandschaft der vergangenen Jahrzehnte und heute kritisch anzumerken, dass wohnbezogene Forschung in weiten Teilen nicht im strengen Sinne unabhängig war, ist und bleibt, da sie in der Regel von Aufträgen von (und Finanzierung durch) Ministerien, Stiftungen sowie Wohlfahrts- und anderen Verbänden abhängig ist. Die Ausstattung von Universitäten und Hochschulen ermöglicht in keinem Fachbereich eine eigenständige Forschung.