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1 Über die Herausforderung, die Wirkmächtigkeit von Daten in der Schulsteuerung zu erfassen und kritisch einzuordnen

Im Rahmen international-vergleichender Betrachtungen datenbasierter Schulsteuerung wird Deutschland oftmals als ein sogenanntes low-stakes accountability-System dargestellt und hierbei gegen Länder wie die USA oder England abgegrenzt (z. B. Grünkorn et al. 2019; Van Ackeren et al. 2012). In der Regel ist hiermit gemeint, dass in Deutschland zwar – ebenso wie in anderen Ländern – zunehmend Daten über Schulen in Steuerung einfließen (sollen), hieraus aber in den wenigsten Fällen negative, „harte“ Konsequenzen für Schulen oder Lehrkräfte erfolgen, etwa Schulschließungen oder Gehaltsanpassungen bei Lehrkräften. Im Gegenteil werden solche Konsequenzen im deutschsprachigen Diskurs wiederkehrend als massiv kontraproduktiv beschrieben, weil sie, statt die Pädagogik zu verbessern, eine Reihe nicht-gewollter Nebenfolgen produzierten, zum Beispiel gezielte Schüler*innenauswahl (Lariceno-Paquet et al. 2002) oder teaching to the test (z. B. Thiel et al. 2014).

Gleichzeitig wurde in den vergangenen Jahren zunehmend diskutiert, dass ein solches, auf „harte“ Konsequenzen fokussiertes Verständnis von high-stakes accountability und eine entsprechende Klassifikation von Deutschland als low-stakes accountability-System ihre Tücken haben bzw. irreführend sind, vor allem, wenn Bildungssteuerung über datenbasierte Rückmeldesysteme ernst gemeint und wenn gleichzeitig die wachsende Eigendynamik von Datafizierung berücksichtigt werden. So plädierten etwa Johannes Bellmann et al. (2016) in ihrer umfassenden Studie zu Nebenfolgen neuer Steuerung für ein deutlich breiteres und kritischeres Verständnis derartiger Nebenfolgen:

(1) Nebenfolgen indikatorengestützter Rückmeldesysteme entstehen nicht erst durch eine fehlende oder falsche Nutzung dieser Systeme durch die Akteure; solche Systeme sind vielmehr systematisch mit einem Risiko verbunden, neben dem gewünschten Verhalten auch die Produktion von Nebenfolgen anzureizen. (2) Nebenfolgen kommen nicht erst dann ins Spiel, wenn Akteure dem Druck der Leistungsmessung auszuweichen versuchen (etwa durch Formen des Betrugs, Window Dressing oder Klientenselektion), sondern auch, wenn sie lernen, sich dem System der Leistungsindikatoren anzupassen, indem sie ihr Handeln verstärkt an den gemessenen Größen orientieren, während nicht gemessene Größen an Bedeutung verlieren (siehe Formen der Reallokation, Coaching, Kurzsichtigkeit) […] (3) Es muss davon ausgegangen werden, dass die Einführung von Leistungsindikatoren in Organisationen mit sog. „ill-defined problems“ ein besonderes hohes Risiko birgt. Dies gilt insbesondere für professionelle Handlungskontexte, die durch eine Orientierung an vage definierten gesellschaftlichen Zentralwerten und einen hohen Grad von Unsicherheit gekennzeichnet sind. (Bellmann et al. 2016, S. 212 f.)

In diesem Sinne erscheint die starke Fokussierung auf die Rolle standardisierter Tests für eine Klassifikation als high- oder low-stakes accountability als zunehmend unzureichend (Dabisch et al. 2021). So spielen zum Beispiel auch Unterrichtsausfalldaten verstärkt eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung einer Schule als „interventionsbedürftig“ (siehe Beitrag Jarke et al. in diesem Buch, Kap. „Zur Erfassung und Modellierung der „Hinterbühne“ von Datenflüssen: Das Beispiel Unterrichtsausfall“). Ebenso ist anzunehmen, dass nicht nur die politische Gestaltung unterschiedlicher Dateninstrumente wie zum Beispiel Tests oder Inspektionen (z. B. Thiel et al. 2019), sondern ebenso die sozio-technische Beschaffenheit von Dateninfrastrukturen – zum Beispiel, wie automatisiert und in welcher Form welche Daten an die Schulaufsicht geliefert werden – einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf haben, wie Daten für Steuerungsentscheidungen (überhaupt) genutzt werden (können) (Dabisch i.E.).

Derartige Überlegungen aufgreifend verfolgten wir im Rahmen von DATAFIED im Teilprojekt eins an der Schnittstelle von Schulaufsicht und Schule (siehe Breiter und Bock 2023, in diesem Buch, Kap. „Datafizierte Gesellschaft | Bildung | Schule“) das Ziel, ein entsprechend differenzierteres Verständnis für die Wirkmächtigkeit von Dateninfrastrukturen in der Schulaufsicht – jenseits von low- oder high-stakes – zu entwickeln bzw. zu systematisieren. Mit dem Blick auf die Schulaufsicht richtete das Projekt den Fokus auf eine Personengruppe, die im Rahmen der Forschungslandschaft zu datenbasierter Educational Governance tatsächlich nach wie vor unterbelichtet geblieben ist, insbesondere was ihre konkreten Datenpraktiken angeht (für allgemeinere Forschung zur Schulaufsicht siehe z. B. Klein und Bremm 2020; Schnell 2006; Wieth 2020), während Schulleiter*innen, Lehrkräften oder auch der Schulinspektion in den letzten Jahren deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden ist (z. B. Bach et al. 2014; Bellmann et al. 2016; Heinrich 2015; Muslic 2017; Wacker et al. 2012). Gerade Schulaufsichtspersonen, so möchten wir hier argumentieren, erscheinen jedoch besonders interessant vor dem Hintergrund, dass sie nicht erst seit den umfassenden Bildungssteuerungsreformen Anfang der 2000er-Jahre (z. B. Hartong 2012) im kontinuierlichen Spannungsfeld von Aufsicht bzw. Kontrolle einerseits und Beratung bzw. Unterstützung andererseits sowie zwischen administrativen und pädagogischen Steuerungslogiken oszillieren (z. B. Dedering 2021; Hopf et al. 1980; Porschardt 1978). So ist die „untere“ Schulaufsicht – und auf diese richteten wir im Rahmen von DATAFIED den Fokus – in den deutschen Bundesländern zunächst hierarchisch „über“ der Schulleitung angesiedelt, welche sie gleichzeitig kontrollieren und umfassend beraten soll. In der Regel werden Schulen hierbei regional gruppiert und jeweils einer Schulaufsichtsperson (Beamt*in bzw. Schulrät*in) zugeteilt. Für die Kontroll- und Beratungspraktiken legt die untere Schulaufsicht wiederum den jeweiligen Bildungsministerien Rechenschaft ab bzw. ist diesen hierarchisch untergeordnet, das heißt sie erhält vom Ministerium eine Reihe von Anweisungen und Regularien – auch bezüglich der Nutzung von Daten. Gleichzeitig sind Schulaufsichtspersonen pädagogische Fachkräfte, die Anweisungen und Regularien nicht nur ausführen, sondern im Rahmen eines entsprechenden Spielraums mit einer pädagogischen Einschätzung verbinden sollen, um Schulleitungen und Lehrkräften bestmöglich mit ihrer besonderen pädagogischen Expertise zur Seite zu stehen. Wie wir im Folgenden zeigen werden, wird diese Ambivalenz der Rolle von Schulaufsicht in einer entsprechend (sogar individuell) widersprüchlichen Wahrnehmung bzw. Einbindung von Daten reflektiert.

Die komplexe Verortung der Schulaufsicht wird schließlich auch durch ihre Einbindung in weitere institutionelle Kontexte geprägt, welche mit der Hinwendung zur datenbasierten Bildungssteuerung mehr oder weniger starke Veränderungen erfahren haben, sich hierbei jedoch nochmals stark zwischen den Bundesländern unterscheiden. Hierunter fallen etwa Schulberatungsinstitute – welche zum Beispiel ein Unterstützungsmandat von der Schulaufsicht für bestimmte Schulen erhalten, an welche sich Schulen aber auch direkt wenden können – oder die insbesondere nach der Jahrtausendwende verstärkt implementierten Qualitätsinstitute – welche zum Beispiel landesweite Vergleichstests an Schulen durchführen und diese Daten für die Schulaufsicht aufbereiten. Ebenso erhält die Schulaufsicht (oftmals über Umwege) aufbereitete Daten aus anderen behördlichen Abteilungen, die beispielsweise mit der statistischen Schuljahreserhebung betraut sind und hierfür Daten aus den Schulinformationssystemen erhalten. Mit anderen Worten liegen verschiedene institutionelle Kontexte quer zu eben solchen Informationssystemen, Datenplattformen oder Portalen, in die Schulaufsichtsakteur*innen und deren Dateninstrumente jeweils unterschiedlich eingebunden werden.

Insgesamt zeigt sich also eine enorme Komplexität, Vielfältigkeit und auch Spannung, was die Position der Schulaufsicht und damit auch die Erfassung ihrer Datafizierung angeht. Das Anlegen einer Perspektive der critical data studies (siehe Breiter und Bock 2023 in diesem Buch, Kap. „Datafizierte Gesellschaft | Bildung | Schule“ sowie Macgilchrist et al. 2022) erschien in diesem Sinne vielversprechend, da ein wichtiges Ziel der Perspektive darin liegt, ebendiese Komplexität, Vielfältigkeit und Spannung zu dekonstruieren, aber auch zu systematisieren (siehe hierzu auch Hartong und Förschler 2019). Einerseits steht hierbei das Regulierungspotenzial von Dateninfrastrukturen im Fokus, andererseits aber genauso die tatsächliche Vielfalt von Datenpraktiken, die im Zusammenhang mit derartigen Infrastrukturen (ent)stehen bzw. diese immer wieder selbst hervorbringen (siehe auch Förschler et al. 2021; Selwyn 2014).

Für unsere Studie zur Schulaufsicht konzeptualisierten wir Dateninfrastrukturen dabei relativ breit, nämlich als Konglomerat diverser Strukturen, Instrumente – zum Beispiel Tests, Inspektionsberichte, statistische Berichte – bzw. Prozesse – zum Beispiel Qualitätsgespräche, Schulinspektionen, Schulberatung –, durch welche nicht nur jeweils bestimmte Sichtbarkeiten von (guter) Schule an Schulaufsichtspersonen herangetragen, sondern ebenso bereits bestimmte (Daten-)Praktiken nahegelegt werden. Gleichzeitig sind weder die geschaffenen Sichtbarkeiten noch die nahegelegten Praktiken determinierend zu verstehen. Vielmehr treffen sie auf unterschiedlichste kontextualisierende Faktoren, die letztendlich die konkrete Datafizierung prägen. Entsprechend war unser Ziel, dieses Wechselspiel sowohl heuristisch als auch empirisch zu erfassen und damit auch, inwieweit organisational definierte Schulaufsichtsprozesse in Dateninfrastrukturen „aufgehen“ oder nicht. Wenngleich sicherlich Überschneidungen sichtbar werden, so betonen wir mit einer solchen Perspektive entsprechend etwas anderes als beispielsweise ein Vergleich zwischen Formal- und Aktivitätsstruktur, also wenn etwa Datenerhebungen in der Schulsteuerung – zum Beispiel das Produzieren eines Inspektionsberichts – mit der „tatsächlichen Nutzung“ dieser Daten verglichen wird. Mit anderen Worten ging es uns weniger darum die Frage zu beantworten, ob Daten bzw. bestimmte Dateninstrumente nun „tatsächlich“ in der Schulaufsicht genutzt werden, als darum zu verstehen, „wie“ sich das hochkomplexe Regulierungspotenzial von Dateninfrastrukturen situativ manifestiert und welche Einflussfaktoren sich hierbei ausmachen lassen.

2 Methodische Herangehensweise

Vor dem Hintergrund dieser Ziele werteten wir im Kontext von DATAFIED zu jedem der vier betrachteten Bundesländer zunächst öffentlich verfügbare Materialien und Dokumente sowie bereits existierende Forschungsliteratur aus, die Aufschluss über die formalen Verfahren und Strukturen von Schulaufsicht im Allgemeinen sowie von „datenbasierter“ Schulaufsicht im Spezifischen geben. In diesem Kontext versuchten wir, Elemente von Dateninfrastrukturen – zum Beispiel unterschiedliche Dateninstrumente – zu verorten, welche größtenteils über ganz unterschiedliche Akteur*innenkonstellationen hinweg entwickelt und in die organisational definierten Verfahren der Schulaufsicht eingebracht werden. Wie im Rahmen des Beitrags Jarke et al. erläutert, arbeiteten wir für die Systematisierung dieses ersten Schrittes mit unterschiedlichen Formen der Visualisierung (beispielsweise Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Systematisierung „datenbasierter“ Schulsteuerung für das Bundesland Brandenburg

Im nächsten Schritt führten wir insgesamt acht Interviews mit zehn Personen der Schulaufsicht durch – eines mit drei Personen als Gruppe und die übrigen in Einzelinterviews. Ergänzt wurden diese Interviews durch insgesamt 17, zum Teil mit Teilprojekt zwei durchgeführte, Gespräche, unter anderem mit Personen der Schulberatung und Qualitätsentwicklung, mit Schulleitungen sowie mit Expert*innen für die behördlichen Dateninfrastrukturen, sodass insgesamt 25 Interviews als Analysegrundlage dienen konnten. Wo ein Einblick möglich war, ergänzten wir diese Materialien zusätzlich durch Analysen derjenigen Dateninstrumente bzw. -plattformen, die Schulaufsichtsakteur*innen für ihre Arbeit nutzen (können). Analytisch arbeiteten wir zunächst Themencluster sowie erste Interpretationen aus den individuellen Interviews heraus, bevor wir diese Cluster und Interpretationen im Rahmen vergleichender, interviewübergreifender Analysen überprüften und zu einer Gesamtschau synthetisierten (für eine detailliertere Darstellung der Analyseschritte; siehe Abschn. 4).

Wenig überraschend, konnten wir für alle unsere vier untersuchten Bundesländer trotz des Material- und Methodenmix immer nur Einblicke in bestimmte Ausschnitte der Schulaufsicht erhalten. Gründe hierfür waren unter anderem die stark limitierte Zeit, die Schulaufsichtspersonen gerade in Zeiten der Pandemie (siehe Macgilchrist et al. in diesem Buch, Kap. „Werkstattbericht – Ein Blick auf die Hinterbühne der DATAFIED Forschung“) für Gespräche zur Verfügung stand, aber auch starke Einschränkungen von Einblicken aufgrund notwendiger Datenschutzmaßnahmen. Derartige Einschränkungen sind im späteren Verlauf des Kapitels auch bei der Darstellung unserer Auswertungen relevant, da die Anzahl an Schulaufsichtspersonen pro Bundesland sehr überschaubar ist und damit bei einer zu detaillierten Darstellung die Anonymisierung gefährdet würde. Doch auch die generalisierten Befunde weisen auf eine Reihe interessanter Aspekte hin und eröffnen gleichzeitig vielversprechende Anschlussperspektiven.

3 Dekonstruktion der Formalstrukturen datenbasierter Schulaufsicht und erste Hinweise auf ambivalente Praktiken: Das Beispiel Brandenburg

In diesem Abschnitt zeigen wir am Beispiel des Bundeslandes Brandenburg, welche Befunde sich aus der Rekonstruktion der Steuerungskonstellation rund um die Schulaufsicht – allgemein sowie mit Fokus auf Daten – ergeben. Wie bereits kurz beschrieben, basieren diese Befunde auf öffentlich verfügbaren Materialien und Dokumenten sowie bereits existierender Forschungsliteratur, welche allesamt zunächst in einen integrierten Korpus überführt wurden. Im Anschluss wurden aus diesem Korpus sowohl die unterschiedlichen Elemente von Dateninfrastrukturen der Schulsteuerung – zum Beispiel unterschiedliche Dateninstrumente – herausgearbeitet als auch ein Versuch der institutionellen Verortung vorgenommen. Hierfür entwickelten und diskutierten wir verschiedene Formen der visuellen Systematisierung (siehe hierzu auch den Beitrag von Jarke et al. in diesem Buch, Kap. „Zur Erfassung und Modellierung der „Hinterbühne“ von Datenflüssen: Das Beispiel Unterrichtsausfall“), von denen Abb. 1 die unseres Erachtens bislang analytisch gewinnbringendste Form darstellt.

3.1 Übersicht zu Steuerungskonstellationen, Akteur*innen und Dateninfrastrukturen

Zunächst verdeutlicht die Visualisierung die bereits erwähnte hohe Komplexität von Schulsteuerung, die sich im Flächenland Brandenburg auf unterschiedliche Ebenen erstreckt. Auf der Bundeslandebene ist die obere Schulaufsicht im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport angesiedelt, wo auch das Institut für Schulqualität (ISQ) und das Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM) – welches unter anderem die Schulinspektion betreibt – verortet sind. Hier wurden und werden die politischen Leitlinien für Schulsteuerung – zum Beispiel der Orientierungsrahmen Schulqualität – aber ebenso das Schulverwaltungsprogramm ZENSOS (Zentrales System zur Online-Verwaltung von Schulinformationen) sowie verschiedene andere Dateninstrumente entwickelt, die an die darunterliegenden Ebenen für deren (lokale) Nutzung weitergegeben werden. Mit der konkreten Schulsteuerung sind dann die jeweiligen Schulaufsichtspersonen (in Brandenburg Schulrät*innen genannt) beauftragt, die in den unteren Schulaufsichtsbehörden, d. h. staatlichen Schulämtern, organisiert sind. Sie halten den direkten Kontakt mit den Schul(leitung)en und führen regelmäßige sogenannte „datengestützte“ Treffen mit diesen durch (siehe Abschn. 3.2).

An vielen Stellen weist die Abbildung des Weiteren auf eine Vielzahl von Logiken bzw. von unterschiedlichen organisationalen Entscheidungssettings hin, in denen Daten vorkommen, darunter beim staatlichen Schulamt selbst, in den Institutionen der Schulberatung (LISUM, BUSS – Beratungs- und Unterstützungssystem für Schulen und SchulaufsichtFootnote 1), im Qualitätsinstitut (ISQ), der Schulvisitation bzw. Inspektion oder auch dem kommunalen Bildungsbüro. Vermuten lassen sich hier entsprechend nicht nur ein enormer Koordinationsaufwand, sondern ebenso Spannungen bzw. ambivalente Erwartungskontexte, von denen Themen der Datenproduktion und -nutzung gleichzeitig nur ein Teil sind.

Bezüglich der Dateninfrastruktur führten sowohl die Erhebung als auch der Versuch der Visualisierung gleichzeitig zur Einsicht, dass zwar eine Vielzahl von Akteur*innen und Dateninstrumenten bzw. -prozessen ins Blickfeld gerieten, deren systematisches Zusammenspiel bzw. dateninfrastrukturelle Verzahnung jedoch an vielen Stellen unklar bleibt. Dieses Problem spiegelt im Prinzip die Dokumentenlage wider, im Rahmen derer Schulsteuerung ebenfalls primär von Akteur*innenpositionen, Funktionen bzw. Aufgaben her beschrieben wird. Entsprechend konnten wir Dateninstrumente zwar mehr oder weniger zuordnen, an mehreren Stellen erscheint diese Zuordnung jedoch wenig präzise, etwa weil die technische Infrastruktur – in Brandenburg unter anderem die Datenplattformen ZENSOS oder weBBschule – zum Teil quer zu den Akteur*innenkonstellationen und -prozessen liegt und damit auf unterschiedliche Art und Weise auf allen Ebenen wirksam wird. Anders ausgedrückt, zeigt sich, dass Akteur*innenkonstellationen und Dateninfrastrukturen nicht deckungsgleich sind, sondern an einigen Stellen durchaus auch im Spannungsverhältnis zueinander stehen, welches jedoch nur schwer visualisiert werden kann.

Die Interviewbefunde aus dem zweiten Erhebungsschritt (siehe Abschn. 4) weisen wiederum darauf hin, dass die aus den Dokumenten heraus erstellte Übersicht an wichtigen Stellen lückenhaft ist. So werden in den Dokumenten beispielsweise die datenbasierten Qualitätsgespräche zwischen Schulaufsichtspersonen und Schulleitung sowie die Gespräche mit der Inspektion behandelt, andere koordinative Treffen wie die Schulleiterdienstbesprechung jedoch nicht. Letztere spielte für die interviewten Personen jedoch eine zentrale Rolle, um die Interaktion mit den Schulleitungen zu gestalten – auch in Bezug auf Daten. Vermuten lässt sich hier, dass derartige Gespräche stärker in das Alltagsgeschäft von Schulaufsichten fallen, welche neben dezidierten „Datenanlässen“ – wie den erwähnten Qualitätsgesprächen oder Inspektionen – in den weniger formalisierten und daher in den Dokumenten weniger ausformulierten Bereich fallen. Gerade diese „Lücke“ der Formalisierung organisationaler Prozesse macht derartige Gespräche für unsere Perspektive jedoch besonders interessant.

Aber auch für die formalisierten „Datenanlässe“ wie besagte Qualitätsgespräche ergeben sich schließlich zahlreiche Hinweise auf potenziell hochgradig spannungsreiche Datenpraktiken. So stellen die Dokumente Qualitätsgespräche im Prinzip als eines der am stärksten datenorientierten Prozesse von Schulaufsicht dar, bei der Schulaufsichtspersonen regelmäßig mit Schulleitungen – bzw. Personen aus dem Schulleitungsteam – zusammenkommen, um anhand von Daten über die Schulentwicklung zu diskutieren, vergangene Entwicklungen zu resümieren sowie Aufgabenfelder bis zum nächsten Gespräch festzuschreiben. Über die letzten Jahre hinweg wurden Ziel- und Leistungsvereinbarungen als dezidiertes Instrument datenbasierter Bildungssteuerung in den meisten Bundesländern eingeführt – und finden sich entsprechend auch in sämtlichen Bundesländern des DATAFIED-Samples, wenngleich in sehr unterschiedlichem Turnus – manchmal halbjährlich, manchmal nur alle paar Jahre. In Brandenburg sehen die 2012 eingeführten datengestützten Qualitätsgespräche Zielvereinbarungen mit zweijähriger Laufzeit vor. Zwar finden sich auch in der Bildungsforschung erste Studien zum Instrument (z. B. Herrmann 2020; Schmidt und Diegmann 2018), allerdings noch kaum mit Bezug auf die konkreten Praktiken bzw. mit Bezug auf die Frage, wie sich hier Datafizierung im Detail manifestiert.

3.2 Datenbasierte Qualitätsgespräche als Beispiel für eine potenziell spannungsreiche Formalisierung von Datafizierung

Die Dokumente zur formalen Rolle bzw. zum Ablauf von Ziel- und Leistungsvereinbarungsgesprächen geben deutliche Hinweise auf eine prägende Rolle von Daten, wie im Folgenden erneut am Beispiel von Brandenburg gezeigt wirdFootnote 2 (siehe Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Formaler Prozess der datengestützten Qualitätsgespräche (DAQ) und Zielvereinbarungen. (Quelle: Eigene Darstellung der DAQ auf Grundlage der Verwaltungsvorschrift „Kernaufgaben der Schulaufsicht“ von 2012 aus Brandenburg (MBJS Brandenburg 2012), seit 2019 unverändert als Status- und Bilanzgespräche (SchuB) (Legende, siehe Abb. 1))

Zur Vorbereitung der Gespräche sind sowohl Schulleitung als auch Schulaufsichtsperson angehalten, Gesprächsthemen zu vereinbaren. Das formale Vorschlagsrecht hat hierbei zunächst die Schulleitung, während die Schulaufsichtsperson Themen ergänzen soll. Daten – zum Beispiel Ergebnisse von Visitationen, Prüfungen oder Vergleichsarbeiten – werden in den Dokumenten dezidiert als möglicher, aber nicht als notwendiger Ausgangspunkt für die Themenfindung genannt – im Rahmen der Interviews konnten wir hierzu genauere Erkenntnisse generieren (siehe Abschn. 4). Auch Ziel- und Leistungsvereinbarungen aus vergangenen Gesprächen sind für die Vorbereitung zentral, weil im Rahmen des aktuellen Gesprächs immer auch kontrolliert werden soll, inwieweit bisherige Vereinbarungen „tatsächlich“ umgesetzt wurden oder ob noch einmal „nachgesteuert“ werden muss.

Noch stärker formalisiert treten Daten in der Phase des Gespräches selbst auf: Hier wird in der Verwaltungsvorschrift von einem sogenannten „Datenkranz“ gesprochen, der von Schulleitung und Schulaufsichtsperson in das Gespräch mit hineingebracht sowie dann gemeinsam analysiert und interpretiert werden soll. Dieser DatenkranzFootnote 3 umfasst umfangreiche Daten zu Schüler*innen, schulorganisatorische Daten sowie externe Daten. Letztere sind insbesondere Daten zur Leistung der Schule etwa aus Inspektionen oder Leistungstests. Im Rahmen des Formalprozesses stehen Analyse und Interpretation der Daten „vor“ der Definition von Zielen und Maßnahmen der Schulentwicklung, die wiederum federführend von der Schulleitung definiert und umgesetzt werden, deren Einhaltung aber von der Schulaufsicht kontrolliert werden soll. Mit anderen Worten impliziert der Prozess, dass sich die Ziele und Maßnahmen, aber ebenso die Kontrollphase aus den Daten ableiten und der gesamte Zielvereinbarungsprozess damit „datenbasiert“ wird.

Wie auch die Überblicksvisualisierung wirft die Prozessdarstellung einige Fragen auf bzw. weist auf möglicherweise vielseitige Datenpraktiken sowie auf interessante Blindstellen hin. Die bereits erwähnte und in der Abbildung tendenziell ausgeblendete Vorbereitungsphase ist als eine derartige Blindstelle zu sehen; auch bleibt unklar, wie der konkrete Einbezug von Daten passiert oder wie die Brücke zwischen (welchen) Daten und den Vereinbarungen am Ende geschlagen wird. Ebenso erscheint der stark als kollaborativ skizzierte Austausch zwischen Schulleitung und Schulaufsichtsperson einer näheren Betrachtung wert, da er gegebenenfalls umfangreiche Spannungsmomente impliziert.

3.3 Zwischenfazit

Insgesamt lässt die Rekonstruktion der formalisierten Dateninfrastruktur, wie sie sich in den Dokumenten darstellt,Footnote 4 also bereits eine Reihe interessanter Einblicke und Schlussfolgerungen bezüglich der Datafizierung von Schulaufsicht zu. Es zeigt sich, dass auch in einem low-accountability-System wie Deutschland eine wachsende formale Einbindung von Daten als „Ankerpunkte“ von Steuerungssettings erfolgt ist, die eine entsprechende Wirkmächtigkeit nahelegen. Auch das Sanktionsmoment, das in der Regel mit high-stakes-Systemen assoziiert wird, findet sich zumindest im Rahmen der Formalstrukturen durchaus, wenn zum Beispiel Ziel- und Leistungsvereinbarungen zu „schlechten“ Daten mit einer entsprechenden Zielanpassung sowie einer Verbesserungskontrolle im nächsten Gespräch gekoppelt werden. Anders ausgedrückt zeichnet sich eine Wirkmächtigkeit von Daten ab, die weniger stark an die Art der Folgen für bestimmte Datenwerte und stärker an den Grad ihrer Formalisierung – zum Beispiel Häufigkeit datenbasierter Gespräche, Festschreibung, welche Daten/Plattformen für bestimme Prozesse zu nutzen sind – gekoppelt ist. Entsprechend interessant sind gerade hier Unterschiede zwischen den Bundesländern, die sich trotz länderübergreifender wachsender Datafizierung bezüglich ihrem Grad der Formalisierung sehr unterschiedlich darstellen (siehe Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Darstellung der Dateninstrumente der Schulsteuerung in den vier Bundesländern Brandenburg, Hessen, Hamburg und Bremen, eigene Recherche

Gleichzeitig scheinen sich auch bei einem hohen Grad der Formalisierung – wie im Falle der Qualitätsgespräche in Brandenburg – stets Räume für potenziell unterschiedliche Datenpraktiken sowie Relevanzzuschreibungen, das heißt für ein heterogenes „Hervorbringen“ von Datafizierung, zu eröffnen. Vermuten lässt sich, dass neben unterschiedlichen Momenten der Kontextualisierung die beschriebene Rollenvorstellung von Schulaufsichtspersonen als gleichzeitig kontrollierend und pädagogisch beratend zentral bedeutsam wird. Entsprechend wenden wir uns im nächsten Abschnitt den Interviewanalysen zu und stellen dar, wie sich dieses „Hervorbringen“ von Datafizierung manifestiert.

4 Datenpraktiken der Schulaufsicht: Von individuell-ethnografischen Einblicken zu vergleichenden Generalisierungen

Wenngleich die Interviews mit den Schulaufsichtspersonen durch einen vorab definierten Leitfaden teilstrukturiert wurden, entwickelte jedes Gespräch, welches wir führten, eine starke Eigendynamik – je nachdem, welche Perspektiven die Interviewten selbst auf die Datafizierung ihrer Praktiken eröffneten und welche Schwerpunkte sie hierbei setzten, denen wir im Rahmen der Gespräche dann stets eine Weile folgten. Gerade diese Eigenprägungen waren gleichzeitig extrem hilfreich, um die vielfachen Bedeutungen, die Schulaufsichtspersonen Daten zuschreiben, für die jeweiligen Einzelfälle zu dekonstruieren. Gleichzeitig ermöglichte diese tendenzielle Offenheit der Interviews bzw. das Einlassen auf die Darstellungsperspektiven der interviewten Personen, dass kontextuelle Faktoren in ihrer Vielschichtigkeit und Ambivalenz deutlich werden konnten.

Diese stark individualisierende Herangehensweise aufgreifend, erfolgte im Rahmen der Analysen zunächst eine detaillierte inhaltliche Auswertung der einzelnen Transkripte. In diesem Schritt wurden Transkriptabschnitte sortiert, Themencluster herausgearbeitet sowie eine erste Ebene der theoriegeleiteten Interpretation entwickelt. Abb. 4 illustriert diese erste Interpretationsebene anhand zweier beispielhafter Themencluster, die aus einem Interview herausgefiltert wurden – „Alle Daten gleichzeitig betrachten“ sowie „Daten sind multikausal“. Der kursive Abschnitt stellt dabei eine nochmals kondensierte Zusammenfassung des Themenclusters dar. Darunter folgen direkte Zitate oder inhaltliche Aussagen aus dem Interviewtranskript, die die Basis für die jeweiligen Zusammenfassungen bilden.

Abb. 4
figure 4

Beispiele aus dem ersten Analysezyklus der einzelnen Interviewtranskripte

Auf diesen ersten Analysen aufbauend, gingen wir im nächsten Schritt dazu über, die Themencluster über die Interviews hinweg zu vergleichen und sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede systematisch herauszuarbeiten. Die Bezeichnungen der Themencluster wurden im Rahmen dieser Vergleichsprozesse immer wieder überprüft, teilweise synthetisiert oder umbenannt. Nicht alle Themencluster waren dabei für jedes Interview „befüllbar“, sondern es blieben einige Leerstellen.

Insgesamt zeigte die vergleichende Analyse der Interviews, dass Schulaufsichtspersonen an vielen Stellen Bezug auf Daten nehmen und ihre eigene Tätigkeit als entsprechend „datafiziert“ wahrnehmen, auch weil es die Regularien vorschreiben. Gleichzeitig geht der Großteil der Schulaufsichtspersonen sehr differenziert mit Daten um, sodass sich ihre Perspektive nicht unter bestimmten Schlagworten – zum Beispiel „Datenfan“ oder „Datenskeptiker*in“ – subsummieren lässt. Stattdessen fanden sich in den Transkripten zahlreiche Stellen, die auf eine laufende Auseinandersetzung und situativ bedingte Einordnung von Daten hinweisen – auch in Fällen, in denen eine tendenziell starke Orientierung auf Daten vorherrscht.

Diese Auseinandersetzung mit Daten ist in manchen Fällen bewusster und auch bewusst kritisch – also dass eine Schulaufsichtsperson etwa Daten dezidiert bezüglich ihrer Richtigkeit in Frage stellt –, in anderen Fällen läuft sie eher implizit – also dass Daten zwar wahrgenommen, aber zum Beispiel in einem bestimmten Fall als irrelevant abgetan werden, weil die Schulaufsichtsperson „besser weiß“, wie es in der betreffenden Schule vor Ort aussieht. Diese Einschätzung bzw. Relevanzzuschreibung variiert dabei auch nach Datentypen: Es kann also sein, dass eine Schulaufsichtsperson Leistungsdaten als „gegeben“ anerkennt und in ihre Praktiken einbindet, während sie Unterrichtsausfalldaten bezüglich der Definition von Unterrichtsausfall im System stark problematisiert und sich daher aktiv um eine alternative Definition von Kategorien bemüht:

„[Z]um Beispiel die Schwangeren waren ja immer als krank, so, weil die im Mutterschutz oder sonst wo waren, wurden die, waren die auch als krank markiert. Das heißt, der Krankenstand war dann immer so hoch, das ist ja auch komplett Quatsch.“ (Int_SAF_01-Z124)

In der Tat stellen die Schulaufsichtspersonen über sämtliche Interviews hinweg immer wieder ihr umfassendes kontextuelles Wissen zu den Schulen in den Vordergrund – und nennen dies in manchen Fällen ebenfalls „Daten“ – welches sich allerdings zu einem großen Teil durch regelmäßige Gespräche mit den Schulleitungen oder Besuche vor Ort generiere. Das heißt auf der einen Seite müssen sich Schulaufsichtspersonen an die Regularien und formalisierten Datafizierungsprozesse – wie etwa die turnusmäßige Durchführung von Qualitätsgesprächen – halten: „Ich gehe schon nach den Daten. Muss ich ja.“. Auf der anderen Seite schreiben sie genau diesen wenig formalisierten, alltäglichen (nicht nur) schulentwicklungsbezogenen Interaktionsprozessen mit der Schulleitung beinahe durchgehend mehr Bedeutung zu, was die Generierung relevanten Steuerungswissens betrifft, wie die folgenden Zitate illustrieren:

„Wenn Sie wirklich was rauskriegen wollen, dann nutzen Ihnen die Zahlen nichts.“ (Int_SAF_07-Z15)

„Ich denke, wenn Sie ein Vertrauensverhältnis zur Schule haben, dann sagt Ihnen der Schulleiter auch, wo der Schuh drückt. Und wenn Sie das nicht haben, dann sagt er Ihnen das nicht.“ (Int_SAF_07-Z15)

„Also das hat ganz viel mit Beobachtung, aber nicht nur mit Daten zu tun. Sondern, es hat ganz viel mit Gesprächen, mit Rückmeldungen, die können ganz unterschiedlichster Art sein.“ (Int_SAF_03-Z15)

So nimmt eine der interviewten Schulaufsichtspersonen etwa die offizielle Datenübersicht über Unterrichtsausfall und Personalplanung für ihre Schulen zur Kenntnis, schreibt ihr aber tendenziell wenig Relevanz zu, eben weil sie über die tatsächliche Situation vor Ort bereits aus Gesprächen mit den Schulleitungen heraus besser informiert sei:

„Also ich kenne meine Schulen so gut, dass ich im Prinzip weiß, wo ist eine Auffälligkeit. Aber gerade bei diesen Auffälligkeiten erfahre ich das vorher von den Schulleitungen, wenn jetzt wirklich mal was Dramatisches ist. Und die Statistik sieht auch nicht so dramatisch aus, wie manchmal die Realität.“ (Int_SAF_02-Z266)

Dieses komplexe Wechselspiel aus wenig formalisierten Alltagsgesprächen bzw. Wissensgenerierungsprozessen einerseits und formalisierten Strukturen wie Dateninstrumenten oder Qualitätsgesprächen andererseits, spiegelt sich an etlichen Stellen der Interviews wider. Entgegen der nahe liegenden Annahme, dass der Spielraum der Schulaufsichtspersonen grundsätzlich kleiner bzw. Momente der kritischen Distanzierung von Daten seltener werden, je zentralisierter und automatisierter die Dateninfrastrukturen gestaltet sind, finden wir diesen direkten Zusammenhang in den Interviews nicht. Nichtsdestotrotz beeinflusst die konkrete Gestaltung von Plattformen oder Datendashboards, „wie Daten genutzt werden (können). Als wichtige Einflussfaktoren erweisen sich hierbei unter anderem das Timing, das heißt wie oft Daten (gegebenenfalls automatisch) aktualisiert werden, aber ebenso die Niedrigschwelligkeit des Datenzugangs. Wenig überraschend empfinden Schulaufsichtspersonen Daten als tendenziell relevanter – gerade auch für die Alltagskommunikation mit Schulleitungen – je (idealerweise tages-)aktueller sie sind und je einfacher sie auf diese Daten zugreifen können. Daneben ist auch die Temporalität der formalisierten Datenanlässe (zum Beispiel Qualitätsgespräche) relevant, da durch den Rhythmus der Gespräche festgelegt wird, wie oft eine formalisiert stärker geregelte Beschäftigung mit Daten (sei es per händischer Übertragung oder automatisiert) implementiert werden muss.

Das konkrete Zusammenspiel zwischen Daten aus formalisierten Dateninstrumenten und Wissen aus Alltagsgesprächen zeigt sich auch bei der Vor- und Nachbereitung der Qualitätsgespräche. Diese Phasen sind in der Tat genau dadurch geprägt, dass unterschiedliche Formen bzw. Quellen von Wissen über die Schule – von Alltagsbeobachtungen bis hin zu Ergebnissen standardisierter Leistungstests – in wiederum formal vordefinierte Gesprächsleitfäden oder -dokumente eingefügt bzw. „übersetzt“ werden müssen – und nach dem Gespräch teilweise wieder zurück. So finden sich in mehreren Bundesländern gesonderte Dokumente, die von Schulleitungen oder Schulaufsichtsperson als Grundlage für Ziel- und Leistungsvereinbarungsgespräche ausgefüllt werden müssen, aber zum Teil großen Spielraum dabei lassen, welches Wissen konkret einfließt. Gleichzeitig unterscheidet sich das technische Format stark. So müssen teilweise Word-Dateien händisch bearbeitet werden. Hier werden dann zum Beispiel auch Daten aus Plattformen abgelesen und eingetragen. Teils sind es digital ausfüllbare Dokumente, die in das zentrale Schulverwaltungssystem eingebettet und die zu einem großen Teil über automatisierte Datenschnitten verfügen. Das heißt, an diesen Stellen findet keine manuelle Übertragung durch die Schulaufsichtsperson statt. Auch hier zeigt sich also ein Einfluss der Gestaltung der Dateninfrastruktur auf die Ausgangslage von Qualitätsgesprächen, wenngleich diese Gespräche selbst dann nach wie vor sehr heterogen gestaltet werden können.

Es zeigt sich aber auch ein anderer interessanter Zusammenhang: So empfinden die von uns interviewten Schulaufsichtsperson zum Beispiel Plattformen tendenziell als hilfreicher bzw. orientieren sich auch im Alltag stärker an diesen, wenn sie sich auf die Ressourcenplanung bzw. -kontrolle der Schulen beziehen. Weniger stark scheint die Orientierung hingegen in Bezug auf pädagogische Fragen und Probleme ausgeprägt, egal wie die Dateninfrastruktur konkret gestaltet ist. Mit anderen Worten ließe sich schlussfolgern, dass administrative Aufgaben der Schulaufsicht zumindest in unserem Interviewsample deutlich stärker „plattformisiert“ erscheinen als pädagogische Aufgaben, was einen interessanten Befund in Hinblick auf die eingangs beschriebene, konfliktträchtige Doppelrolle der Schulaufsicht darstellt.

Nicht nur im Kontext der dezidierten Datenanlässe erweisen sich Interaktionen der Schulaufsichtspersonen mit anderen Institutionen als weiterer zentraler Einflussfaktor auf die Frage, wie Daten eingebunden und welche Bedeutungen ihnen zugeschrieben werden. So kommunizieren Schulaufsichtspersonen zum einen in doppelter Weise regelmäßig mit Schulleitungen – im Rahmen formalisierter Datenanlässe sowie im Alltagsgeschäft – , zum anderen auch immer wieder mit Qualitätsinstituten oder Schulberatungseinrichtungen – einzeln oder zusammen, sowie mit oder ohne die Schulleitungen. So wird etwa in einem Bundesland von einer Reihe „Eskalationsstufen“ jenseits der Ziel- und Leistungsvereinbarungsgespräche berichtet, bei der zunehmend mehr Institutionen teilnähmen, um über die Daten einer sich nicht verbessernden Schule zu sprechen und Interventionen zu beschließen. Während Daten hierbei auf der einen Seite eine zunehmend zentrale Rolle spielen – denn sie sind der Gegenstand, über den sich die Akteur*innen unterhalten – so ist auf der anderen Seite beabsichtigt, dass es mehr und mehr Perspektiven bzw. Dateninterpretationen braucht, um in Kombination mit diversem Erfahrungswissen zu guten Interventionsentscheidungen zu kommen:

„Also für mich persönlich hat das auch einen symbolischen Charakter, dass wir sagen, wir arbeiten gemeinsam und es geht um dich, liebe Schule. Und die [Inspektion] macht nichts, was wir in der Schulaufsicht nicht wissen. Und umgekehrt wir auch nicht.“ (Int_SAF_03-Z314)

Jedoch zeigt sich wiederum, dass solch enge Kooperationen zwischen Inspektion und Schulaufsicht nicht selbstverständlich sind. In einem anderen Bundesland antwortet die Schulaufsichtsperson auf die Frage, ob es Kooperation zwischen Schulaufsicht und Inspektion gebe:

„Nein, die machen ihres, ich mache meines.“ (Int_SAF_07-Z292)

Schließlich zeigten die Interviews bei fast allen Schulaufsichtspersonen – jenseits dieser zahlreichen Ambivalenzen bzw. Spannungen – eine starke Wahrnehmung der hohen Expansionsdynamik von Datafizierung (siehe hierzu auch Lewis und Hartong 2021). Je nachdem, wie kritisch Daten betrachtet werden, bewerten die Schulaufsichtspersonen diese Expansion jedoch unterschiedlich: Für die einen ist es hilfreich, immer mehr Daten zur Verfügung zu haben; für andere erscheint die Expansion als vor allem politische und damit für die Praktiken der Schulaufsichtspersonen eher wenig sinnvolle Strategie:

„Man hat jetzt die Instrumente. Es ist wie mit den Kindern. Jetzt haben sie endlich einen Sandkasten, jetzt buddeln sie wie verrückt. […] statt einen Turm zu bauen, wird gebuddelt. Das ist immer wieder das Gleiche. Irgendwann nach fünf Jahren oder sechs Jahren wird man erst merken: es hat sich auch nicht viel verändert.“ (Int_SAF_07-Z37)

In einem anderen Bundesland wies die Schulaufsichtsperson uns wiederum auf eine von uns zu dem Zeitpunkt noch nicht stark fokussierte Expansionsdynamik von Datafizierung hin, nämlich die eigene Rechtfertigungslegung der Schulaufsicht vor der Gesamtbehörde bzw. dem Ministerium:

„[A]uch unsere Leitung guckt ja auf eine aggregierte Datenlage und zieht daraus ihre Schlüsse. Also nehmen sie jetzt hochaggregiert die […] Berichte. Selbstverständlich ist es so, dass die Hausleitung aus den […] Berichten Schlüsse zieht und die ins Haus gibt.“ (Int_SAF_03-Z492)

Interessant war im Zusammenhang der Expansion schließlich auch die sich wandelnde, datenbezogene Rolle, die der Schulleitung von Schulaufsichtspersonen zumindest in zweien unserer Bundesländer zugeschrieben wird. Hiermit ist gemeint, dass diese Schulaufsichtspersonen zunehmend weniger darauf schauen, wie Daten inhaltlich ausfallen als darauf, dass die Schulleitungen in ihrer Schule selbst umfassende Strukturen der Datenproduktion und -orientierung implementieren und der Schulaufsicht gegenüber nachweisen müssen, dass diese Strukturen auch entsprechend ernsthaft genutzt werden:

„Und wir waren die letzten vier Jahre, würde ich sagen, […] weit auch damit beschäftigt, eine Akzeptanz in den Schulen bezüglich des Umgangs mit diesen Daten herzustellen. […] Also, wir haben eine Zeit lang nicht auf die Einzeldaten geguckt, sondern immer gefragt, wie ist der Umgang bei euch in der Schule mit den Daten. Wie kommuniziert ihr sie? Und dann einen Schritt weiter, was macht ihr damit, was für Schlussfolgerungen zieht ihr daraus. Und dann die ganz entscheidende Maßnahme, wie implementiert ihr eure Vorhaben und sorgt ihr eigentlich für eine Nachhaltigkeit im Umgang mit den Daten.“ (Int_SAF_03-Z106)

Wenig überraschend fanden wir derartige Expansionsprozesse in Richtung interner Datafizierung von Schulentwicklung – zum Beispiel durch die zunehmend intensive Nutzung interner Evaluationsinstrumente – vor allem in denjenigen Bundesländern des Samples, welche in Sachen datenbasierter Schulsteuerung bereits stärker formalisiert sind.

5 Zusammenfassung und Ausblick

Ziel dieses Kapitels war es, Einblicke in unsere Untersuchungen zur „datafizierten“ Schulaufsicht im Kontext von DATAFIED zu geben, konkret mit Bezug auf die Frage, wie ein differenzierteres Verständnis für die Wirkmächtigkeit von Daten erreicht werden kann, welches in der Forschung nach wie vor gängige Unterscheidungen in high- versus low-stakes-accountability zu überwinden hilft. So zeigten unsere Analysen, dass auch im low-stakes-System Deutschland Dateninfrastrukturen substanziell expandiert sind und Schulsteuerungspraktiken unterschiedlichster Akteur*innen (darunter Schulaufsichtspersonen) dabei zunehmend durchziehen. Das heißt, Datafizierung „wirkt“. Eine zentrale Rolle spielen hierbei sowohl der wachsende Grad der Formalisierung von Datenpraktiken – etwa bezüglich der Rahmung und Ausgestaltung schulischer Qualitätsgespräche – als auch die technische Beschaffenheit der Dateninfrastrukturen – etwa bezüglich der Gestaltung von Datenplattformen oder der (automatischen) „Lieferung“ von Datenübersichten an die Schulaufsichtspersonen (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Systematisierung von Datenpraktiken der Schulaufsicht zwischen Dateninfrastrukturen, Formalisierung und alltäglicher Wissensgenerierung

Gleichzeitig weist aber gerade unsere Interviewstudie darauf hin, dass Schulaufsichtspersonen auch bei stark formalisierten Datenpraktiken oder stark zentralisierten bzw. automatisierten Dateninfrastrukturen eine kontinuierliche Übersetzungsleistung leisten (müssen), um – wie sie immer wieder herausstellen – den unterschiedlichen Kontexten von Schulentwicklung gerecht zu werden. Im Zentrum dieses Narratives stehen hierbei stark ausgeprägte, professionelle Selbstverständnisse, welche sich insbesondere aus Erfahrungswissen speisen. Dies bedeutet wie gesagt nicht, dass die von uns interviewten Schulaufsichtspersonen Daten „per se“ ablehnend gegenüberstehen, aber es bedeutet, dass sie in unterschiedlichsten Momenten bewusst Einschränkungen vornehmen oder andere Schwerpunkte in der Dateninterpretation legen, als in den Dateninfrastrukturen oder Formalisierungen angelegt ist. Wie stark diese Ausgestaltung erfolgt – und wie stark dann gegebenenfalls eine „Bedrohung“ durch die wachsende Zentralisierung und Automatisierung der Dateninfrastrukturen erlebt wird – ist hierbei nicht nur von den Rahmenstrukturen des jeweiligen Bundeslandes abhängig, sondern tatsächlich hochgradig individuell. Gleichzeitig erzeugen die zahlreichen Übersetzungsleistungen, die jede Schulaufsichtsperson kontinuierlich erbringen muss, reihenweise Ambivalenzen und Spannungen, die die ohnehin spannungsreiche Rolle der Schulaufsicht zwischen Beratung und Kontrolle einerseits, Administration und Pädagogik andererseits widerspiegeln, aber auch verändern.

Zusammengefasst sehen wir eine zentrale Aufgabe zukünftiger und gegebenenfalls umfangreicherer Analysen datafizierter Schulsteuerung darin, diese vielfältigen Wechselwirkungen zwischen mehr oder weniger formalisierten Prozessen – von denen wiederum nur einige einen dezidierten Datenbezug haben – digitalen (teils automatisierten) Dateninfrastrukturen und analogen Wegen der Wissensgenerierung sowie zwischen unterschiedlichen Rollenverständnissen weitergehend zu erfassen und zu systematisieren. Wir hoffen, mit unserer Studie für derartige Schritte eine Reihe an Anregungen gegeben zu haben.