Zusammenfassung
Urbanität ist ein Versprechen auf ein spezifisches städtisches Leben. Dieses positiv konnotierte Bild von Urbanität als städtischer Lebensweise wurde maßgeblich an Großstädten des 19. Jahrhunderts wie Berlin, London oder Paris entwickelt. Der Beitrag richtet demgegenüber das Augenmerk auf städtische Gebilde, die selten mit dem ‚klassischen‘ Bild von Stadt/Urbanität assoziiert werden, konkret auf sogenannte Mittelstädte, Zwischenstädte oder Kleinstädte. Aus praxeologisch-alltagskulturwissenschaftlicher Perspektive wird schließlich die Angemessenheit raumanalytischer Kategorien wie „Stadt“ und „Land“ oder „Urbanität“ zur Beschreibung gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse hinterfragt.
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Notes
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Multilokalitätsforschung umfasst sehr unterschiedliche Raumnutzungsroutinen, die neben beruflich oder sozial bzw. familiär bedingten Ortswechseln auch die regelmäßig aufgesuchten Wochenendwohnsitze zumeist am Land sowie andere Reiseroutinen zwischen wiederkehrenden Räumen/Orten umfasst. Der Wechsel zwischen städtischen und ländlichen Lebensräumen hatte schon in der Praxis der „Sommerfrische“ (Schmidt-Lauber 2014) eine Institutionalisierung in Österreich erfahren, die das gesellschaftliche Leben zeitlich prägte und Ausdruck intensiver Stadt-Land-Beziehungen ist.
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Die Medien berichten verstärkt über die Orientierung eines spezifischen Milieus aufs Land: „Die Nachfrage nach Wohnimmobilien ist 2020 deutlich gestiegen, vor allem im Grünen“, liest man z. B. unter dem Bild des Artikels „Der Traum vom Landleben“, der allerdings schon 2019 erschien (Wiener Zeitung, 30. Juli 2019). Vgl. auch: „Corona hat eine Art Stadtflucht bewirkt“ (Kleilein 2021); „Immer mehr Städter ziehen aufs Land: Die beliebtesten Orte“ (Beirer und Grünbacher 2020); „Und wenn wir doch zurück aufs Land ziehen?“ (Redl 2021).
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Statt vorschnell Praktiken wie das Gärtnern oder die Kunstausstellung in eine binäre Struktur, die überholt scheint, zu gießen und entweder dem Land oder der Stadt zuzuordnen, die ihrerseits keine einheitlichen Realitäten adressieren, schlage ich vor, sich auf neue Deutungsebenen einzulassen, nach den Motiven und Praktiken der jeweiligen Lebensgestaltung sowie ihrer Bedeutung für die Akteur*innen zu fragen und daraus analytische Kategorien zu generieren.
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Schmidt-Lauber, B. (2023). Urbanität als Versprechen auf dem Prüfstand: Transformationen räumlich gebundener Lebensverhältnisse. In: Bukow, WD., Rolshoven, J., Yildiz, E. (eds) (Re-) Konstruktion von lokaler Urbanität. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39635-0_4
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