1 Einleitung

Das Thema Wohnen stellt Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf, ihre Angehörigen und professionellen Unterstützer*innen vor besondere Herausforderungen.

Kennzeichnend für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf ist eine schwere kognitive Beeinträchtigung, die meist in Kombination mit sensorischen und körperlichen Einschränkungen einhergeht. Hinzu kommen Gesundheitsprobleme, wie beispielsweise Epilepsie, Atemwegserkrankungen oder Verdauungsprobleme (Evenhuis et al. 2001; van Schrojenstein-Lantman de Valk et al. 2000; van Splunder et al. 2006). Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf sind keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich sowohl in den Ursachen ihrer Behinderung als auch in ihren funktionalen, kommunikativen und verhaltensbezogenen Fähigkeiten (Bellamy et al. 2010; Nakken und Vlaskamp 2007). Die Komplexität und der Schweregrad der Beeinträchtigungen führen dazu, dass dieser Personenkreis für fast alle Handlungen des alltäglichen Lebens lebenslang auf Unterstützung angewiesen ist (Nakken und Vlaskamp 2007; Klauß 2017). Diese Personen haben einen umfassenden Assistenz- und Pflegebedarf und benötigen eine Wohnsituation, in der eine entsprechende Unterstützung Tag und Nacht verfügbar ist. Die meisten von ihnen leben nach dem Auszug aus dem Elternhaus in Wohngruppen in Wohneinrichtungen (besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe), zum Teil auch in Pflegeeinrichtungen (Franz und Beck 2015; Vugteveen et al. 2014; Thimm et al. 2018).

Die Wohnsituation hat auch für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf einen maßgeblichen Einfluss auf die von ihnen erfahrene Lebensqualität (Petry et al. 2009). Die bereits angesprochene große Heterogenität des Personenkreises erfordert individuelle Lösungen – auch für die Wohnsituation. Während sowohl der Wohnort als auch die Wohnform den individuellen Bedürfnissen und Wünschen einer Person mit komplexem Unterstützungsbedarf entsprechen sollten, zeichneten Studien ein anderes Bild (Seifert 2010).

Dabei brauchen Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf ein stabiles und in sich kooperatives Umfeld, damit ihre Bedürfnisse erfasst und verstanden werden. Viele von ihnen kommunizieren nicht über Lautsprache, sondern nutzen Hilfsmittel der Unterstützten Kommunikation oder äußern sich über Signale der Körpersprache wie Blinzeln mit den Augen, Muskelspannung oder Atmung (Krämer und Zentel 2020). Nur wenn Angehörige und langfristig sie begleitende professionelle Unterstützer*innen eine Beziehung zu einer Person aufbauen, diese individuellen Kommunikationsmittel kennen und die individuellen Signale verstehen, können Bedürfnisse erfüllt und ein Kontakt mit dem weiteren Umfeld hergestellt werden (Goldbart und Caton 2010). Aufgrund der wichtigen Rolle der Unterstützer*innen ist in der jeweiligen Wohnsituation eine Abstimmung zwischen den Angehörigen und den professionellen Unterstützer*innen, aber auch zwischen den professionellen Unterstützer*innen verschiedener Settings (z. B. zwischen dem Wohndienst und einer Tagesförderstätte) und mit Vertreter*innen anderer Professionen (z. B. mit der Physiotherapie) notwendig (Petry et al. 2009; Schultz 2010). Erst auf Basis dieser Abstimmungen wird eine langfristige Planung der individuellen Teilhabe und deren Unterstützung möglich.

Die essentielle Rolle der persönlichen Beziehungen führt dazu, dass sowohl die Entscheidung zum Auszug aus dem Elternhaus einer Person mit komplexem Unterstützungsbedarf als auch der Übergang in ein anderes Wohnsetting zu einer besonderen Herausforderung werden kann (Grey et al. 2015). Neben der Zusammenarbeit von Angehörigen und professionellen Unterstützer*innen kann außerdem der Sozialraum einen entscheidenden Einfluss auf die Zufriedenheit mit dem jeweiligen Wohnsetting haben (Jansen et al. 2016; Seifert 2018).

Im Folgenden werden die bereits angesprochenen Herausforderungen in Bezug auf das Wohnen von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf auf Basis von Erkenntnissen aus der Wohnforschung detaillierter dargestellt. Hierzu wurden die Erkenntnisse sowohl aus dem deutschsprachigen als auch aus dem englischsprachigen Raum einbezogen. In der englischsprachigen Literatur dominieren Publikationen aus den Niederlanden, da sich dort eine forschungsstarke Community seit Jahren der Zielgruppe widmet. Darüber hinaus wurden Forschungserkenntnisse aus England, Kanada, Australien und den USA einbezogen.

2 Wohnformen

Erwachsene Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf leben nach einem Auszug aus dem Elternhaus überwiegend in stationären Wohnangeboten – den besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe (Vugteveen et al. 2014). Die zunehmende Ambulantisierung führt dazu, dass Wohngruppen von Wohneinrichtungen immer homogener zusammengesetzt sind. Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf verbleiben in diesen Wohnangeboten, während Menschen mit einem geringeren Unterstützungsbedarf in ambulant unterstützte Wohngemeinschaften oder eigene Wohnungen ziehen (Franz und Beck 2015). Mit zunehmendem Alter nimmt wiederum die Zahl der Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in den Wohneinrichtungen verhältnismäßig ab, da sie im Durchschnitt eine geringere Lebenserwartung haben oder in Pflegeeinrichtungen umziehen (Thimm et al. 2019; Haßler et al. 2019).

Ambulant unterstützte Wohnsettings sind für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in Deutschland häufig nicht zugänglich. Das hat verschiedene Gründe: Die Finanzierung dieser Wohnsettings für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf stellt eine Herausforderung dar, da eine 24h-Unterstützung auch eine Nachtbereitschaft beinhaltet. Diese ist aber bislang meist in ambulanten Settings nicht vorgesehen. Zwar kann dem durch eine Bündelung von Ressourcen begegnet werden, das bedeutet aber auch, dass Wohnsettings (z. B. Wohngemeinschaften, Apartmenthäuser) dann eine gewisse Größe haben müssen, was wiederum im Konflikt mit dem Anspruch steht, individuellen und privaten Wohnraum zu schaffen (Franz und Beck 2015). Eine weitere Herausforderung in der Gestaltung von ambulant unterstützten Wohnsettings für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf sind die räumlichen Anforderungen. Während Wohnraum mit entsprechender Barrierefreiheit nur begrenzt verfügbar ist, kann auch die Lage ein Ausschlusskriterium sein, wenn eine Nachbarschaft z. B. keine Menschen mit herausforderndem Verhalten akzeptiert. Hinzu kommt die Herausforderung der Organisation eines ambulant unterstützten Wohnsettings. Meist übernehmen professionelle Unterstützer*innen die Koordination von verschiedenen Unterstützungsleistungen (z. B. Eingliederungshilfe- und Pflegeleistungen). Aber auch Angehörige und rechtliche Betreuer*innen haben zusätzliche Aufgaben (z. B. Mietvertrag und allgemeine Finanzen), die mitunter als Belastung erfahren werden. Wenn am Ende die Lebenswirklichkeit von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in ambulanten Wohnsettings ähnlich oder genauso aussieht wie in stationären Settings (auch eine Frage der Organisationskultur), sind die Vorteile eines ambulant unterstützten Wohnsettings (wie die flexiblere und individuellere Unterstützung) gegenüber stationären Wohnsettings für die Bewohner*innen nicht erlebbar. Dann stellt sich die Frage, welcher Unterschied zwischen stationären und ambulanten Angeboten für diesen Personenkreis besteht (Franz und Beck 2015).

3 Wohnwünsche

Die Erhebung der Wohnwünsche von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf ist ein noch neues Thema (Schrooten et al. 2019). Dabei müssen Wohnwünsche immer zusammen und gleichzeitig auch differenziert von Wohnbedürfnissen gedacht werden. Unter Wohnwünschen werden individuelle Präferenzen zur Wohnform, der Gestaltung des Wohnraums oder der Auswahl der Mitbewohner*innen verstanden, während sich Wohnbedürfnisse auf humane Grundbedürfnisse wie Schutz und Sicherheit, soziale Kontakte und Privatheit und physiologische Bedürfnisse beziehen.

Die Erhebung von Wohnwünschen macht deutlich, dass es Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf an Zugang, aber auch an Ideen und Erfahrung mit verschiedenen Wohnsettings fehlt (Schrooten et al. 2019). Während die räumlichen Bedingungen (wie der generelle Wohnraummangel, aber auch der spezielle Mangel an barrierefreiem Wohnraum) zu einem sehr geringen Angebot führen, mangelt es auch häufig an Informationen über mögliche Wohnangebote. Aufgrund mangelnder Alternativen ist ein Abwägen zwischen Wohnangeboten selten möglich. Entscheidungen für ein Wohnsetting fallen „alternativlos“, also für oder gegen das einzige konkrete Angebot. Hinzu kommt die stärkere Abhängigkeit von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf von anderen und damit auch die größere Beeinflussung durch andere Personen. Professionelle Unterstützer*innen und/oder Angehörige spielen eine essentielle Rolle in der Anbahnung der Auseinandersetzung mit Wohnwünschen und tragen maßgeblich – im positiven als auch im negativen Sinne – zum Ergebnis dieser Auseinandersetzung bei. Dabei ist nicht zuletzt auch der Unterstützungsbedarf entscheidend. Häufig verursacht ein größer werdender Unterstützungsbedarf die Auseinandersetzung mit dem Thema Wohnwünsche (Schrooten et al. 2019).

Für die Erhebung von Wohnwünschen von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf haben sich verschiedene Methoden bewährt (Koch und Tiesmeyer 2020):

  • Persönliche Zukunfts- oder Lebensstilplanung

  • Methoden der Unterstützten Kommunikation

  • Beobachtungen im Alltag

  • Biografiearbeit

  • Netzwerk- und Sozialraumerschließung

  • Unterstützerkreise

  • Peer-Beratung

Diese Methoden müssen in der konkreten Umsetzung an die Zielgruppe bzw. an die individuelle Person sowie an das Tempo der Auseinandersetzung aller Beteiligten mit dem Thema Wohnwünsche angepasst werden.

Die Erhebung von Wohnwünschen muss nicht zwangsläufig zu einem Umzug in ein anderes Wohnsetting führen. Auch die (Um-)Gestaltung des vorhandenen Wohnsettings (z. B. mit mehr Raum für Privatheit und individuelle Entfaltung) kann ein positives Ergebnis einer solchen Auseinandersetzung sein (Schrooten et al. 2019).

4 Lebensqualität

Obwohl der Zusammenhang zwischen verschiedenen Arten von Wohnformen und der erlebten Lebensqualität von Menschen mit Behinderung in Bezug auf einzelne Aspekte nachgewiesen ist (siehe auch Kap. 3 und 4), fehlen eindeutige Ergebnisse aus der Wohnforschung mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf. Hier werden bisher vorrangig Hypothesen und Trends beschrieben (Felce und Perry 2007).

Dazu muss angemerkt werden, dass das Konzept der Lebensqualität nach Schalock (2000) eine subjektive und eine objektive Komponente umfasst. Da jedoch das Erfassen des subjektiven Erlebens von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf meist nicht über Lautsprache möglich ist, erfolgt die Erhebung der Lebensqualität für diesen Personenkreis vielfach durch die Befragung von Proxies (nahestehenden Personen). In dem einzigen Instrument, das explizit für den Einsatz mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf entwickelt wurde, soll dabei eine Zusammenstellung von unterschiedlichen Perspektiven (z. B. von Angehörigen und professionellen Unterstützer*innen) ein möglichst umfassendes Bild liefern (Petry et al. 2008).

Vergleichende Studien haben u. a. den Einfluss der Größe der Wohneinrichtung oder der Größe der Wohngruppe auf die Lebensqualität von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf untersucht. Während die meisten dieser Studien keine einheitlichen und statistisch signifikanten Ergebnisse lieferten (Felce und Perry 2007), zeigen einzelne Studien, dass kleine Wohnsettings in Kombination mit entsprechendem Handeln der professionellen Unterstützer*innen zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe führen (Bigby und Beadle-Brown 2018). Auch bestätigen mehrere Fallstudien, dass es in kleinen Wohnsettings eher möglich ist, vielfältige Situationen der persönlichen Entscheidung in den Alltag einzubauen sowie individualisierte Angebote in Bezug auf soziale Kontakte und Freizeitgestaltung zu machen (Brandenburg et al. 2014; Emerson et al. 2001; Robertson et al. 2000). Diese Ergebnisse werden noch untermauert durch Studien zur personellen Besetzung und Haltung der professionellen Unterstützer*innen. Wenn genügend Personal verfügbar ist und diese personenzentrierte Unterstützungsleistungen mit viel Raum für Selbstbestimmung erbringen, führt dies zu einer deutlich höheren Lebensqualität bei den Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf (Petry et al. 2009). Auch können Angehörige in kleinen Wohnsettings mehr eingebunden werden und sind in der Konsequenz zufriedener mit der angebotenen Unterstützung (Hoekstra et al. 2014). Diese Aspekte werden wiederum mit einer höheren Lebensqualität bei den Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in Verbindung gebracht. Wenn in einer Wohngemeinschaft oder Wohngruppe aber fast ausschließlich Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf leben, entwickelt sich schwerlich ein kulturell üblicher Wohnalltag, an dem Bewohner*innen beteiligt werden können (Dieckmann 2002).

5 Individuelle Teilhabeplanung

Für die Lebensgestaltung ist neben der langfristigen persönlichen Lebensplanung die individuelle Teilhabeplanung ein wichtiges Instrument (DHG 2021).

Der Zyklus der Teilhabeplanung umfasst dabei die folgenden Schritte:

  • Erhebung von Wünschen, Interessen und Bedarfen der Person mit komplexem Unterstützungsbedarf

  • Gespräch im Unterstützerkreis

  • Formulieren von Teilhabezielen

  • Umsetzung von Aktivitäten zur Realisierung der Teilhabeziele

  • Dokumentation der Aktivitäten

  • Evaluation von Aktivitäten und Teilhabezielen

Zur Erhebung von Wünschen, Interessen und Bedarfen sind verschiedene, zielgruppenspezifische Instrumente verfügbar, die optimalerweise von mehreren Unterstützer*innen aus verschiedenen Lebensbereichen ausgefüllt werden. Im Rahmen des Unterstützerkreisgesprächs werden diese gesammelten Informationen dann zusammengetragen und auf die aktuelle und mögliche zukünftige Lebenslage der Person bezogen. Der wichtigste Aspekt dieses Austauschs ist der Blick aus verschiedenen Perspektiven auf die Person im Mittelpunkt. Aber auch die Kommunikation und die Absprachen zwischen den verschiedenen Unterstützer*innen sind ein positiver Effekt. Die zusammen entwickelten Teilhabeziele werden im nächsten Schritt mit konkreten Aktivitäten im Alltag verknüpft. Die Dokumentation und Evaluation der Umsetzung gibt der Person im Mittelpunkt die Möglichkeit, eine regelmäßige Rückmeldung zu den Teilhabezielen zu geben und somit direkten Einfluss auf die gesamte Entwicklung zu nehmen (Munde 2019).

Eine Analyse des Einsatzes von personenzentrierter Teilhabeplanung mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf führte zu dem Ergebnis, dass professionelle Unterstützer*innen sowohl für ihre Arbeit als auch für die Entwicklung ihrer Klient*innen positive Effekte beschreiben (Vlaskamp und van der Putten 2009). Die pädagogische und die methodische Qualität der Arbeit werden von den professionellen Unterstützer*innen positiver bewertet. Auch die Zusammenarbeit mit Kolleg*innen der eigenen und anderer Disziplinen sowie mit den Angehörigen erfahren die Unterstützer*innen als gewinnbringender als vorher. Gleichzeitig beschreiben sie vor allem in der Anfangszeit einen erhöhten Arbeitsaufwand. Bei den Klient*innen sehen die Unterstützer*innen positive Entwicklungen, speziell in Bezug auf ihre Kommunikation, Stimmung und Aufmerksamkeit (Munde 2019; Vlaskamp und van der Putten 2009).

6 Umzug aus dem Elternhaus in eine Wohneinrichtung

Der Auszug von Erwachsenen mit komplexem Unterstützungsbedarf aus dem Elternhaus findet im Vergleich zu Erwachsenen ohne Behinderung oft sehr viel später statt und ist mit Ängsten und Schwierigkeiten verbunden (Grey et al. 2015; Gauthier-Boudreault et al. 2017). Bei vielen Eltern ruft der Gedanke an die Zukunft ihres Kindes Ängste hervor: Mit dem Umzug in eine Wohneinrichtung verbinden Eltern u. U. Angst vor Missbrauch und Misshandlung und Risiken, dass ihr Kind vereinsamt oder Fähigkeiten verliert (Bernard und Goupil 2012). Aber selbst wenn sich Eltern dazu entschlossen haben, den Übergangsprozess zu unterstützen, stehen sie vor Hürden. Es gibt zu wenige verschiedenartige Wohnmöglichkeiten, die den Bedürfnissen der ausziehenden Person entsprechen (Bigby 2013; Mansell und Wilson 2010). Viele Eltern erleben eine Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen ihres Kindes und dem, was verfügbare Dienste leisten können (Gauthier-Boudreault et al. 2017; Lunsky et al. 2014).

Der Auszug von jungen erwachsenen Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf geht einher mit einer Verschiebung der alltäglichen Verantwortung von den Eltern auf den Wohndienst. Damit verbunden ist die Veränderung der elterlichen Rolle von der primären Quelle der Fürsorge zu einer mehr unterstützenden, begleitenden, aber auch kontrollierenden Rolle. Diese neue Konstellation – Klauß und Wertz-Schönhagen (1993, zitiert nach Schultz 2010) bezeichnen sie als „tripolares Beziehungsgeflecht“ – führt auch zu Konflikten und damit zu neuen Belastungen für die Eltern. So unterscheidet sich die Pflege innerhalb eines Familiensystems von der Pflege in einer Wohneinrichtung, was von vielen Eltern als problematisch erlebt wird. So leiden Eltern unter der hohen Personalfluktuation und haben Probleme anzuerkennen, dass Mitarbeiter*innen die Betreuungsaufgaben nicht in ähnlicher Weise ausführen, wie sie es als Eltern getan haben bzw. tun würden (Cernikovski 2015). Grundsätzlich empfinden Eltern Ängste in Bezug auf eine angemessene Unterstützung und Versorgung, die durch Personen, die nicht die gleiche tiefe Beziehung zu ihrem Kind haben wie sie selbst, unter Umständen nicht gewährleistet werden. Hinzu kommen Ängste vor Zurückweisung und Missbrauch (Leonard et al. 2016). Ferner werden die von den Eltern oft mühevoll entwickelten Kompetenzen ihrer Tochter bzw. ihres Sohnes nicht unbedingt „abgerufen“, vermittelte Werte und Erwartungen an ihr Kind von dem neuen betreuenden Umfeld nicht unbedingt übernommen. Dazu zählen auch Selbstbestimmungsaspekte, die vor allem dann konfliktbehaftet sind, wenn die jungen Erwachsenen mit komplexem Unterstützungsbedarf Bedürfnisse entwickeln und verwirklichen, die den Vorstellungen der Eltern nicht entsprechen. Eltern erleben eine Abwertung ihrer Rolle, wenn sie von dem neuen Wohnumfeld nicht einbezogen werden, falls ihr Kind besondere Bedürfnisse oder Probleme hat (Bigby et al. 2019). In einer niederländischen Studie von 2014 zeigte sich, dass die meisten Eltern von erwachsenen Kindern mit komplexem Unterstützungsbedarf mit der Betreuung in der Einrichtung zufrieden waren. Allerdings gaben immerhin 34 % der Eltern an, dass sie nicht immer die Unterstützung erhielten, die sie selbst für wichtig hielten. Dazu zählten sie Informationen zu Fortschritten ihres Kindes, zu besonderen Behandlungen oder Änderungen, die sich in der Betreuung ergeben (Jansen et al. 2014). Das, was Eltern wichtig ist, wird nicht immer ausreichend kommuniziert.

Der Auszug des Kindes mit komplexem Unterstützungsbedarf wirkt sich auf die Eltern nicht zwingend entlastend aus, sondern sie sehen sich durch eine potenziell konflikthaft aufgeladene neue Rolle neuen Belastungen gegenüber. Den professionellen Unterstützer*innen in Wohneinrichtungen fällt in diesem Übergangsprozess eine entscheidende Rolle zu. Sie müssen drei Perspektiven miteinander in Einklang bringen: Die Perspektive der neuen Bewohner*innen, die Perspektive der Einrichtung und die Perspektive der Eltern.

Aus der Perspektive der Bewohner*innen mit komplexem Unterstützungsbedarf sollten die individuellen Bedürfnisse im Zentrum stehen. Allerdings müssen sich Bedürfnisse erst entwickeln können. Der Wechsel vom häuslichen Umfeld in das Umfeld einer Einrichtung löst erstmal Unsicherheiten aus, die überwunden werden müssen. Auf der Grundlage eines neu gewonnenen Gefühls der Sicherheit können in der Folge alte Bedürfnisse wiederentdeckt und neue Bedürfnisse entwickelt werden. Hierzu ist eine gute Unterstützung notwendig, die Bildungsangebote beinhaltet, um Autonomie zu ermöglichen und Beziehungen sowie Kommunikationsprozesse zu unterstützen (Klauß 2017). Erforderlich sind Rahmenbedingungen wie Zeit und ausreichend qualifiziertes Personal.

Diese notwendigen Rahmenbedingungen für gute Unterstützung konfligieren unter Umständen mit der Perspektive der Wohneinrichtung, die neben dem Wohl der Bewohner*innen auch das Wohl der Mitarbeiter*innen, interne Abläufe und Wirtschaftlichkeitsaspekte im Blick hat. Eine an den je unterschiedlichen Bedürfnissen ausgerichtete Assistenz ist aufwendig, teuer und deutlich schwerer zu organisieren als eine auf „satt-und-sauber“ reduzierte Pflege. Aber nur eine auf individuelle Bedürfnisse hin ausgerichtete Unterstützung kann Teilhabeoptionen für Bewohner*innen mit komplexem Unterstützungsbedarf erhöhen.

Die dritte Perspektive ist die der Eltern, die als wichtige Partner einbezogen werden, um im Sinne einer geteilten Verantwortung immer wieder auf ein gemeinsames Verständnis von Pflege und Unterstützung hinzuarbeiten. Dieses gemeinsame Verständnis kann nur entwickelt werden, wenn durch gelungene kommunikative Prozesse und positive Erfahrungen Vertrauen aufgebaut werden kann. Dabei muss berücksichtigt werden, dass jede Familie einzigartig ist, ihre eigenen Traditionen, sozio-kulturellen Hintergründe, Vorstellungen und Wünsche mitbringt. Diese müssen von den professionellen Unterstützer*innen respektiert und berücksichtigt werden (Jansen et al. 2016). Allerdings kann es auch notwendig sein, identifizierte Teilhabewünsche der Bewohner*innen mit komplexem Unterstützungsbedarf gegenüber den Wünschen und Perspektiven der Eltern zu verteidigen und für sie argumentativ einzustehen.

Gelingt es, diesen Prozess effektiv und konfliktarm zu gestalten, trägt dies zur Steigerung der Lebensqualität von Eltern und in der Folge der Lebensqualität ihres Kindes bei (Jansen et al. 2016) und erhöht die Möglichkeiten einer selbstbestimmten Teilhabe. Die Mitwirkung von Familienmitgliedern muss möglich sein und niederschwellig initiiert werden können. Hierfür sind angemessene Unterstützungssysteme für diese Familienmitglieder erforderlich (Zambrino und Hedderich 2021).

7 Sozialraumorientierung

Das eben dargestellte Beziehungsgeflecht erfährt eine Erweiterung, wenn wir den Blick von gruppengegliederten Wohneinrichtungen zu sozialraumorientierten inklusiven Wohnformen richten. Denn dann stellt sich mit der direkten und erweiterten Nachbarschaft ein weiterer Stakeholder ein, dessen Bedürfnisse mit denen von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf, ihren Angehörigen und professionellen Unterstützer*innen in Einklang gebracht werden müssen.

Unter dem Paradigma der Deinstitutionalisierung haben sich für Menschen mit intellektueller/kognitiver Beeinträchtigung in den letzten Jahrzehnten mehr inklusive Optionen für ein Leben in oder zumindest nahe der Gemeinde ergeben (Chowdhury und Benson 2011). Ein tieferer Blick zeigt aber, dass im gemeindenahen Wohnen meist nur eine physische Inklusion verwirklicht wird, ein soziales Eingebundensein, ein Gefühl der Zugehörigkeit sich aber nicht in gleichem Maße entwickelt (Chowdhury und Benson 2011). Blicken wir auf Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf, so sind noch deutlich weniger Integrationsbemühungen beobachtbar. Nach Venema (2016) sind sie die letzten Personen, die Wohneinrichtungen verlassen und die ersten, die wieder dahin zurückkehren, wenn Integrationsversuche scheitern. Auch Becker (2014) konstatiert, dass Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf nicht in aktuelle fachliche und sozialpolitische Entwicklungen wie der Ambulantisierung bzw. Deinstitutionalisierung einbezogen werden. Sie bilden die sogenannte Restgruppe in Heimen, während Menschen mit leichteren Beeinträchtigungen nun vermehrt in ausgelagerten Wohngruppen, Wohngemeinschaften oder allein bzw. zu zweit in der eigenen Wohnung mit ambulanter Unterstützung leben können. Das widerspricht nach Becker der Behindertenrechtskonvention und dem Konzept der Inklusion, die beide „… kein Zwei-Klassen-System in der Behindertenhilfe [kennen; die Verfasser], welches zwischen ‚integrations- oder inklusionsfähigen‘ behinderten Menschen unterscheidet“ (Becker 2014, S. 209).

Daraus folgt, dass auch für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf der Weg in den Sozialraum gebahnt werden muss. Nach Seifert (2018) treffen Teilhabechancen im Quartier bei komplexem Unterstützungsbedarf „auf eine Gemengelage verschiedener Interessen“ (S. 8). So gibt es Angehörige, die sich mit viel Engagement für innovative, personenzentrierte und sozialraumorientierte Wohnkonzepte einsetzen, andere bevorzugen traditionelle Wohnangebote und wieder andere betreuen ihr Kind im elterlichen Haus so lange wie möglich. Ähnlich divers zeigt sich die Situation bei Anbietern, die teilweise innovative sozialraumorientierte Konzepte erproben, auf der anderen Seite aber bei zunehmender Pflegebedürftigkeit auch gegen den Willen Betroffener auf Pflegeeinrichtungen verweisen (Dieckmann et al. 2019). D. h., dass in Bezug auf Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf trotz einzelner progressiver Initiativen bisher kein in der Breite wahrnehmbarer Trend in Richtung sozialraum- und teilhabeorientiertes Wohnen wahrnehmbar ist. Insofern sind möglicherweise Konzepte wie die umgekehrte Inklusion (Venema 2016) eine zumindest mittelfristig sinnvolle Übergangslösung. In solchen Settings wird in Komplexeinrichtungen Wohnraum für Menschen ohne Unterstützungsbedarf geschaffen. Aufgrund der angepassten Umgebung und der bewussten Entscheidung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung, in einer solchen Nachbarschaft zu leben, kann davon ausgegangen werden, dass es bessere Möglichkeiten für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung gibt, sich sozial zu integrieren und damit teilzuhaben. Dass es gerade im Zusammenhang von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf Schwierigkeiten geben kann, zeigt Venema (2016). Im nachbarschaftlichen Miteinander sind soziale Kontakte typischerweise kurze verbale Gespräche, bei denen es eine Art von Gegenseitigkeit gibt, wie z. B. dass sich beide Parteien gegenseitig grüßen. Gerade für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf sind solche reziproken Sozialkontakte jedoch schwer zu realisieren, da sie primär nonverbal kommunizieren und über geringe adaptive und soziale Fähigkeiten verfügen. Das heißt, ein gleichwertiges Dazugehören kann erschwert werden. Venema plädiert deshalb dafür, andere, realistischere Ziele für das Zusammenleben zu definieren. So erleben Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf bereits ein Gefühl der Zugehörigkeit, indem sie sich in der Nähe von Menschen ohne intellektueller Beeinträchtigung aufhalten (Vlaskamp und Verkerk 2000). Werden solche „kleineren Ziele“ wahrgenommen und wertgeschätzt, trägt dies dazu bei, dass sich keine Frustrationserfahrungen breitmachen, die alle Beteiligten entmutigen und zu einer Abkehr von Integrationsbemühungen führen würden. Aus Sicht von Venema (2016) spielen die professionellen Unterstützer*innen eine zentrale Rolle im sozialen Integrationsprozess von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf. Ihre Einstellung ist die wichtigste Determinante für den Erfolg des sozialen Integrationsprozesses. Je positiver sie Aspekte der Teilhabe werten, desto eher werden ermöglichende Situationen gesucht und positiv ausgestaltet. Nach Venema (2016) müssen betreuende Kräfte auch fehlerhafte Vorstellungen über die Meinung anderer Beteiligter korrigieren. Wenn beispielsweise professionelle Unterstützer*innen glauben, dass sich nichtbehinderte Nachbarn durch Begegnungen und Interaktionen mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf gestört fühlen, werden sie solche Situationen vermeiden.

8 Fazit

Obgleich durch den Blick auf nationale und internationale Forschung Erkenntnisse zu Teilhabeoptionen von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf im Kontext des Wohnens aufgezeigt werden konnten, sind erhebliche Lücken zu konstatieren. So fehlt es an Forschung zur Situation von erwachsenen Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf, die weiterhin im Elternhaus leben. Neben den Eltern verdient die Situation und Rolle der Geschwister für Menschen mit komplexen Unterstützungsbedarf im Erwachsenenalter mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Zusätzliche Forschungsbemühungen zur Lebensführung im Sozialraum sind wünschenswert. Nahezu keine Forschung gibt es zur Freizeitgestaltung von erwachsenen Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf.

Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf wird weiterhin die Teilhabe in vielen Lebensbereichen und so auch im Bereich des Wohnens verwehrt. Institutionelle Grenzen, aber auch Begrenzungen in den Köpfen von professionellen Unterstützer*innen und Angehörigen sowie Barrieren im Gemeinwesen führen dazu, dass nur inselartige, randständige und oft explizit exklusive Bereiche geöffnet oder geschaffen werden. Nur im Rahmen dieser Mikrowelten wird über Teilhabeoptionen nachgedacht; die Zugehörigkeit zum „Großen und Ganzen“ der Gesellschaft bleibt verwehrt.

Es ist Aufgabe aller Beteiligter, diese Grenzen zu verschieben, damit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf als gleichberechtigte Bürger angesehen werden, die selbstverständlicher Teil unserer Klassenzimmer, unserer Forschungsprojekte und unseres Gemeinschaftslebens sind (Nind und Strnadova 2020).

In diesem Kapitel wurde deutlich, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Ein schlichtes Eröffnen von Zugängen führt nicht gleichsam zu einem Mehr an Lebensqualität. Nur wenn die Perspektiven der verschiedenen Personen und Berufsgruppen in Teilhabeprozesse im Lebensbereich Wohnen einbezogen werden, können die oben genannten Grenzen so verschoben werden, dass attraktive, gewünschte und gewinnbringende Teilhabeoptionen für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf entstehen.