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Solidarität ist einer der Werte, die für moderne westliche Gesellschaften eine Orientierungsfunktion haben. Er findet geradezu universelle Zustimmung, und man hat eine Reihe von eingespielten Einsatzweisen: Man kann entlarven, dass die Realität dem Wert der Solidarität nicht entspricht. Man kann hoffen, dass eine solidarischere Gesellschaft kommen wird. Oder man kann befürchten, dass Solidarität durch Egoismus, Effizienzzwang oder Technologie unmöglich gemacht wird. Idealismus, Entlarvung und Kulturkritik sind eingespielte Muster der Gesellschaftskritik, und letztlich bezeugt selbst die wiederkehrende Sorge um Solidarität nur die zentrale Rolle, die Solidarität im Normhaushalt der westlichen Moderne hat.

In den letzten Jahren ist die Sorge um Solidarität stärker geworden. Sehr viele Deutsche sind beunruhigt, weil der soziale Zusammenhalt erodiere, ja gar eine Spaltung der Gesellschaft drohe. Seit geraumer Zeit machen außerdem die Gewerkschaften die Erfahrung, dass es immer schwieriger wird, Solidarität zu organisieren. Der einfachste Indikator dafür sind die Mitgliederzahlen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (2022), die seit Mitte der 1990er Jahre drastisch gesunken sind. Die Diagnose lautet Solidaritätserosion.

Auf der anderen Seite hat Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Welle der Solidarität in Deutschland ausgelöst, mit der die Idee einer Solidaritätserosion hinfällig werden müsste: Die Menschen spendeten, zeigten Flagge, demonstrierten, boten Schlafplätze und unterstützten Waffenlieferungen. Es ist zudem nicht das erste Mal im 21. Jahrhundert, dass wir eine solche Welle der Solidarität erleben. Ähnliches gab es nach dem Angriff auf das World Trade Center 2001, in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 oder am Beginn der Covid19-Pandemie.

Allerdings gelang es bisher nie, die Solidarität der Krisen in den Alltag zu retten. Oft folgten den großen Solidaritätswellen umso schärfere Konflikte, in denen Gegner:innen und Befürworter:innen von Impfungen oder Migration gleichermaßen um Solidarität warben. Es ist also weder mit der einfachen Diagnose einer Solidaritätserosion noch mit der ebenso einfachen Vorstellung einer großen solidarischen Gesellschaft getan.

Die moderne Sehnsucht nach Solidarität

Man kann die Eingangsbeobachtungen auch als Paradox formulieren: Solidarität ist eine Leitidee der modernen Gesellschaft geworden, gerade weil diese Gesellschaft ein unwahrscheinlicher Ort für Solidarität ist. Die Moderne zeichnet sich nicht durch eine enge Gemeinschaft oder fixe moralische Werte aus, sondern durch Individualismus und Mobilität. „Alles Stehende und Ständische verdampft“, hatten schon Marx und Engels (2004, S. 64) festgehalten. Im Begriff der Solidarität kristallisiert sich dann ein Bedürfnis, wahrgenommene Fehlentwicklungen der Moderne zu kompensieren. Angesichts der Ausbreitung von Individualismus, Ungewissheit und sozialer Differenzierung sehnt man sich nach moralischer Gewissheit, gegenseitiger Unterstützung und sozialer Einheit.

Deshalb war und ist Solidarität auch nicht nur die Sache der Linken. Viele christlich-konservative Akteure haben die Idee der Solidarität genutzt, um sich gegen den Ausdifferenzierungsprozess der Moderne zu stemmen. Dabei setzen sie oft die Familie ins Zentrum der Solidaritätsidee, und zwar sowohl die genealogische Familie, zu der man qua Geburt gehört, als auch die christliche Familie (Stjernø 2010). Beide geben einerseits ein Versprechen auf gegenseitige Unterstützung ab, fordern andererseits dann aber auch Pflichten und Opfer gegenüber der Familie, und beiden stehen jeweils Väter vor, die für Wohlwollen und Sanktion zuständig sind.

Das kann ins Reaktionäre kippen, wie beim spanischen Diplomaten und Philosophen Juan Donoso Cortez, dem es im 19. Jahrhundert um Blutsabstammung und die Wiederherstellung der Feudalherrschaft ging (Große Kracht 2017, S. 21–35). Einflussreicher ist aber ein Konservatismus geworden, der die Familie als sozial-moralischen Kern der modernen Gesellschaft verteidigt und sich gegen einen expansiven Sozialstaat richtet.

Im Unterschied dazu prägt die genossenschaftliche und (früh-)sozialistische Solidaritätsidee, dass sie von der Moderne ausging. Das schließt einen religiösen Bezug nicht aus, wie der französische Solidarismus zeigt, aber ihre Vertreter:innen stellten daneben empirisch eine wechselseitige Abhängigkeit fest. Dafür verwiesen sie auf sehr konkrete Phänomene, begonnen von den ökonomischen Verhältnissen über Infrastrukturen wie Eisenbahn, Brücken, Telegrafenmasten bis hin zu Epidemien, die die reziproke Abhängigkeit der Menschen erfahrbar machen würden (Große Kracht 2017, S. 190–199). Aus dieser Abhängigkeit wird dann ein moralischer Schluss gezogen, nach dem man die „natürliche Solidarität“ veredeln und „die menschliche Gesellschaft in eine Art großer Unterstützungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit umwandeln“ müsse (Charles Gide, zit. nach Große Kracht 2017, S. 38).

Die Arbeiterbewegung wiederum unterstrich, dass das moderne Versprechen der Freiheit nur durch Solidarität verwirklicht werden könne. Im Unterschied zum Konservatismus verband man Solidarität also mit einem Fortschrittsversprechen; es ging nicht darum, ältere Solidarverhältnisse in der Moderne zu konservieren, sondern eine neue solidarische Moderne zu entwerfen. Dabei half, dass die Transformation zur Moderne nun auch eine neue kollektive Struktur hervortreten ließ, die enger geknüpft war als die allgemeine gesellschaftliche Abhängigkeit: Die geteilte Lebenserfahrung der Lohnabhängigen – der gemeinsame Weg zur Fabrik, die harte Arbeit, der verbreitete Hunger, die miserablen Wohnbedingungen – all das wurde zum Ausgangspunkt einer solidarischen Gemeinschaft der Arbeiter (sic!).

Wie das konservative Pendant konstituiert sich diese Solidarität nach innen als eine Hilfsgemeinschaft, freilich auf ihre eigene Art. In Deutschland formieren sich zunächst Arbeiterbildungsvereine, die unterschiedliche Funktionen übernehmen: Sie waren Bildungsorte, organisierten Ausflüge, dienten der politischen Organisation und als Hilfskassen, die Unterstützung im Krankheitsfall gewährten (Süß und Torp 2021, S. 32 f.). Auf diese Weise wurde ein Zugehörigkeitsgefühl in eine organisierte Gemeinschaft übersetzt, aus der Parteien und später auch Gewerkschaften hervorgingen. Nach außen konstituierte sich diese Gemeinschaft über scharfe – politische und habituelle – Abgrenzung: gegen die Kapitalisten, den Klassenfeind. Solidarität ist stets Gemeinschafts- und Kampfbegriff (Bayertz 1998). Das hat Folgen.

Dynamiken der Solidarität: Selbstorganisation, Eskalation, Burnout

An den eben beschriebenen konservativ-christlich und sozialistisch-sozialdemokratischen Varianten von Solidarität lässt sich auch deren grundlegende ‚Funktionsweise‘ gut beobachten: Solidarität bezieht sich auf das Mit-Leiden mit anderen, aktiviert so ein Zusammengehörigkeitsgefühl und leitet daraus moralische Pflichten gegenüber dieser Gemeinschaft ab. Nur wer diese Pflichten erfüllt und dafür auch zu Opfern bereit ist, handelt solidarisch. Man steht gemeinsam für die gute Sache ein und kämpft im Zweifel gegen die, die ihr im Weg stehen. Darum bildet sich Solidarität häufig dann, wenn es eine geteilte Bedrohungslage gibt, zum Beispiel Massenelend oder militärische Konflikte, von denen man direkt selbst betroffen ist oder die einen betroffen machen, weil man das Leid der anderen nicht aushält.

Die Funktionsweise von Solidarität lässt sich auch an der ersten Welle der Covid-Pandemie gut studieren (August 2020a, b). Hier hatte man mit dem Virus eine äußere Bedrohung, die zunächst einmal alle gleichermaßen zu betreffen schien. Am Beginn der Pandemie stand so der Eindruck einer Schicksalsgemeinschaft, und es entstand ein lange nicht mehr gekanntes Gemeinschaftsgefühl, das sogar die Hoffnung auf eine ganz neue, solidarischere Gesellschaft aufkeimen ließ. Die neue Solidarität kam dann mit klaren Handlungsaufforderungen einher: #stayathome, #Maskenpflicht.

Solidarität stellt also eine Form zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation durch kollektive Moralität dar. Die geteilte Moral motiviert auf der einen Seite zu Eigeninitiative. Es ist das, was wir gemeinhin mit Solidarität verbinden: Nachbarschaftsinitiativen, Gabenzäune, gemeinsames Maskennähen, in jedem Fall: der Einsatz für die Gemeinschaft. Und wer sich besonders um diesen solidarischen Imperativ verdient macht, wird mit Applaus und Ehre bedacht, so wie die Ärzt:innen und Pflegekräfte im Frühjahr 2020. Auf der anderen Seite fordert Solidarität aber eben auch ein, dass man sein Handeln an den Leiden und Zielen der Gemeinschaft ausrichtet. Abweichendes Verhalten gilt als egoistisch und wird entsprechend sanktioniert, und zwar von der solidarischen Gemeinschaft selbst.

Solidarität kann durch diesen Kontrollmechanismus sehr erfolgreich Handeln koordinieren. Das haben uns die Arbeiterbewegung, die Friedens- und Hilfsaktionen während des Krieges gegen die Ukraine oder die immense Hilfsbereitschaft für die Flüchtenden im Jahr 2015 gezeigt. Entscheidend ist dabei, dass Solidarität jenseits marktwirtschaftlicher oder staatlicher Steuerungsmittel funktioniert. Das kann wiederum für den Staat überaus nützlich sein, weil er nicht Rechtszwang oder Geld aufwenden muss, um das Verhalten der Bürger:innen umzusteuern. Dieses Unterfangen ist im demokratischen Rechtsstaat ohnehin nur begrenzt möglich, weil er sonst seine Legitimität aufs Spiel setzt. Solidarität entlastet daher den Staat, und das ist ein Grund, warum auch Regierungsverteter:innen immer wieder auf Solidarität als Beschwörungsformel zurückgreifen (Wallaschek 2020, S. 22 f.).

Der Solidaritätsmechanismus hat aber auch Kosten. Denn die solidarische Gemeinschaft bildet sich unter Ausschluss Dritter. Das mussten ‚asiatisch‘ aussehende Mitbürger:innen in der Pandemie ebenso erfahren wie russische Restaurants in Deutschland während des Krieges gegen die Ukraine. Aber auch in der Arbeiterbewegung waren nicht nur Kapiteleigentümer aus der solidarischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Ungelernte Arbeiter und die Arbeiter in den Kolonien wurden kaum registriert, und selbst Frauen fanden in der Imagination der Arbeiterbewegung regelmäßig keinen Platz (Süß und Torp 2021, S. 22). Solidarität fokussiert auf eine vorgestellte Gemeinschaft, sie intensiviert das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit jenen, die man als Ähnliche, als Teil der ‚eigenen‘ Gemeinschaft anerkennt, und sie verringert darüber die Sensibilität für ‚fremdes‘ Leid (Cicchi et al. 2020; Lessenich 2020; Stürmer et al. 2006). Das ist auch ein Grund, warum in Polen und Ungarn weiße ukrainische Flüchtende unbegrenzt aufgenommen wurden, während im Mittelmeer jeden Tag Menschen ertrinken.

Dieser Ausschluss kann sich auch nach innen wenden. Wer sich nicht den Zielen der Gemeinschaft verschreibt, wer womöglich andere Lebensentwürfe oder abweichende Meinungen hat, kann angefeindet, ausgegrenzt, ja bedroht und angegriffen werden. Der Soziologe Richard Sennett (2013, S. 279) hat das als die „perverse Macht der Solidarität“ bezeichnet. Die enge solidarische Gemeinschaft schaffe eine Wir-gegen-Sie-Mentalität, die nicht nur die Kooperation mit dem Gegner abkappe, sondern auch nach innen auf Homogenisierung und Hierarchisierung dränge. Sennett verwies dafür auch auf die Geschichte der Arbeiterbewegung mit ihren zahlreichen Feindschaften und Abspaltungen.

Tatsächlich ist diese Dynamik auch in der Konfliktsoziologie gut belegt (Collins 2012; Fehmel 2020; Simmel 1992, S. 284–382). Konfliktsituationen können bei den Gruppen zu einer doppelten Eskalationsdynamik führen: Nach innen erhöht man die soziale Kohäsion, indem man auf die Einheit, das Zusammenstehen, die Geschlossenheit der Gruppe abhebt, wodurch besonders gut mobilisiert werden kann, gleichzeitig aber abweichende Meinungen immer schwieriger toleriert werden können. Diese scharfe Identitätsbildung verschärft dann nach außen die Abgrenzung zu einem existenziell anderen Gegner, mit dem Kompromiss kaum möglich erscheint. Man rüstet auf.

Nun eskaliert offensichtlich nicht jeder Konflikt, in dem sich solidarische Gruppen bilden. Es handelt sich um Tendenzen und es gibt gegenläufige Dynamiken. Zum einen sind moderne Gesellschaften nicht besonders gut darin, ‚gesamtgesellschaftliche‘ Solidarität zu erhalten (August 2020b; Holzer 2008). Unsere Gesellschaft ist hochgradig ausdifferenziert und zielt darauf, eine möglichst große Vielfalt an Handlungskontexten zur Verfügung zu stellen: Arbeitengehen, Kinobesuch, Fußballschauen, Urlauben, Essengehen usw. Diese Optionsvielfalt (und die zugehörigen Anforderungen) haben wir internalisiert, und wir sind vielleicht bereit, sie zu pausieren, aber nicht, sie aufzugeben.

Dazu kommt außerdem, dass praktische Solidarität eine hohe Emotionalität einfordert, die auf Dauer erschöpfen kann. Wer ständig für eine Sache brennen soll, brennt womöglich aus (Collins 2004): Solidaritätsburnout. Und so richtet sich nach einiger Zeit die Aufmerksamkeit auf andere Dinge. Man ist nicht mehr bereit, alles dem einen solidarischen Imperativ unterzuordnen. Wir haben das gerade erst in der Pandemie erlebt, wo viele sich nach einem Jahr gewundert haben, wie naiv man anfangs auf eine große solidarische Gesellschaft gehofft hatte.

Solidarische Bewegungen stehen damit vor einem Dilemma: Wer auf eine groß angelegte Solidarität setzt, muss einkalkulieren, dass diese nur kurzfristig aufrecht zu erhalten ist. Um langfristig Solidarität zu erhalten, müsste man eher auf kleine bzw. homogene Gruppen setzen. Damit verfehlt man aber womöglich das gesamtgesellschaftliche Ziel. Es gibt eine Strategie, die aus diesem Dilemma herausführt: Verrechtlichung und Bürokratisierung von Solidarität. In diesem Sinne sprechen wir heute bei Kranken-, Arbeitslosen- oder Rentenversicherung von einer Solidargemeinschaft.

Das hat allerdings seinen eigenen Preis. Die mächtigen Gefühle der Zugehörigkeit und Moralität, die solidarisches Handeln antreiben, werden in rationale Praktiken der Registratur, Organisation, Verteilung und Kalkulation überführt (für die Krankenkassen vgl. Börner 2021). Solidarität verliert dabei ihre Mobilisierungsfähigkeit. Die ‚heiße Solidarität‘ der sozialen Gemeinschaft wird in die ‚kalte Solidarität‘ der modernen Bürokratie überführt, sodass wir nur mit großer Mühe überhaupt noch von Solidarität sprechen.

Letztlich gewinnen Solidarbewegungen, wenn ihnen genau diese Transformation gelingt, weil damit das Anliegen tatsächlich in dauerhafte, institutionelle Praktiken übersetzt wird. Diese Transformation erfordert innerhalb der solidarischen Bewegung aber ganz andere Kompetenzen als der Aktionismus, und sie läuft zudem auf eine Selbstgefährdung der solidarischen Gruppe hinaus: Sind zentrale Anliegen einmal institutionalisiert, verringert sich die Mobilisierungskraft. Ein Problem, dass Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien nur zu gut kennen. Sie haben sich, wie es dann heißt, zu Tode gesiegt.

Konfliktkonstellationen: Solidarität in der spätmodernen Gesellschaft

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir mehrere Wellen der Solidarität erlebt, die sich um einzelne Ereignisse wie 9/11 oder die Pandemie herum kristallisierten. Diesen Ereignissen ist gemein, dass sie in der Wahrnehmung der beteiligten Akteure plötzlich von außen hereinbrachen. Demgegenüber wird ‚in‘ der Gesellschaft seit längerem eher eine Erosion von Solidarität beklagt. Man kann diesen Eindruck nun ganz einfach auf die ‚neoliberale‘ Politik schieben, die mit ihrer Vermarktlichung sozialer Sicherungssysteme und dem Kampf gegen die Gewerkschaften sicher einen entscheidenden Anteil hat. Insgesamt greift dieses Narrativ aber zu kurz. Denn der Eindruck einer Erosion von Solidarität hängt letztlich an einer größeren, mehrschichtigen Transformation, die sich seit den 1970er Jahren vollzieht, auf die die neoliberale Politik eine erste Antwort gab und die als Übergang in die „Spätmoderne“ charakterisiert worden ist (Reckwitz 2017; Rosa 2005). Diese Transformation führt in der Tat zu einer Erosion der alten Solidaritätsstrukturen, andererseits ruft sie neue Akteure und neue Konflikte um Solidarität auf den Plan.

Für die klassischen Solidaritätsakteure – also Gewerkschaften und linke Parteien – ist dabei entscheidend, dass sich der Kernbereich ihrer Solidaritätstradition grundlegend ändert: die Arbeit. Zunächst einmal ist das auf den Wandel von einer industriellen zu einer postindustriellen Ökonomie zurückzuführen. Dadurch verschiebt sich etwa das Gewicht weg von der ‚modernen‘ Montan-, Schiffs- und Textilindustrie hin zu Produkten aus Optik und Datenverarbeitung, vor allem aber hin zu Dienstleistungen, Finanz- und Wissensprodukten (Raphael 2019; Steiner 2008). Diese Arbeitsbereiche sind deutlich stärker individualisiert, insbesondere dann, wenn sie auch noch mit befristeten Verträgen oder (Schein-) Selbstständigkeiten gekoppelt werden. Digitalisierung und Globalisierung können solche Trends verschärfen.

Auch wenn damit neue unfaire Arbeitsbedingungen – und das heißt: neue Chancen für die klassischen Solidaritätsakteure – auftauchen, erschweren sich die Bedingungen für die Organisation von Solidarität. Denn während die Fabriken und Großbetriebe der Moderne wegen der ähnlichen Lebenslagen, der klaren Hierarchien und geteilten Tagesabläufe ein guter Kontext für Solidarbewegungen waren, bieten das persönliche Home-Office oder der quasi-selbstständige Lieferdienst eine denkbar schlechte Umgebung. Gleichzeitig ist aus Sicht vieler Arbeitnehmer:innen die Entwicklung nicht unbedingt schlecht: ‚Flexible Arbeitszeiten‘, ‚mobiles Arbeiten‘ und ‚New Work‘ werden aus guten Gründen begrüßt, ebenso wie bequeme und günstige Lieferservices. Sowohl die Organisationsformen als auch die normativen Erwartungen machen es den klassischen Solidaritätsakteuren also nicht leicht.

Gleichzeitig vollzog sich ein Formwandel des Politischen, in dem Parteien und Gewerkschaften an Anziehungskraft verloren und neue Organisatoren von Solidarität auftraten. Das hat nicht nur mit einer sich veränderten Sozialstruktur zu tun, die alte Milieus aufbrach, sondern auch mit einer Kritik an den politischen Organisationen der Moderne (August 2021; Boltanski und Chiapello 2013). Denn diese verlangen ein hohes Maß an Integration, Unterordnung und Anpassung an vorgegebene, bürokratische Prozesse. Dagegen wendeten sich seit den 1970er Jahren eben nicht nur neue ‚agile‘ Management-Modelle, sondern auch sozialkritische Bewegungen. Sie grenzen sich dezidiert gegen die ‚alten‘ politischen Formen ab und setzen auf themenspezifisches, kurzfristigeres Engagement und informellere Netzwerke. Sie stellen das Besondere vor das Allgemeine (Reckwitz 2017). Die Neuen Sozialen Bewegungen waren erste Vorboten dafür, dass sich solidarische Gruppen nun sehr viel stärker um besondere Issues organisieren würden – und dass jede Gruppe dann für ihr Thema Solidarität einfordern konnte.

Zudem deutete sich mit ihnen an, dass sich die Gesellschaft auf neue Konflikte gefasst machen musste. Diese Konflikte resultieren daraus, dass unsere Gesellschaft nun zunehmend mit den Kosten konfrontiert wird, die ihre Lebensweise immer schon verursacht, bisher aber verdrängt hat. Ein Beispiel ist die patriarchale Struktur der modernen Gesellschaft, die Gleichheit und Freiheit versprach, damit aber fast immer nur erwerbstätige weiße Männer meinte und zugleich die Voraussetzungen dieser Freiheit vergaß. Ein zweites Beispiel ist die strukturelle Benachteiligung des Globalen Südens, die erst aus imperialistischen Großmachtvorstellungen und dann aus der Suche nach günstigen, lukrativen Konsumgütern resultierte. Am wichtigsten ist aber, dass die moderne Gesellschaft ihre Rechnung ohne ihren Wirt – die Erde – gemacht hat: Klimawandel, Umweltverschmutzung und Biodiversitätsverlust sind Folgen der modernen Arbeits- und Lebensweise, die uns jetzt als harte, unbequeme Realität wiederbegegnen.

Diese Konfrontation der Moderne mit ihren eigenen Folgekosten zieht eine neue Konfliktstruktur nach sich, die unsere aktuellen Debatten bestimmt und sich in Konflikten um Gender-Gerechtigkeit, Kolonialismus, Rassismus, Migration, Generationengerechtigkeit und ökologische Transformation niederschlägt. Die Konfliktlinien verlaufen dann oft dort, wo neue Solidaritätsforderungen auf lange bestehende Solidarerwartungen aus der Moderne treffen. Letztere sehen sich nun einem unerwarteten Rechtfertigungszwang ausgesetzt, der sowohl die Verteilungsverhältnisse als auch die eigenen Lebensgeschichten betrifft. Dadurch kommt es zu einer wahrgenommenen Intensivierung der Konflikte: Es werden mehr Menschen mobilisiert und gleichzeitig werden die Konflikte schärfer.

Für die klassischen Solidaritätsakteure ist das eine besondere Herausforderung, weil ihre Symbole, Traditionen und Rhetoriken in den modernen Industriegesellschaften verwurzelt sind. Bei der Beschwörung gewerkschaftlicher Solidarität schwingt bis heute die Sozialromantik des Industriearbeiters oder Kohlekumpels mit (Flemming 2022). Doch natürlich sind dieser imaginierten Gemeinschaft dann auch die blinden Flecken der Moderne eingeschrieben – und vor allem die ökologische Transformation provoziert einen Konflikt um die eigene Identität, eben weil sich viele in den Gewerkschaften nach wie vor über Kohle und Stahl definieren, die nun frontal angegangen werden.

Die Führungen von linken Parteien und Gewerkschaften treibt das in ein Dilemma. Denn die Solidarität mit künftigen Arbeitnehmer:innen-Generationen steht mit der Solidarität mit den verdienten Arbeiter:innen der Moderne im Konflikt. Eine unkluge Strategie führt dann nicht nur zu einem Mitgliederverlust, sondern auch zu einer Unzufriedenheit, die sich rechtspopulistische Bewegungen zunutze machen können. Ein ähnliches Dilemma kennt man seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 beim Konfliktfeld Migration. Linke Parteien sehen sich gezwungen, zwischen nationaler Solidarität (Begrenzung der Migration) und internationaler Solidarität (offene Grenzen) zu wählen. So wie die öffentliche Debatte lief, konnte man nicht mehr einfach für beides stehen, obwohl man das doch seit jeher beansprucht hatte.

Grundlegend neu sind solche Solidaritätsdilemmata nicht. Man denke hier nur daran, dass sich die Arbeiterbewegung noch kurz vor dem August 1914 in der Zweiten Internationalen gegenseitig der internationalen Solidarität des Proletariats versichert hatte, um sich dann fast durchgehend für die Kriegskredite ihrer jeweiligen Länder und die nationale Solidarität zu entscheiden. In der Spätmoderne vervielfältigen sich diese Dilemmata aber vorerst, eben weil neue und alte Solidaransprüche aufeinanderprallen und gleichzeitig auch noch die neuen Solidaransprüche untereinander in Konflikt geraten können.

Solidaritätsparadox und die Spaltung der Gesellschaft

Die aktuelle Sorge um eine Spaltung der Gesellschaft und die starke Sehnsucht nach mehr Solidarität sind also Folge der gesellschaftlichen Transformation. Sie verändert nicht nur die Strukturen unserer Gesellschaften, wobei sich alte Allianzen auflösen und vertraute Organisationsformen erodieren, sie bringt auch neue Konflikte um das kollektive Selbstverständnis hervor. Diese Konflikthaftigkeit gilt es einzukalkulieren, statt sich den beiden einfachen Möglichkeiten zuzuwenden – kulturkritische Diagnose der Solidaritätserosion und idealistische Hoffnung auf eine allumfassende Solidarität. Jenseits unvorhersehbarer Disruptionen ist weder das eine noch das andere wahrscheinlich, wenn man die Dynamiken der Solidarität und die Konstellationen der Spätmoderne betrachtet.

Vielmehr erleben wir, wie sich Konflikte intensivieren und pluralisieren. In diesen Konflikten wünscht man sich dann auf beiden Seiten womöglich mehr Solidarität, bekommt aber gerade dadurch mehr Konflikt. Man kann das das Solidaritätsparadox nennen. In der Spätmoderne gibt es dafür großes Potenzial, weil sich Konflikte zwischen alten und neuen Solidaransprüchen entfalten. Das ist anstrengend. Problematisch werden Solidaritätskonflikte aber nur dann, wenn sie auf eine Eskalation ohne Stoppregeln abzielen, so wie man es an radikalen Querdenker:innen studieren kann.

Statt auf eine große Solidarität zu hoffen, legt das Solidaritätsparadox nahe, dass man eine öffentliche Konfliktkultur und kluges Konfliktmanagement braucht. In diesem Rahmen kann Solidarität dazu beitragen, auf Ungerechtigkeiten und kollektive Herausforderungen aufmerksam zu machen. Neben dem Aktionismus muss man dabei aber die Schattenseiten der Solidaritätsdynamik im Auge behalten und zugleich auf die Veralltäglichung und Institutionalisierung neuer Solidararrangements zielen. Solidaritätsakteure müssen also Konflikt und Kompromiss bespielen können, damit sie Aufmerksamkeit für soziale Missstände und effektive Verbesserungen für breite Gesellschaftsschichten erreichen. Für die klassischen Solidaritätsakteure kann das eine Chance sein, weil sie Erfahrung in diesem Spagat haben. Dafür muss es ihnen allerdings gelingen, die spätmodernen Konflikte in ihrem Inneren zu bearbeiten.