Schlüsselwörter

1 Einleitung

In den wissenschaftlichen Diskursen zur Frage der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen zeichnen sich mittlerweile eine ganze Reihe konsensueller Aspekte ab, was den Gehalt des Teilhabebegriffs und seine normativen (politischen, menschenrechtlichen) Bezüge betrifft. Nennen lassen sich hier stichwortartig u. a.

  • die Mehrdimensionalität von Teilhabe, also der Bezug auf Lebensbereiche über die Erwerbsarbeit hinaus,

  • der Fokus auf soziale Ungleichheit, ohne die Frage der Teilhabe der Bevölkerung insgesamt aus dem Blick zu verlieren,

  • die Verbindung mit Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit und damit einer reformorientierten politischen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie

  • den Subjekt- und Kontextbezug von Teilhabe, also die Betonung des Wechselspiels zwischen Menschen und den sie umgebenden Bedingungen (vgl. Bartelheimer, 2007, DVfR & DGRW, 2012).

Teilhabe wird darüber hinaus in unterschiedlicher Weise mit weiteren Begriffen verbunden bzw. von ihnen abgegrenzt, explizit von jenen, die für programmatische Zielsetzungen sozialer Reformen und deren wissenschaftliche Untersuchung relevant sind, wie Inklusion, Selbstbestimmung und Partizipation (vgl. u. a. Beck, 2016; DVfR & DGRW, 2012). Der Fokus auf die Lebenslage und damit auf das Wechselspiel zwischen makro-, meso- und mikrostrukturellen Bedingungen findet sich ebenfalls im Behinderungsmodell der ICF (International Classification of Functioning, WHO, 2001). Diese Modelle stellen in erster Linie Betrachtungsrahmen dar, die der Komplexität und Relationalität der Phänomene, um die es geht, gerecht werden und der interdisziplinären Bearbeitung zugänglich sind. Aber sie sind nicht per se forschungsleitend, weil eine Klärung der normativen Implikationen und eine Anbindung an theoretische Begründungszusammenhänge erforderlich ist. Nachfolgend sollen ausgehend von zentralen Kennzeichen der Teilhabeforschung und des Teilhabegriffs Hinweise auf Möglichkeiten der Begründung mit Blick auf die Entwicklung von Mehrebenen-Modellen als einem zentralen Merkmal der Teilhabeforschung gegeben werden. Dabei erfolgt wesentlich ein Bezug auf das Lebenslagen-Konzept nach Nahnsen (1975, 1992), weil sich hieran exemplarisch Chancen und Grenzen der Verbindung von Struktur- und Handlungstheorien und die Problematik der normativen Implikationen der Gestaltung und Bewertung von Teilhabe aufzeigen und dafür bisher wenig genutzte Potenziale des Konzepts nutzen lassen. Der Beitrag versteht sich als Diskussionsanstoß und gibt Hinweise auf einige Aspekte, die in diesem Zusammenhang relevant erscheinen, aber der weiteren Klärung bedürfen.

2 Kennzeichen des Feldes ‚Teilhabeforschung‘

Forschungsaktivitäten, die explizit oder implizit Fragen der Teilhabe thematisieren, lassen sich nach zeitlichen Ursprüngen, Themen, Richtungen und disziplinären Bezügen nicht exakt eingrenzen. Aber mit dem „Diskussionspapier Teilhabeforschung“ der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation und der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaft (DVfR & DGRW, 2012) und insbesondere mit der Gründungserklärung des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung im Jahr 2015 können Kristallisationspunkte sowohl für die Bündelung bis dahin erfolgter als auch für den Startpunkt neuer Forschungsaktivitäten benannt werden, die ein spezifischer Fokus und spezifische Interessen eint: nämlich, die Forschungslandschaft „über die Lebenslagen behinderter und chronisch erkrankter Menschen grundlegend und zukunftsorientiert weiterzuentwickeln und auszubauen“ (Aktionsbündnis, 2015, S. 2). Dies passiert im Sinne einer „Neuorientierung und Neugestaltung der deutschsprachigen Forschungslandschaft“ (ebd.) hin zu einer Forschung „im Interesse von Menschen mit Behinderungen und im Einklang mit den menschenrechtlichen Prinzipien Partizipation, Inklusion, Barrierefreiheit und Gleichstellung“ (ebd.). Dazu gehört auch, Kenntnisse bereitzustellen für „Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Träger und Personal von Einrichtungen der Unterstützungs- und Versorgungssysteme, die Interessenvertretungen und vor allem auch Menschen mit Behinderungen als Expert*innen in eigener Sache“ und zwar mit Blick auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) (UN, 2006). Dabei sei eine intersektionale Sichtweise leitend, die neben Armut und sozialer Ungleichheit, Migration und Herkunft, Sexualität, Geschlecht und Alter vor allem Behinderung und chronische Erkrankung als Risikofaktoren für Exklusion in den Mittelpunkt stelle (ebd., S. 1).

Die UN-BRK (UN, 2006) kann als entscheidender Motor für ein solches Forschungsprogramm gelten, sowohl was die normativen Implikationen als auch was den Fokus auf die Teilhabe betrifft. Erst die UN-Behindertenrechtskonvention hat dem Handlungsbedarf angesichts der gravierenden Defizite, was Kenntnisse der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung betrifft, Geltung verschafft, nämlich im Anschluss an Artikel 31 der UN-BRK, der „Verpflichtung zur Sammlung geeigneter Informationen, einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten, die (…) ermöglichen, politische Konzepte zur Durchführung dieses Übereinkommens auszuarbeiten und umzusetzen“, deutlich besser als bislang nachzukommen. Damit ist die Berichterstattung des Bundes angesprochen; tatsächlich ist es nicht allzu lange her, dass Forderungen nach Aufnahme des Themas Behinderung in die amtliche Berichterstattung des Bundes, wie sie über die Lage der Bevölkerung insgesamt und zahlreiche einzelne Gruppen seit langem besteht, ungehört verhallten (vgl. Beck, 2002). Denn der bis 2009 von der Bundesregierung herausgegebene und bis dahin so genannte Behindertenbericht war nicht mehr als eine amtliche Leistungsstatistik, bot keine Einsicht in Lebensverhältnisse und kam vollständig ohne Beteiligung der Wissenschaft und vor allem ohne die der betroffenen Menschen und ihrer Interessensvertretungen aus. Seit 2013 gibt es nun den Teilhabebericht der Bundesregierung (BMAS, 2013, 2016, 2021), der sich grundlegend vom bis dahin für jede Legislaturperiode erstellten Bericht unterscheidet. Der Teilhabebericht erlaubt Einblicke in gruppenbezogene Lebensbedingungen in Teilhabe-Dimensionen gemäß der ICF, bisher allerdings wesentlich anhand von Sekundärauswertungen der Haushaltsbefragungen des Sozio-oekonomischen Panels. Teilhabe bemisst sich hier am Vergleich mit den Daten nicht beeinträchtigter Menschen, zeigt also Unterschiede und diese auch im Zeitverlauf auf, aber es lassen sich hieraus unmittelbar weder qualitative Bewertungen noch Schlüsse mit Blick auf Ansatzpunkte der Verbesserung ableiten. Zudem werden die einzelnen Dimensionen der Teilhabe je für sich und nicht mit Blick auf mögliche Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen einzelnen Dimensionen analysiert, auch wenn sich einzelne Zusammenhänge, z. B. zwischen dem Bildungs- und dem Erwerbsstatus empirisch abzeichnen und einleitend Beziehungen zwischen einzelnen Lebensbereichen beschrieben werden (BMAS, 2021, S. 20). Innerhalb der gruppenbezogenen Daten sind aber anhand der durchgängig angelegten intersektionalen Perspektive Aufschlüsse über den Einfluss von Merkmalen wie Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund auf die durchschnittlichen Werte möglich. Wie sich jedoch die Zusammenhänge genau darstellen, was sie bewirken und welchen Einfluss Faktoren wie z. B. der Grad der Behinderung und das Alter oder aber strukturelle Bedingungen haben, kann im vorgegebenen Rahmen des Teilhabeberichts nicht untersucht werden. So werden politische Maßnahmen und Leistungen zwar dargestellt, eine weitergehende Analyse erfolgt jedoch nicht. Was den Einblick in die objektiven Lebensbedingungen, deren subjektive Bewertung und die Wahrnehmung von Barrieren betrifft, werden über die seit 2017 laufende Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung deutlich tiefere Aufschlüsse ermöglicht. Die sogenannte Teilhabebefragung wird durchgeführt vom infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft und beruht hinsichtlich des Behinderungsverständnisses und der betrachteten Teilhabe-Dimensionen auf der ICF; erste Ergebnisse wurden im 3. Teilhabebericht (BMAS, 2021) bereits aufgenommen. Neben der quantitativen, breit angelegten Befragung zu den Lebensbedingungen und zum Unterstützungsbedarf von erwachsenen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, die in eigenen Haushalten oder in Wohn- bzw. Pflegeangeboten leben, werden zudem zusätzlich problemzentrierte und narrative Interviews zu subjektiven Lebenserfahrungen durchgeführt. Die Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten und Sozialleistungen wird ebenfalls beleuchtet, eine breitere Analyse der Wirkung äußerer Bedingungen auf die Lebenssituation, einschließlich politischer Leistungen, erfolgt jedoch auch hier nicht. Sowohl an der Erstellung des Teilhabeberichts als auch der Teilhabebefragung sind Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Interessensvertretungen in beratender Funktion als Beiräte beteiligt, ebenso an den Untersuchungen zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes, die aber wiederum nicht auf die Lebenslagen, sondern auf Steuerungs- und Umsetzungsfragen der Leistungen selbst bezogen sind.

Neben dieser Form politisch gesteuerter Teilhabeforschung haben sich zahlreiche Forschungsaktivitäten an den Hochschulen explizit unter dem Namen Teilhabeforschung entfaltet, und das trotz teilweise erheblicher Probleme der Drittmitteleinwerbung und in Bezug auf die Stellensituation bzw. die Kapazitäten an den Lehrstühlen, um Forschungsaktivitäten durchführen zu können. Kennzeichnend ist eine große Heterogenität, was die beteiligten Wissenschaftsdisziplinen betrifft. Das Feld erstreckt sich von der Pädagogik bei Behinderung über die Rehabilitations- und Gesundheitswissenschaften bis zu den Disability Studies. Hinzu kommen Forschungsaktivitäten innerhalb von Soziologie, Psychologie, Medizin, Philosophie, Recht, Gender Studies. Selbst wenn man sich nur auf das engere Feld von Rehabilitationswissenschaft und (Rehabilitations-, Sonder- und Behinderten-) Pädagogik bezieht, divergieren bei vergleichbarer Zielsetzung die jeweilig vorrangigen Forschungsrichtungen und Problemstellungen ebenso wie die Leitbegriffe, denkt man z. B. an die auf den Schulbereich ausgerichtete Sonderpädagogik mit ihrer deutlich stärkeren Orientierung am Inklusions- als am Teilhabebegriff. Diese Heterogenität spiegelt sich in den zahlreichen unterschiedlichen Fachgesellschaften und Fachzeitschriften wider; auf der Ebene der Praxis besteht eine teils stark spezialisierte und auch separierte vielfältige Landschaft beteiligter Professionen, Dienste, Einrichtungen, Verbände, Interessensvertretungen, Rechtsgebiete und Zuständigkeiten der Leistungsträger. Die Heterogenität der Perspektiven in Theorie und Praxis bezieht sich sowohl auf das Verständnis von Teilhabe bzw. der Leitziele als auch auf den jeweiligen Fokus, der auf die Lebenslage gerichtet wird.

Wenn man davon ausgeht, dass nur eine mehrdimensionale, d. h. somatische, psycho-soziale und gesellschaftliche Faktoren umfassende Sichtweise der Komplexität von Beeinträchtigung und Behinderung Rechnung trägt und das zentrale Merkmal von Behinderung die erschwerte Teilhabe ist, dann lassen sich Fragen der Lebensführung und Lebensbewältigung weder in der Theorie und Empirie noch in der Praxis auf streng getrennte und spezialisierte ‚Interventionsbereiche reduzieren. Unter einem Dach von Teilhabeforschung müsste diese Heterogenität vielmehr in Inter- und Transdisziplinarität überführt werden. Röbbecke (2005, S. 40) geht davon aus, dass es kein „gemeinsam geteiltes Verständnis“ der Begriffe Interdisziplinarität, Multidisziplinarität und Transdisziplinarität gibt und es dies auch erschwere, „ein Forschungsfeld als interdisziplinär oder multidisziplinär zu charakterisieren“. Sie spricht von interdisziplinärer Kooperation und für deren Analyse sei vor allem „das Maß der gegenseitigen Abhängigkeit bedeutsam – also das Maß der Integration von theoretischen Ansätzen und Methoden“ (ebd.), das das Zusammenwirken fördert. Theoretische Begründungszusammenhänge und Konzepte müssen hier so etwas wie ‚Brücken‘ bilden können, damit Anschlüsse zwischen den Disziplinen möglich und Übergänge sichtbar werden. Mit dem Begriff der Teilhabe hat die Auseinandersetzung um Behinderung eine Perspektive gewonnen, die das gewandelte Verständnis von Behinderung auf den Punkt bringt und den unterschiedlichen Bemühungen eine Richtung vorgeben kann. Inwieweit Aktivitäten so gebündelt werden können, dass sich Schwerpunktbildungen abzeichnen, die großen Forschungsdesiderate bearbeitet werden und Anschlüsse auch an internationale Forschungszusammenhänge möglich sind, hängt auch davon ab, inwieweit die konstitutiven Begriffe den Gegenstandsbereich so verdeutlichen, dass sie konzeptionell für die Forschung leitend werden können und das interdisziplinäre Zusammenwirken ermöglichen.

3 Teilhabe als programmatisches Leitziel: Gehalt und normative Bezüge

Der Teilhabebegriff übernimmt, teilweise für sich stehend verwandt, teilweise auch in einer Reihe mit Inklusion, Partizipation und Selbstbestimmung genannt, eine Funktion als Leitbegriff für Aktivitäten und Leistungen der Politik und der Praxis. In der ICF (WHO, 2001) hebt er auf das Einbezogensein in Lebensbereiche ab; im Teilhabebericht 2021 leitet der Begriff neben dem Lebenslagenkonzept grundlegend die Darstellungen und zwar der UN-BRK folgend im Sinne der vollen und wirksamen Einbeziehung in die Gesellschaft mit der Betonung auf der sozialen Zugehörigkeit und Risiken des Ausschlusses (BMAS, 2021, S. 28). „Teilhabe [im Original kursiv] ist dann gegeben, wenn eine Person sozial eingebunden ist, d. h., wenn individuelle und umweltbezogene Faktoren es ermöglichen, dass die Person die sozialen Rollen, die ihr wichtig und ihrer Lebenssituation angemessen sind (z. B. in der Familie, im Beruf, in der sozialen, religiösen und politischen Gemeinschaft), auch einnehmen und zu ihrer Zufriedenheit ausfüllen kann. Teilhabe basiert also auf individuumsbezogenen Voraussetzungen (z. B. Fähigkeiten) und gesellschaftlichen Voraussetzungen (z. B. Arbeitsbedingungen)“ (DVfR & DGRW, 2012, S. 4). Aus dieser normativen Bestimmung von Teilhabe resultiert für die AG Teilhabeforschung der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) und der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW) ein primärer Fokus der Forschung auf die soziale Einbindung in unterschiedliche Lebensbereiche, auf das aktive Subjekt und auf die Handlungsebene in ihrer Abhängigkeit von äußeren Faktoren: „Forschung mit dem Fokus Teilhabe legt besonderen Wert darauf, das Umfeld sowie die Eigenaktivität und das Selbstverständnis der Person in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten zu verstehen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich der Handlungsspielraum der Person über die Kontextfaktoren positiv beeinflussen lässt“ (ebd.). Eine enge Verbindung zu Selbstbestimmung, die in dieser Begriffsbestimmung neben der Einbeziehung in Lebensbereiche deutlich wird, besteht ebenfalls im Bundesteilhabegesetz (BTHG; Fuchs et al., 2012). Der Bezug auf den Begriff Handlungsspielraum als mit dem Lebenslagen-Konzept verbundener Begriff findet sich auch im Teilhabebericht (BMAS, 2021, S. 19), ebenso bei Bartelheimer (2007), hier auch mit Blick auf die Verwirklichungschancen nach Sen (2000).

In rechtlichen Zusammenhängen gilt Teilhabe als „unbestimmter Rechtsbegriff“ (Bartelheimer, 2007, S. 8), dessen Gehalt und dessen Reichweite (ab wann spricht man von Teilhabe und ab wann von Ausgrenzung?) historisch relativ und immer wieder neu zu bestimmen ist. Tatsächlich liegt der Fokus auch im Rechtsverständnis auf der individuellen Lebensführung. Teilhaberechte stellen auf die Gewährung von Rechten und Leistungsansprüchen für den Einzelnen ab; soziale Rechte und soziale Leistungen sollen die Ansprüche der Sozialgesetzgebung, wie sie im Sozialgesetzbuch I (Mrozynski, 2019) beschrieben werden, sichern. Als Begriff findet sich Teilhabe in § 10 SGB I und in § 34 SGB XII (Flint, 2020), aber auch im SGB II und er ist in der geplanten Neufassung des SGB VIII (Ziegler, 2016) vorgesehen. Die einstigen ‚besonderen Lebenslagen‘ im Sozialgesetzbuch XII stellten Risikolagen für Ausgrenzung dar. Das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX, Fuchs et al., 2012) stellte im Titel „Gesetz über die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ den Anspruch der Sicherung von Lebenschancen, also den Zugang zu Gütern und Handlungsfeldern der Gesellschaft, die für die Lebensführung wichtig sind, heraus. Der Teilhabebegriff im SGB XII und im SGB II bezieht sich aber auf ein Mindestmaß an menschenwürdiger Lebensführung (Existenzminimum), während das Bundesteilhabegesetz (BTHG) darüber hinausgeht und die „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ (§ 1 BTHG, Bundesgesetzblatt, 2016) sowie die Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigung in den Fokus rückt. Die Rechtsnormen heben somit ebenfalls auf Ausgrenzungsrisiken und den Einbezug in Lebensbereiche ab, die Form und die Qualität des Einbezugs bleiben aber jenseits des Verfügens über Sozialgüter im Rahmen des Existenzminimums offen. An anderen Stellen der Sozialgesetzgebung wird von Teilnahme gesprochen, z. B. im Sozialgesetzbuch VIII (Marburger, 2019) mit Blick auf Partizipation (Beteiligung) und Mitgestaltung. Die verfassungsrechtliche Unterscheidung zwischen Teilhabe- und Teilnahmerechten kehrt wieder in der demokratietheoretischen Unterscheidung von Teilhabe und Teilnahme (Schultze, 2007; Schnurr, 2018). Dies verweist auf eine wichtige Differenz: Teilnahme bezieht sich auf die Mitgestaltung und aktive Beteiligung des Individuums. Mit dem Teilhabebegriff ist also die Teilnahme nicht gleich zu setzen und die damit aufgeworfene Frage der Beteiligung und deren Art und Weise mit dem Begriff nicht automatisch umfasst. Welti (2008) arbeitete heraus, dass bereits im SGB IX durch die dort eingeräumten Mitgestaltungsmöglichkeiten auch eine politische Dimension enthalten ist. Sie ist aber weder konstitutiv für das Grundverständnis des SGB IX an sich noch für das BTHG, auch wenn der Mitbestimmung hier noch mehr Bedeutung zukommt. Auch ist mit der Vergabe von Rechten und der Gewährung von Leistungen nicht gesagt, dass auch eine Teilnahme erfolgt, also der Adressat der Leistung sein Recht wahrnimmt und ob und wie er dann tatsächlich aktiv an Feldern der Lebensführung teilnimmt. Der Teilhabegriff impliziert somit m. E. nicht automatisch die Art und Form der Beteiligung, ist nicht mit demokratischer Beteiligung gleichzusetzen bzw. ist diese nicht selbstredend einbegriffen.

Was die Bewertung von Teilhabe betrifft, sind die auf der Gesetzesebene differierenden Maßstäbe („Mindestmaß an menschenwürdiger Lebensführung“ oder „volle und wirksame Teilhabe“), nicht ohne weitere normative Klärungen und theoretische Begründungszusammenhänge zu bestimmen. Vom anderen Ende her gedacht werden Risiken der Teilhabe bzw. Ausgrenzungsrisiken vorrangig an Schwellenwerten der Unterversorgung festgemacht, wie sie in der Sozialberichterstattung, z. B. im Armuts- und Reichtumsbericht (Voges, 2003; BMAS, 2017) intensiv diskutiert werden. Diese Schwellenwerte beziehen sich aber auf gruppenbezogene, nicht auf individuelle Möglichkeiten der Lebensführung und lassen auch den Aspekt der individuellen Nutzung und Wirkung außer Acht. Aber bereits auf dieser Ebene stellt sich neben der Frage der Auswahl der Indikatoren das Problem, „wo die Schwelle angesetzt wird, um im jeweiligen Bereich zwischen ‚normaler‘ oder ‚guter‘ Lebensqualität einerseits und ‚prekärer‘ Lebensqualität bzw. ‚Unterversorgung/Deprivation‘ andererseits unterscheiden zu können. Die Schwellen, die sich von der Datenlage her anbieten, sind je nach Indikator unterschiedlich klar […], sodass auch eine Definition, ab wann eine Lebenslage als ‚benachteiligt‘ gelten soll, durch die Qualität der verfügbaren Daten begrenzt wird“ (Engels, 2006, S. 7). Der Begriff der Benachteiligung verweist auf soziale Ungleichheit und damit auf gesellschaftliche Verhältnisse als Ansatzpunkt der Veränderung. Reumschüssel-Wienert (2017) stellt in diesem Zusammenhang in kritischer Absicht heraus, dass der Teilhabebegriff die soziale Frage als Bezugspunkt der Beurteilung gesellschaftlicher Zustände abgelöst habe. Der Fokus der vorgestellten Begriffsbestimmungen liegt tatsächlich auf der Lebensführung des Einzelnen, aber Kontextfaktoren werden immer gleichrangig mitbenannt. Neben Art und Qualität des Einbezugs zeichnet sich dennoch in der Frage, welche äußeren Einflüsse thematisiert werden und wo die Ansatzpunkte der Gestaltung liegen, Klärungsbedarf ab. Auf der Ebene der Praxis kehrt diese Kritik an der normativen Zielrichtung des Teilhabebegriffes in den Auseinandersetzungen zur Einführung des Teilhabebegriffes in das SGB VIII wieder (u. a. Ziegler, 2016) wo eine individualisierende Verengung der bisherigen, auf Sozialisation, soziale Problemlagen und soziale Verhältnisse gerichteten Perspektive und ein Verlust der bisherigen Bedeutung der demokratischen Partizipation im Rahmen der Erziehungshilfen moniert wird.

Die bis hierher skizzierten normativen Implikationen werden durch die UN-BRK (UN, 2006) nochmals verstärkt: erstens wird mangelnde Teilhabe auf die Frage bezogen, ob und in welcher Form es sich dabei um Menschenrechtsverletzungen handelt. Zweitens erzwingen die Normen der UN-BRK Konsequenzen: das, was Teilhabe immanent ist, nämlich dass es um Wirkungen geht, die auf die Lebenslage entfaltet werden sollen, wird mit den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechten deutlich gestärkt. Die Wirksamkeit, Vielfalt und Angemessenheit der Maßnahmen sind hierauf, auf die Erhöhung der Optionen für die Lebensführung im Sinne der Selbstbestimmung, zu beziehen; genau so ist auch die Wirkungsorientierung im BTHG zu verstehen (Engel & Beck, 2018). In das Wechselspiel zwischen Individuen und ihr Umfeld sind deshalb auch die Maßnahmen einzubeziehen, die zudem eine klare normative Ausrichtung haben sollen. Die Zivilrechte wiederum rücken Anti-Diskriminierung und bürgerliche Freiheitsrechte ins Zentrum. Daraus ergibt sich auch die Frage der Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen an der Forschung und letztlich auch, inwiefern Teilhabeforschung selbst politisch ist. Drittens geht mit dem Menschenrechtsbezug eine globale Perspektive einher. Die Frage der Menschenrechte geht einerseits aus von Not, Elend, Flucht, Krieg – und Ursachen wie Folgen von Behinderung stehen damit in Zusammenhang; andererseits geht es nach Frank Nullmeier aber auch „um weltweite Standards eines guten Lebens und eines guten Gemeinwesens“ (2016, S. 11). Die bisher aufzeigten Bezüge verdeutlichen, dass dem Verhältnis zwischen Theorie, Empirie und Normativität in der Teilhabeforschung eine herausgehobene Bedeutung zukommt.

4 Ansatzpunkte für konzeptionelle Klärungen mit Blick auf Mehrebenen-Untersuchungsdesigns

4.1 Teilhabe als sozialpolitisches Kernproblem: Erhöhung individueller Lebenschancen durch kollektive Verteilung!?

Sowohl dem Begriff der Teilhabe, als auch dem der Partizipation, der Inklusion, sozialen Ungleichheit, Behinderung und Lebenslage unterliegt ein Reformwert (vgl. Weisser, 2012); sie alle weisen auf Problemlagen und deren Veränderung hin. Hopmann (2021) hat am Beispiel von Inklusion und dem Ansatz der Verwirklichungschancen (Capabilities Approach; Sen, 2000; Nussbaum, 2011) herausgearbeitet, dass und inwiefern diese Begriffe nicht nicht-normativ sein können, weil immer deskriptive und normative Anteile miteinander verwoben seien. Es stelle sich also nicht die Frage, ob diese Konzepte mit normativen Maßstäben einhergingen, sondern welchen Begründungen sie folgen (Hopmann, 2021, S. 88). Aus der Unmöglichkeit, normative Aspekte zu hintergehen, leitet sich für die Theoriebildung, -begründung und für die Forschung ab, dass die unterliegenden Normen zunächst aufgedeckt werden müssen, damit man sie und die damit in der Regel verbundenen Spannungsfelder weiter klären und bearbeiten kann. Das bedeutet konkret, dass die Normen und Entscheidungen bzgl. des Entstehungszusammenhangs des Problems, das wissenschaftlich gelöst werden soll, aufgedeckt und dann reflektiert werden müssen. Im Begründungszusammenhang selbst gilt es dann, „ideologische Verzerrungen auszuschalten und intersubjektive Überprüfbarkeit anzustreben. Die Begegnung zwischen Wissenschaft und Werturteil muss ausgehalten werden“ (Thimm, 1972). Theorien sind Vermutungswissen, besitzen vorläufige Gültigkeit, müssen revidierbar sein. Das sind sie nur, wenn sie systematisch und logisch geklärt, nachvollziehbar sind, der Selbst- und Fremdkritik sowie der Evaluation ausgesetzt werden, auch um Immunisierung oder Ausblendung bereits entwickelter Entwürfe zu verhindern. Dennoch stellt jede Problemwahl im Forschungsprozess eine bestimmte Auswahl, einschließlich blinder Flecken dar, sie erfolgt also bereits normativ. Zwischen Erkennen und Werten kann so verstanden auch kein reiner, sondern nur ein hypothetischer Unterschied gemacht werden. Gleichzeitig kann eine kritische Wissenschaft nur in einem offenen demokratischen gesellschaftlichen Rahmen erfolgen, was wiederum Folgen für die Verpflichtungen der Wissenschaft hat. Selbst eine sehr offen gehaltene Verpflichtung zur Verbesserung gesellschaftlicher Wirklichkeit ist eine normative Setzung in reformerischer Absicht. Hier geht es um den Verwendungszusammenhang der Forschung, also wozu sie beiträgt oder beitragen soll (vgl. hierzu ausführlich Beck & Jantzen, 2004). Eine Bestimmung des zentralen Problems von Teilhabe lässt die normative Problematik klarer hervortreten und diese Offenlegung kann dann der Klärung sowohl von möglichen Anschlüssen auf der Ebene der theoretischen Begründungszusammenhänge als auch der Frage des Verhältnisses zwischen der Wissenschaft bzw. der Forschung und der (politischen) Gestaltung von sozialen Verhältnissen dienen. Eine solche Bestimmung hat Christian von Ferber bereits 1977 in seiner grundlegenden und m. E. für den hier skizzierten Zusammenhang noch immer relevanten Analyse des Verhältnisses von Soziologie und Sozialpolitik unternommen. Als Kernfrage der Sozialpolitik sieht er das Verteilungsproblem an und damit steht Teilhabe als sozialpolitische Norm in engstem Zusammenhang, weil es um die Steuerung von Lebenslagen durch die Herstellung und Verteilung von Sozialgütern (von Ferber, 1977, S. 30) geht, nicht nur, aber besonders für „Personenkreise in spezifischen Situationen“ (ebd., S. 31). Dafür muss ein Prozess der Anerkennung und Durchsetzung von Ansprüchen durchlaufen werden, also der Problemformulierung und der Problemnormierung und diesen Prozessen liegen im Kern Konflikte in der Frage der Interessensartikulierung und -durchsetzung zugrunde. Auf die Durchsetzung folgt die Verteilung von Gütern für Gruppen, denen „Standards für die Lebenslage“ (ebd.) und damit ein bestimmtes Maß an materiellen, aber auch immateriellen Gütern (wie Bildung oder Kultur) garantiert werden. Diesen Garantien entspricht nach von Ferber aber „nur dann eine gesellschaftliche Realität, wenn sie in der Dimension körperlich/zeitlicher Existenz festgemacht werden. Wirklich ist nicht die sozialpolitische Zielgruppe – diese ist eine wissenschaftlich-verwaltungsbezogene Konstruktion –, wirklich ist die körperlich/zeitliche Existenz von Personen, deren Lebenssituation auf die Standards von Sozialgütern bezogen und von dorther interpretiert wird“ (ebd.). An der Verbesserung der bei einer Person bestehenden Problemlage müsste sich die Leistung messen lassen, der Bezug auf „das Hier und Jetzt konkreter Personen und ihrer Bedürfnisse ist unverzichtbar“ (ebd.). Das zentrale Problem der Sozialpolitik entsteht so nach von Ferber weniger mit auf Kollektive hin entworfenen und bezogenen Maßnahmen und Leistungen, „sondern mit den Individuen, die eingebunden in den Stoffwechsel mit der Natur und auf einen irreversiblen Zeithorizont fixiert wesentliche Lebenschancen aus der gesellschaftlichen Produktion als Sozialgüter erhalten“ (ebd.). Damit kann sich aber weder die Zielsetzung noch die Wirkung der Leistungen nur an objektiven, auf die Bevölkerung insgesamt oder auf Bevölkerungsgruppen bezogenen Maßen der ‚Versorgung‘ bemessen, was wiederum Folgen für die Problemformulierung und die Steuerung hat. Zwischen die makrostrukturelle Steuerung und die individuelle Situation treten zudem die Leistungserbringer, die beteiligten Organisationen und Professionen (ebd., S. 30), sodass vor allem dort, wo es nicht um Geld- oder Sachleistungen, sondern um personenbezogene Dienstleistungen (grundlegend hier: Gross & Badura, 1977) geht, die Umsetzung indirekt erfolgt und einer Vielzahl von Bedingungen unterliegt, die auch zu Schnitt- und Bruchstellen in der Umsetzung führen (Beck, 1994; Beck & Greving, 2012). Wenn es also um Lebenschancen des Einzelnen geht, müssten diese mesostrukturellen Bedingungen und ihre Wirkung miteinbezogen werden.

Tatsächlich lenkt der Teilhabebegriff durch seinen Subjekt- und Kontextbezug den Blick genau auf diese konkreten sozialräumlichen, mikro- und mesostrukturellen Bedingungen, in deren Rahmen sich die Wirkungen entfalten. Teilhabe kann deshalb als Anzeiger der Wirkung von Leistungen (Sozialgütern) verstanden werden und zwar bezogen auf ein Verständnis der Verbesserung von Lebenslagen im Sinne von Nahnsen, 1992, als den Handlungsspielräumen des Einzelnen für eine selbstbestimmte Lebensführung. Für die Teilhabeforschung folgt daraus, dass sich der Fokus von der Makroebene der politischen Steuerung und von gesellschaftlichen Teilsystemen über die Meso-Ebene von Institutionen, Organisationen, Infrastrukturen bis auf die Mikro-Ebene der alltäglichen Lebensvollzüge und die Frage, wie Menschen ihr Leben gestalten und bewältigen können, erstreckt, dass es vor allem um Wechselwirkungen, Einflüsse und Beziehungen geht und dass Teilhabe mehr umfasst als Stufen und Formen von In- oder Exklusion in gesellschaftliche Teilsysteme.

Bereits von Ferber hat hier darauf hingewiesen, dass für „sozialwissenschaftliche Theorien im weitesten Sinne […] das Problem der Gewichtung von Mikro- und Makrobereich [entsteht] und eine Aufspaltung, die den Gegenstandsbereich nur je aus der spezifischen Perspektive (also entweder handlungs- oder strukturtheoretisch) konstruiert, die „fatale Konsequenz“ habe, „daß es – von seltenen Ausnahmen abgesehen – (Norbert Elias) [im Original kursiv] bisher nicht überzeugend gelungen ist, Gesellschaftsprozesse und [im Original kursiv] individuelle Lebenslagen miteinander zu verknüpfen“ (von Ferber, 1977, S. 26). Die analytische Trennung der verschiedenen Ebenen und die Bearbeitung anhand je unterschiedlicher Theorien sei eine Hilfskonstruktion und dürfe nicht einer „Bearbeitung der Probleme im Wege (stehen), in denen individuelle Lebenschancen durch makrosoziale Zusammenhänge gestaltet werden“ (ebd.). Eine einheitliche Theoriebildung steht tatsächlich bis heute aus; allerdings haben soziologische Ansätze wie der von Elias dazu geführt, dass es nicht mehr darum geht, ob man entweder struktur- oder aber handlungstheoretische Ansätze verfolgt, sondern wie sie zueinander in Beziehung stehen. Es spricht m. E. deswegen nichts gegen den Einbezug unterschiedlicher Theorien, aber es ist wichtig, dass Anschluss-Stellen an die jeweilige andere Perspektive (z. B. im Verhältnis von meso- zu mikrologischen Aspekten) vorhanden sind und es einen gemeinsamen Bezugspunkt gibt, der den Fokus auf die Problemstellung und deren Analyse und Interpretation leitet. Dies gilt umso mehr, weil diese Ebenen nicht (mehr) hierarchisch über- oder beziehungslos nebeneinander zu denken sind; vielmehr geht es um komplexe Gefüge von mehr oder weniger direkten oder indirekt wirksamen Einflüssen und von Wechselwirkungen. Eine entscheidende Stelle, um solche Verbindungen zwischen Handlungs- und Strukturtheorien herzustellen, ist m. E. der Einbezug der mesostrukturellen Ebene des unmittelbaren räumlichen und sozialen Umfelds von Menschen und der Organisationen als den konkreten Schaltstellen der gesellschaftlichen Teilsysteme. Diese Ebene wird bei von Ferber nicht explizit angesprochen, aber sie stellt dort, wo es um die Umsetzung von Ansprüchen geht, genau die Schaltstelle dar, an der makrostrukturell normierte Leistungsansprüche auf konkrete Bedarfslagen treffen und sich die Frage der Umsetzung und Herstellung einer bedarfsgerechten Leistung und deren Inanspruchnahme und Wirkung stellt. Verbindungen lassen sich hier entsprechend in beide Richtungen herstellen: einmal mit Blick auf das Verhältnis zwischen der Problemformulierung und -normierung sowie der Implementation und Steuerung auf der Makro-Ebene und der Umsetzung und eigentlichen ‚Herstellung‘ der Leistung, die einen Bedarf erfüllen soll auf der Meso-Ebene; und zum anderen zwischen der Meso-Ebene und der Seite der Adressat*innen mit ihren konkreten, sozialräumlich geprägten Bedingungen der Lebensführung. Für sie geht es im Kern darum, materielle und immaterielle Bedürfnisse angesichts eingeschränkter Möglichkeiten der selbstbestimmten Gestaltung der Lebensführung mit ihren je spezifischen Anforderungen und Belastungen erfüllen zu können. Die Meso-Ebene kann als Brücke zwischen makro- und mikrotheoretischen Ansätzen fungieren.

Entsprechend erstrecken sich auch Forschungsfragen nach der Implementation und nach der Wirkung, die für Teilhabe-Forschung einen besonderen Stellenwert haben, von der Makro- über die Meso- bis zur Mikro-Ebene. Forschungsbedarf besteht klar auch für jede Ebene an sich, z. B. was Daten betrifft, die nicht nur Einblick in Lebensbedingungen oder durchschnittliche Vergleichswerte geben, sondern Risiken und Ausgrenzungen angeben und dies mit Blick auf Konstellationen, die durch das Zusammenwirken der Teilhabe-Dimensionen entstehen. Was qualitative Untersuchungen zu Lebensführung und Lebensbewältigung betrifft, besteht hier ebenfalls noch erheblicher Forschungsbedarf, u. a. fehlen narrativ-biografische, auch Längsschnitt-Untersuchungen und Untersuchungen zu Entwicklungsverläufen in unterschiedlichen Settings. In jedem Fall müsste aber Teilhabeforschung, wenn man davonausgeht, dass es dabei um Wirkungen auf Lebenschancen geht, noch darüber hinausgehen und Aufschluss über Einflüsse struktureller und sozialer Kontextfaktoren auf die individuelle Lebensführung und -bewältigung geben, bis hin zu Steuerungs- und Umsetzungsfragen, zur Frage der Inanspruchnahme von Rechten und den Zugang zu Leistungen. Grundsätzlich besteht aber ein besonders gravierendes Defizit an Wissen, was die eigentlich mit Teilhabe angezielten Möglichkeiten der Verbesserung von Handlungsspielräumen der Menschen betrifft, also die Wirkung und Wirksamkeit im Sinne der Lebenschancen der Menschen, einschließlich der Bedingungen, Chancen und Grenzen eines entsprechenden Wandels der Leistungen und Angebote. Hierin liegt m. E. auch der qualitative Unterschied zur Sozialberichterstattung und zur Erforschung von Stufen und Formen der In- oder Exklusion aus Lebensbereichen. In diesem Zusammenhang bedeutet Teilhabeforschung auch, die Verbesserung der Handlungsspielräume von Studierenden und Wissenschaftler*innen mit Beeinträchtigung zu untersuchen, u. a. die Frage, ob es andere Mittel und Wege braucht als die vorhandenen und welche Wirkung Bedingungen wie befristete Verträge, Ansprüche an Mobilität, Finanzierungsrichtlinien für Drittmittelprojekte usw. auf die Handlungsspielräume haben.

Nun stehen mit dem wissenschaftlichen Konzept der Lebenslage (Nahnsen, 1975, 1992; vgl. zu Rezeption Beck & Greving, 2011), dem Konzept der Lebensführung (Wansing, 2016), dem Konzept der Verwirklichungschancen (Capabilities Approach; Sen, 2000; Nussbaum, 2011) prinzipiell solche Mehrebenen-Modelle bereit, die alle in irgendeiner Weise das Gefüge und Wechselspiel struktureller und handlungsbezogener Bedingungen thematisieren und auf die im Zusammenhang mit Teilhabe vielfach Bezug genommen wird. Ein solches Mehrebenen-Modell unterliegt auch dem bio-psycho-sozialen Behinderungsverständnis der ICF. Sie sind alle komplex, sie sind prinzipiell der interdisziplinären Bearbeitung zugänglich, sie sind aber nicht per se forschungsleitend. Sie beruhen – in je unterschiedlicher Weise und Ausprägung – auf wissenschaftlichen oder philosophisch-anthropologischen Begründungen und sie sind zugleich normativ fundiert oder motiviert (und dies in unterschiedlichem Ausmaß). Sie bieten einen Rahmen für die Analyse und Bearbeitung der Ebenen und der Beziehungen zwischen ihnen. Sie geben aber nicht per se vor, wie man die Beziehungen im Einzelnen zu denken hat und welche Theorien geeignet sind, um sowohl für die Phänomene auf den je unterschiedlichen Ebenen als auch für die Beziehungen zwischen ihnen geeignete Begründungszusammenhänge bereitzustellen sowie als ‚Brückenkonzepte‘ für die interdisziplinäre Bearbeitung zu dienen. Als die mit der zentralen Problemstellung verbundenen normativen Fragen kristallisieren sich wesentlich drei Bereiche heraus, auf die hin Theoriebezüge, das Verhältnis von Forschung und Gestaltung und die Frage der Wechselwirkungen zwischen Struktur- und Handlungsebene diskutiert werden können:

  1. a)

    die Differenzierung von Zweck (Verbesserung von Lebenslagen und Selbstbestimmung), Ziel und Mittel,

  2. b)

    die konzeptionelle Begründung der Wirkungen gesellschaftlicher und individueller Teilhabe und Partizipation und der mit Interessen und der Verteilung von Zugängen und Gütern verbundenen Konflikte sowie

  3. c)

    das Verständnis des Verhältnisses von Subjekt und Kontext.

Nachfolgend wird dafür auf das Lebenslagenkonzept Bezug genommen, weil es per se Wechselwirkungen zwischen einzelnen Teilhabe-Dimensionen in den Bick nimmt, allerdings ohne, dass dies bisher ausreichend empirisch umgesetzt wurde. Zum zweiten werden hier die Differenzen zwischen der Erforschung und Gestaltung von Lebensverhältnissen deutlich; drittens wird der Bezug zum Subjekt nicht ausgeklammert, aber die Grenze zwischen der individuellen Nutzung von Handlungsspielräumen und den äußeren Bedingungen relativ klar markiert. Dabei werden die ‚äußeren‘ Bedingungen aber so gefasst, dass auch sehr unmittelbare, mesostrukturelle Gegebenheiten in ihrer Wirkung auf Lebenslagen in den Blick genommen werden, sodass eine strukturtheoretische Re-Interpretation von handlungstheoretischen Zusammenhängen und auch umgekehrt möglich wird; dieses Potenzial wird m. E. nicht ausreichend wahrgenommen. Ebenfalls nicht ausreichend gesehen wird m. E., dass der Begriff Lebenslage bereits auf die Wirkung abhebt, nämlich Lebenschancen und nicht auf die Einbeziehung in Lebensbereiche an sich. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass das Lebenslagenkonzept erhebliche Anforderungen an die Operationalisierung stellt und die Erfassung der Ebene der individuellen Lebensführung und der Nutzung und Wirkung von Handlungsspielräumen nicht automatisch umfasst ist, sondern hier analytisch weitere Differenzierungen erforderlich sind.

4.2 Lebenschancen als Zweck der Teilhabe

In allen Begriffsbestimmungen wird Teilhabe als Ziel an sich betrachtet, aber letztlich immer in den Bezug zur Lebenslage oder zur (stärker mikrotheoretisch basierten) Lebensführung gesetzt. Z.T. wird explizit von Handlungsspielräumen oder von Verwirklichungschancen gesprochen, die realisiert bzw. verbessert werden sollen. Teilhabe ist – wie Inklusion und Partizipation auch – kein Zweck an sich und es ist weder damit gesagt, wo der Ansatzpunkt der Veränderung liegt, noch wird damit eine Bewertung impliziert. Diese Differenzierung kann eine explizite oder implizite, womöglich affirmative Gleichsetzung von Teilhabe mit Vorstellungen einer bestimmten Qualität verhindern: dass die Teilhabe z. B. am Arbeitsmarkt an sich gut ist und dies nur noch selbstreferent durch Forschung zu bestätigen ist bzw. allenfalls noch Ansatzpunkte zur Verbesserung aufzuzeigen sind. Denn hier besteht die Gefahr, dass sich der Blick so auf die Erforschung der Förderung einer individuellen Teilhabefähigkeit, -kompetenz oder von ‚Functioning‘ verengt (zur Problematik des Kompetenzbegriffes in diesem Zusammenhang vgl. Bude, 2015). Teilhabe in dieser Weise bezüglich des Zwecks analytisch zu hinterfragen anstatt ihn vorauszusetzen, eröffnet weitere Fragen, die zur weiteren Differenzierung und damit zur Klärung und Begründung beitragen können: wie kann sich eine individuelle Handlungsfähigkeit z. B. für eine berufliche Tätigkeit entwickeln, wie lässt sich die Qualität beruflicher Tätigkeit als Kontextfaktor für die Lebensführung begründen, wie können entsprechende Settings gestaltet werden und welche konkreten strukturellen Bedingungen, z. B. des Wirtschaftssystems, wirken auf diese Settings ein?

Im Lebenslagenkonzept (zur Begriffs- und Gegenstandsgeschichte vgl. ausführlich Beck & Greving, 2011) nach Nahnsen (1975, 1992) stellt die Lebenslage den von außen (also sozial und strukturell) bestimmten Handlungsspielraum des Einzelnen für die Entfaltung und Verfolgung wichtiger Interessen – das Gesamt der Lebenschancen – dar. Die Attraktivität des Konzepts in der Forschung beruht auf seiner Mehrdimensionalität, operational leitend für die Untersuchung werden in der Regel aber Lebensbedingungen in unterschiedlichen Lebensbereichen. Tatsächlich geht es aber um das Gesamt an Lebenschancen, das aus dem Zusammenwirken der einzelnen Handlungsspielräume resultiert, die etwas anderes als Lebensbereiche sind. „Wegen der Interdependenz aller sozialen Prozesse und der unentwegten Integration aller für die Interessenbefriedigung des Einzelnen relevanten sozialen Verhältnisse zur Lebenslage als Einheit, wirkt sich jeder ändernde gesellschaftspolitische Einfluss auf die gesamte soziale Position des Einzelnen aus. Die gegebene gesellschaftliche Ordnung stellt sich demnach als ein Geflecht von Lebenslagen dar, deren jeweilige Werte sich danach bemessen, bis zu welchem Grade ihre jeweiligen individuellen Inhaber Grundanliegen (wichtige Interessen) befriedigen können“ (Nahnsen, 1992, S. 103). Weil sich der Begriff Handlungsspielraum auf den Einzelnen bezieht und zudem auf einer Konzeption von Interessen oder Grundanliegen aufruht, deren Erfüllung einen anderen Vorgang als die Bereitstellung von Zugängen zu Lebensbereichen oder von Gütern darstellt, werden in Untersuchungen häufig Handlungsspielräume entweder gar nicht untersucht oder es wird angenommen, dass mit bestimmten Bedingungen auch die Entfaltung und Verfolgung von Interessen gewährleistet ist. Dabei wird aber zweierlei übersehen: erstens beeinflussen sich die Spielräume gegenseitig, sodass mindestens eine Betrachtung der Beziehungen zwischen den einzelnen Dimensionen auch auf der makrostrukturellen Ebene erforderlich ist und zweitens geht es explizit darum, darüber hinaus die Wirkung auf den Einzelnen dahingehend zu analysieren, inwiefern die Spielräume Optionen beinhalten, zu einer individuell als sinnhaft erlebten Lebensführung zu gelangen. Nahnsen betont hier die Realisierungsmöglichkeiten für unterschiedliche Grundanliegen: es geht um die Vielgestaltigkeit der Lebensentwürfe (Nahnsen, 1992, S. 4), um Selbstbestimmungschancen und die Verringerung von unnötigen Zwängen und Belastungen; eine normative Präzisierung, die m. E. gerade im Zusammenhang von Behinderung und Benachteiligung von außerordentlicher Relevanz ist. Die Betonung der Selbstbestimmungschancen resultiert aus dem Anspruch, gesellschaftlichen Wandel zu ermöglichen entgegen der Festschreibung einer bestimmten Ordnung und aus der Sicht auf das Individuum, dessen Lebensführung in erster Linie für sich selbst sinnhaft sein soll. Eine weitere wichtige Präzisierung erfolgt durch die Konzentration auf die zentrale Problemstellung anhand des „Betroffenheitspostulats“: Nahnsen meint damit die Orientierung an der Betroffenheit des Einzelnen bezüglich der Möglichkeit, „sein Leben nachhaltig und perspektivisch nach eigenem Ermessen zu gestalten“ (ebd., S. 106). Sozialpolitik soll dort einsetzen, wo der Versuch, die eigenen Lebensverhältnisse aus eigener Kraft zu verändern, dazu führt, dass Ressourcen so verbraucht werden, dass keine Verbesserung entsteht (ebd., S. 115). Den Ansatzpunkt dafür bilden Grenzniveaus der Lebenslage, die bewusst von Schwellenwerten der Unterversorgung oder des Existenzminimums abgegrenzt werden. Da es um den Spielraum geht, um „erfolgreich die Perspektiven der Lebensgestaltung ändern zu können“, sind die Aussichten umso besser, „je weniger die gesellschaftlichen Umstände die Ausgangslage restringieren“. Ein Grenzniveau ist nach Nahnsen dann erreicht, „wenn mit dem Versuch, eine alternative Lebensgestaltung zu erreichen, ein überdurchschnittliches Verschlechterungsrisiko für die Ausgangslage verbunden ist“ (ebd., S. 114).

Das Lebenslagenkonzept ist mit der doppelten Absicht der wissenschaftlichen Begründung und der politischen Gestaltung entwickelt worden. Dabei soll die politische Gestaltung durch Rechtsvorschriften und Leistungsansprüche auf die Lage zielen und gerade nicht bestimmte Grundanliegen und die Art und Weise der Nutzung der Spielräume vorschreiben. Die Betonung, dass der subjektive Umgang mit der Lebenslage von der Lebenslage an sich getrennt werden soll, bezieht sich auf die Politik (!): der Umstand, dass Personen, die sich in vergleichbaren Lagen befinden, unterschiedlich damit zurechtkommen, rechtfertigt gerade keinen politischen Eingriff in die individuellen Handlungsmöglichkeiten oder Haltungen des Einzelnen, weil es dazu führen würde, dass trotz vergleichbarer Lagen keine gleichberechtigten Ansprüche entstehen würden. Im Einzelfall könnte dann z. B. ein Anspruch auf Teilhabe-Leistungen nicht erfüllt werden, weil jemand bis zur Antragstellung mit reinen Pflege-Leistungen ausgekommen ist, ohne zu wissen, wie und aus welchen Gründen. Es hieße in der Folge auch, dass sich insgesamt keine Maßnahmen zur Gestaltung der sozialen Verhältnisse mehr ableiten, sondern allenfalls individuumsbezogene Interventionen. Umgekehrt bedeutet dies aber gerade nicht, dass in die Zielsetzung und in die Betrachtung der Wirkungen der Beitrag zur Erhöhung der Selbstbestimmungschancen in der Frage eigener Lebensentwürfe und von individuellen Gestaltungsmöglichkeiten nicht eingeht. Das ist aber etwas anderes als der konkrete individuelle Umgang, der auch von biografischen Erfahrungen und den Möglichkeiten der Entwicklung von Interessen und von Handlungsfähigkeit abhängt. Dieser Unterschied ist analytisch und entsprechend für die Anbindung an Theoriebezüge und die Forschung von erheblicher Bedeutung. Was den normativen Aspekt des Entstehungs- und Verwendungszusammenhangs des zentralen Problems betrifft, ist die Verbindung zur Teilhabeforschung m. E. deswegen gut gewährleistet, weil die aus dem Lebenslagenkonzept resultierende sozialreformerische Absicht gerade nicht ausschließlich inhaltlich, sondern der Richtung nach festgelegt wird und damit eher ein politiktheoretisch begründetes übergeordnetes Maß an die Politik selbst angelegt wird. Auch die Frage, was als Problemlage gilt, wird nicht anhand fester Kategorien von sozialen Problemen und Anspruchskategorien bestimmt, weil diese erst das Ergebnis von Durchsetzungsprozessen sind, die es gerade zu hinterfragen gilt. Zur wissenschaftlichen Begründung liegen, was die Theoriebezüge betrifft, konflikt-, macht-, ungleichheits-, sowie implementations- und steuerungstheoretische Ansätze nahe, mit Blick auf a) Prozesse der Interessensdurchsetzung, b) Prozesse der Problemformulierung und -normierung von Ansprüchen, c) Steuerungs- und Verteilungsfragen. Durch den Bezug auf Spielräume für die Lebensgestaltung können sie eine spezifische Ausrichtung gewinnen, die die interdisziplinäre Bearbeitung leitet. Durch den Bezug auf Selbstbestimmung und die im Mittelpunkt stehende Frage der Interessensartikulation und -durchsetzung gewinnen zudem die politische Partizipation und entsprechende Theoriebezüge vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit eine besondere Bedeutung. Partizipation bezeichnet das Verhältnis der Subjekte zum Sozialen bzw. Gesellschaftlichen, die „Einflußnahme auf das subjektiv Ganze“ (Scheu & Autrata, 2013), die aktive Beteiligung an und Einflussnahme auf Entscheidungen und Entwicklungen, die das eigene Leben im Rahmen einer Gemeinschaft (von einzelnen Institutionen bis zur Gesamtgesellschaft) betreffen. Partizipation bezeichnet aber auch die Teilhabe an den Ergebnissen dieser Entscheidungen – also an den Handlungsfeldern und Gütern der Gesellschaft (vgl. ausführlich Beck & Sturzenhecker, 2021; Schnurr, 2018). Dies setzt Möglichkeiten des Zugangs zu den gesellschaftlichen Handlungsfeldern und Institutionen voraus, der aber nicht per se die Möglichkeit, auch aktiv mitzubestimmen, also Teilnahme zu entfalten, mit umfasst. Partizipation bindet Teilhabe in den Rahmen demokratischer Beteiligung und demokratischer Aushandlungsprozesse von Konflikten und Interessen ein und stellt sowohl ein Struktur- als auch ein Handlungsprinzip dar (Kaase, 1994, S. 443). In Beziehung gesetzt werden müssen diese Theorie-Ansätze dann mit den weiteren Ebenen der Umsetzung und Wirkung in ihrem jeweiligen Spannungsverhältnis zueinander, anhand weiterer, stärker auf die Meso- und Mikro-Ebene zielender theoretischer Begründungszusammenhänge.

4.3 Wirkungen gesellschaftlicher und von individueller Teilhabe und das Wechselspiel zwischen Subjekt und ‚Kontext‘

Allen Begriffsbestimmungen von Teilhabe liegt eine Vorstellung von ‚guter Lebensführung‘, von Zugängen zu Lebensbereichen und einer gerechten Verteilung von wichtigen Gütern für die Lebensführung zugrunde. Sie unterscheiden sich aber danach, ob eher gruppenbezogene Lagen und gesamtgesellschaftliche Maße an Wohlfahrt betrachtet werden oder sich der Fokus stärker auf die individuelle Lebenssituation richtet und welche Konzeption von wichtigen Anliegen der Lebensführung zugrunde liegt. Nach Wansing (2016) erweist sich der Zugang, also Inklusion „in der modernen Gesellschaft als ein mehrdimensionaler, in der Sprache der Systemtheorie „polykontexturaler“ Vorgang der teil- und zeitweisen Einbindung von Personen in unterschiedliche funktionale Zusammenhänge, und zwar gleichzeitig“ (ebd., S. 216). Mit diesem Zugang sollen über den materiellen Lebensstandard hinaus Teilhabe-Ansprüche gewährleistet werden, in Bezug auf Rechte, Gesundheit, Bildung, Wohnen, Beschäftigung usw. Die mehrdimensionale Anlage von Bereichen der Teilhabe findet sich in der ICF, der UN-BRK und im Teilhabebericht. Hier besteht eine Verbindung zu Vorstellungen gesellschaftlicher Wohlfahrt und deren Untersuchung im Rahmen amtlicher und nichtamtlicher Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung (zu deren Entwicklung und Strängen siehe u. a. Beck, 1994, 2006). Dabei ist die Vorstellung leitend, dass Bedürfnisse oder auch wichtige Anliegen bzw. Interessen der Lebensführung über den Zugang zu Lebensbereichen erfüllt werden. Bedürfnisse werden hier nicht explizit benannt oder vorgeschrieben, sondern es wird angenommen, dass die Teilhabe an Gütern zur Bedürfnisbefriedigung beiträgt. Dieser Offenheit mit Blick auf das individuelle ‚Brauchen‘ und ‚Sollen‘ entspricht eine relative Offenheit der Dimensionen, die eine Veränderung der Zahl und Art von als wichtig erachteten Dimensionen zulässt, wie man sie z. B. beim Better Life Index der OECD (2020) feststellen kann. Solche Revisionen spiegeln den ethisch-moralischen und politischen Wandel, aber auch den Fortschritt der empirischen Kenntnisse und den Einfluss von theoretischen Begründungszusammenhängen wider. Insofern ist es, wenn man an ‚objektive‘ Wohlfahrtsmaße denkt, weniger entscheidend, dass Bewertungen absolut feststehen, sondern eher, inwiefern sie auf politischen, ethisch-moralischen und vor allem auch empirischen Argumenten aufbauen, wie sie begründet sind, um der Prüfung zugänglich zu sein und inwiefern sie dem Wandel von Verhältnissen gerecht werden. Ein grundsätzliches Problem der Mehrdimensionalität liegt aber darin, die Auswahl und die Bedeutung einzelner Dimensionen für die Lebensführung zu gewichten und zu klären, wie sie aufeinander bezogen werden können. Das trifft auch für die ICF zu, der ein handlungsorientiertes Menschenbild unterliegt, dessen normative und auch theoretischen Bezüge aber nicht benannt werden. Schuntermann (2011, S. 251) geht z. B. auf die Gefahr einer unkritischen Übernahme des impliziten Normalitätskonzepts der ICF ein.

Mittlerweile kann man empirisch gesichert von teilweise sehr starken Beziehungen und Wechselwirkungen (wie dem zwischen Bildungsabschluss und Erwerbstätigkeit) ausgehen und davon, dass es entsprechend zu unterschiedlichen Konstellationen der ‚Lagen‘ im Sinne vertikaler und horizontaler Ungleichheit kommt. Beispielhaft kann hier auf die Lebensstil-Forschung verwiesen werden (Hradil, 2012), auf den Armuts- und Reichtumsbericht (BMAS, 2017), aber auch auf die im ersten Teilhabebericht (BMAS, 2013) vorgenommene Clusteranalyse, die für das Zustandekommen vergleichsweise besserer oder schlechterer Lagen den Zusammenhang mit Kontextfaktoren wie dem Einkommens- und Erwerbsstatus, aber auch der Eingebundenheit in soziale Beziehungen nachwies. Aber die Dimensionen sind nicht unbedingt systematisch begründet (Engels, 2006) und sie spiegeln vor allem nicht das wider, was mit Handlungsspielräumen gemeint ist. Engels (ebd.) setzt an der Problematik der Auswahl und Gewichtung von Dimensionen und an der Schwäche der Messung einzig von Schwellenwerten der Unterversorgung an. Dafür verbindet er das Lebenslagen-Konzept mit dem Inklusionsverständnis im Sinne Luhmanns, das „Mehrdimensionalität durch funktionale Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme begründet. Die Relevanz einzelner Lebenslage-Dimensionen erscheint dann variabel je nach dem, in welche Teilsysteme bestimmte Personen(gruppen) involviert sind“ (ebd., S. 1). Er gelangt zu einer Reformulierung des Lebenslagenkonzepts „als Partizipation an gesellschaftlichen Teilsystemen (…), die in unterschiedlichen Dimensionen zu unterschiedlichen Graden erreicht wird. Aufgrund struktureller Kopplungen der Teilsysteme untereinander kommt es zur Verfestigung von geringer Inklusion in mehreren Teilsystemen“ (ebd., S. 15). Engels hat exemplarisch anhand von Kontextfaktoren Beziehungen zwischen diesen Bereichen und ihre Gewichtung verdeutlicht, wobei auch die Voraussetzungen des Zugangs thematisiert und entsprechend untersucht werden können. Er gelangt hier zu einem für die Teilhabeforschung m. E. bedeutsamen Untersuchungsansatz, weil sich sehr differenziert Grade der Zugehörigkeit und ihre Voraussetzungen identifizieren lassen und sich zudem für je unterschiedliche Gruppen (z. B. Menschen, die verrentet sind oder aber Jugendliche) spezifische Relevanzstrukturen ermitteln lassen, ohne dass Dimensionen auf Dauer festgelegt oder vorgeschrieben werden müssen. Auch müssen keine Schwellen der Unterversorgung absolut festgelegt werden. Engels schließt damit an das ‚Grenzniveau‘ der Lebenslage nach Nahnsen an, seine Operationalisierung führt zu einem Aufschluss über Bedingungen von Konstellationen, aber nicht über deren Wirkung im Sinne der Lebenschancen, also der Handlungsspielräume. Lebensbereiche oder Handlungsfelder wie Wohnen und Gesundheit usw. gehören zu den äußeren Bedingungen, die erst die Dimensionen der Lebenslage konstituieren. Partizipation scheint zudem mit Inklusion deckungsgleich zu sein. Analytisch müsste also ein zweiter Schritt erfolgen, denn die Spielräume und das ‚Grenzniveau‘ lenken den Blick konkret auf die Frage, inwieweit es Ressourcen ermöglichen, die eigene Lage zu gestalten, ohne dass sich dadurch die Lage verschlechtert und inwieweit einzelne Lebenslage-Dimensionen in diesem Sinn eine Option darstellen oder darstellen können. Allerdings erfordert dies komplexere und methodisch aufwendigere Untersuchungsdesigns.

Insbesondere die Konzeption der Lebenslage nach Weisser hat bezüglich ihrer Normativität und der Operationalisierungsproblematik Kritik auf sich gezogen, wie dies auch Engels darstellt (2006). Nahnsen (1992) hat in der Absicht, Schwächen des Lebenslagen-Konzepts zu beheben, die von Weisser vorgenommene Bedürfnistypologie von ihrer anthropologischen Grundlegung entfrachtet und zwei wesentliche Neubestimmungen vorgenommen: zum einen stellt sie der Frage nach der Erfüllung von Interessen oder Grundanliegen die Frage voran, unter welchen Bedingungen sich Bedürfnisse überhaupt entfalten. Zum zweiten trennt sie die Frage, wie jemand seine Bedürfnisse erfüllt, eindeutig und klar von der Frage ab, welche äußeren Bedingungen dies ermöglichen. Sie geht davon aus, dass jegliche individuelle Bedürfnisartikulation oder -verfolgung sozial beeinflusst ist und sich vielmehr die Frage nach den sozialen und historischen Bedingungen der Entfaltung und Verwirklichung von Interessen stellt und ob generell ein Spielraum für die Bedürfnis- oder Interessenbefriedigung besteht. Nahnsen muss nun andererseits angeben, welche sozialen Tatbestände, die den Spielraum als deren Rahmenbedingung inhaltlich beschreiben, für die Entfaltung von Interessen wichtig sind. Dazu unterteilt sie den Spielraum in fünf Einzelspielräume, die nicht weiter theoretisch abgeleitet sind, aber nach Plausibilitätskriterien begründet erscheinen und erweitert oder verändert werden können:

  1. 1.

    „Versorgungs- oder Einkommensspielraum (Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen)

  2. 2.

    Kontakt- und Kooperationsspielraum (Pflege sozialer Kontakte, Zusammenwirken mit anderen)

  3. 3.

    Lern- und Erfahrungsspielraum (Sozialisationsbedingungen, Form und Inhalt der Verinnerlichung sozialer Normen, Bildung und Ausbildung, Arbeitserfahrungen, räumliche Mobilität)

  4. 4.

    Muße- und Regenerationsspielraum (psycho-physische Belastung durch Arbeit, Wohnmilieu, Umwelt, Existenzunsicherheit)

  5. 5.

    Dispositionsspielraum (Mitentscheidung auf verschiedenen Lebensgebieten)“ (Husi & Meier Kressig, 1998, S. 271; siehe auch Nahnsen, 1992).

Den Spielräumen unterliegt eine theoretische Orientierung an grundlegenden physiologischen, psychologischen und sozialen Bedürfniskategorien, aber sie stellen selbst einen Katalog von Bedingungen ihrer Entfaltung dar. Der Einkommensspielraum ist demnach zu fassen als Bedingung des Maßes der materiellen Versorgung und Verfügbarkeit von Gütern; der Muße- und Regenerationsspielraum wäre die Bedingung des Maßes an Regenerations- und Mußemöglichkeiten usw. Damit wird der Charakter der Spielräume als Optionen oder Gelegenheitsstrukturen besser verdeutlicht und zugleich lassen sich die Spielräume auch begründet erweitern oder verändern. Lebenslagen setzen sich damit nicht aus Interessen oder Grundanliegen zusammen (wie bei Weisser) oder geben per se Aufschluss über z. B. die individuelle Lebensqualität oder den Lebensstandard, sondern sie stellen die Bedingungen und Möglichkeiten für die Entfaltung und die Befriedigung von Interessen dar. Ein soziales Netzwerk aus fünf Personen, zu denen eine Beziehung besteht, kann demnach die Chance auf soziale Zugehörigkeit als einem Grundanliegen beinhalten (und diese wäre Teil des Kontaktspielraumes). Die tatsächliche Realisierung ist davon getrennt zu sehen und unterliegt vielen Einflussfaktoren. Gleichzeitig wird durch diese konzeptionelle Bestimmung verhindert, dass man annimmt, bestimmte Bedürfnisse seien automatisch mit einem Spielraum verknüpft, z. B. dass der Lern- und Erfahrungsspielraum ausschließlich zur Erfüllung von materiellen Bedürfnissen durch Erwerbsarbeit dient. In der Art und Weise, wie jemand seinen Spielraum nutzt, können ganz unterschiedliche Bedürfnisse zur Geltung kommen und es drücken sich hierin immer auch spezifische Restriktionen und Zwänge des Spielraumes aus. Es geht primär um die Schaffung von Optionen für vielgestaltige Lebensentwürfe, was Alternativen voraussetzt, anstatt feste Inklusionsrollen vorzuschreiben. Das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den ‚äußeren‘ Bedingungen wird von Nahnsen schließlich ebenfalls noch einmal 1992 präzisiert: mit den ‚äußeren‘ Bedingungen sind gesellschaftliche Bedingungen im Sinn aller sozialen (!) Handlungsvoraussetzungen gemeint, also ein eindeutig sozialisationstheoretischer Standpunkt, der bis zum Einfluss von Sozialisationspraktiken auf die Entwicklung von individuellen Haltungen und Überzeugungen reicht, also erheblich weiter, als es in der Rezeption des Konzeptes im Rahmen makrostruktureller Untersuchungen deutlich wird (siehe hierzu auch Engels, 2006). Da gleichzeitig eine klare Positionierung mit Blick auf die Möglichkeiten des Einzelnen, selbst gestaltend tätig zu werden, vorgenommen wird, also ein subjektorientiertes Menschenbild zugrunde liegt, lassen sich Verbindungen zur Handlungsebene herstellen. Dabei setzt sich die Perspektive auf Interessen (und damit auch auf Konflikte) und Selbstbestimmung auch im Verständnis der Art der Beteiligung fort, die klar auf Partizipation im Sinne der Mitbestimmung und aktiven Beteiligung analog der Differenz zwischen Teilhabe und Teilnahme gerichtet ist. Bereits 1980 hat Franz-Xaver Kaufmann Lebenslagen als das strukturelle Pendant der Umweltpartizipation bezeichnet (Kaufmann et al. 1980). Partizipation sowie Einschluss- und Ausschlusskriterien (Inklusion/Exklusion), die diese eröffnen oder begrenzen, sind also zentrale Bedingungen und Voraussetzungen des Handlungsspielraumes. Auf der anderen Seite wird der Handlungsspielraum selbst wieder zur Bedingung der Umweltpartizipation und dient dann zur Erklärung von Restriktionen der Teilhabe bzw. Partizipation. Damit geht es aber auch auf der Handlungsebene um konflikthafte Prozesse, in denen Partizipation und partizipative Verfahren die zentralen Mittel der Aushandlung von Interessen darstellen.

Das „Sozialitätspostulat“ (Nahnsen, 1992, S. 108) markiert zugleich eine wichtige Grenze: es bezieht sich auf die theoretische Reichweite des Lebenslagen-Konzepts, das sich eindeutig nicht nur auf makrostrukturelle Bedingungen bezieht, sondern bis auf die Ebene der sozialen Beziehungen und der sozialen Praktiken reicht und fragen lässt, wie hierdurch individuelle Handlungsfähigkeit mit Blick auf die Entfaltung von Interessen und das Entwickeln von eigenen Vorstellungen für die Lebensführung begrenzt, eingeschränkt oder gefördert wird. Genau deshalb stellt es m. E. ein Konzept dar, anhand dessen die Meso-Ebene mit Blick auf Wirkungen auf die Mikro-Ebene, aber auch für die Mikro-Ebene unter dem Primat sozialer Voraussetzungen und sozialer Interaktion nutzbar gemacht werden kann. Aber es ist kein handlungstheoretisches Konzept bzw. es setzt eben genau den subjektiven Umgang mit den Spielräumen nicht mit dem Spielraum in eins. Für die Forschung heißt das jedoch nicht, diesen Umgang nicht zu untersuchen, doch macht es an der Stelle einen Wechsel hin zu lebensweltlich basierten Ansätzen erforderlich (vgl. zum Verhältnis von Lebenslage und Lebenswelt ausführlich Beck & Greving, 2011). Gerade weil hier eine klare Trennung erfolgt, wird m. E. die Analyse-Richtung geschärft, sodass auch die Anschluss-Stellen, was weitere Konzepte und Theorie-Ansätze betrifft, deutlicher bestimmbar sind. Wansing (2016) schlägt vor, das Konzept der Lebenslage mit dem der Lebensführung (im Anschluss an Weber, siehe ebd., S. 244) zu verbinden, was wegen der grundsätzliche Nähe, die theoretischen Bezüge betreffend, naheliegt, sofern man anerkennt, dass das Lebenslagenkonzept nicht nur strukturelle, sondern auch soziale und hier auch Meso- und Mikrobedingungen in den Blick nimmt. Dass Nahnsen hier eine klare Grenze setzt, hängt aber auch mit der o. a. Intention zusammen, dass sich Sozialpolitik auf soziale Verhältnisse zu richten hat und die Grenze zur praktischen Intervention gewahrt und insbesondere der Hilfe- gegenüber dem Kontrollaspekt gestärkt werden muss. Wie das Konzept im Sinne Nahnsens auch in der praktischen Arbeit so angewandt werden kann, damit es nicht zu einem Vorschreiben von Haltungen und Fähigkeiten kommt, die es zu erwerben gilt, hat m. E. Wendt (1988) exemplarisch verdeutlicht.

Der wegen seiner deutlich engeren Verbindung zur individuellen Lebenssituation auch als Rahmen für die Teilhabe-Forschung diskutierte Capabilities Approach ist m. E. gegenüber dem Lebenslagen-Konzept erheblich stärker normativ aufgeladen. Nach Hopmann (2021, S. 96) zeigt sich in der Fassung des Capabilities Approach nach Nussbaum die Normativität des Ansatzes in einer „essentialistischen Annahme einer Bestimmbarkeit der Konzeption des Menschen“. Die Liste von zehn Befähigungen, „welche zentrale Bedingungen für ein wohlergehendes und gutes Leben eines jeden Menschen fundieren“ (ebd.), werden als „Konglomerat individueller Fähigkeiten einerseits sowie sozialer, politischer und ökonomischer Ermöglichungsräume andererseits verstanden, innerhalb derer sich Subjekte auf Basis freier Entscheidungen für oder gegen die Realisierung von Handlungen und Daseinsweisen entscheiden können (sollen)“ (ebd.). Der Bezug auf das ‚Können‘ und das ‚Sollen‘ (im Unterschied zu Nahnsen!) lässt nicht nur die Frage der Begründung von ‚Fähigkeiten‘ als klärungsbedürftig erscheinen, sondern die ganze Problematik des Spannungsfeldes von individuellem Wohlergehen und Allgemeinwohl, bis hin zu anthropologischen Bestimmungen des ‚Brauchens‘ und ‚Sollens‘. Eine zweite Problematik tritt hinzu: auch wenn individuelle Fähigkeiten von Befähigungen abgegrenzt werden, scheint analytisch zunächst schwer bestimmbar, wie die Verwobenheit analytisch zu verstehen ist. Engels (2006, S. 5) spricht in Bezug auf diesen Ansatz von einem Zusammenwirken von „individuellen Ressourcen und gesellschaftlicher Infrastruktur einerseits und subjektiven Handlungszielen (mit Begriffen wie Gründe, Entscheidung, Selbstachtung angesprochen) andererseits“, das es erschwere, zu unterscheiden, „welche Komponenten als objektiv gegebene Chancen und welche als subjektives Reflexions- und Handlungspotenzial gesehen werden“. In strukturellen Gegebenheiten sind zudem immer auch Erwartungen und Regeln repräsentiert, was Anforderungen an die Lebensführung betrifft; das erscheint mit Blick auf die enge Verknüpfung des Ansatzes mit einer Interventionsperspektive nicht unproblematisch, ebenso, wie der Bezug zu sozialer Ungleichheit im Lebenslagenkonzept m. E. deutlich unmittelbarer hervortritt.

Was die Theoriebezüge auf der Meso- und Mikro-Ebene für Mehrebenen-Designs betrifft, findet die eher sozialstrukturelle Forschung eine Entsprechung auf der Mikro-Ebene in der lebensweltlich ausgerichteten Forschung zu alltäglicher Lebensführung, zu subjektiven Bildungs- und Aneignungsprozessen, der Sozialen Netzwerk- bis hin zur Stress- und Copingforschung (salutogenetisches Paradigma), die allesamt Bezüge zu Pädagogik, Medizin und Gesundheit ermöglichen, aber unter dem Primat der Relevanz von z. B. gesundheitlichen Problemen für die Teilhabe (Lebenschancen). Wenn es um Wirksamkeit, Vielfalt, Angemessenheit der Leistungen und um deren Wandel geht, liegen neben Implementationstheorien vor allem Theorien der Organisation(sentwicklung) und Professionstheorien bzw. Theorien professionellen personenbezogenen Handelns nahe (ausgehend von Gross & Badura, 1977, siehe u. a. Beck, 1994; Schnurr, 2018). Hier sind wiederum Anschlüsse an Ansätze möglich, die die Spannungsfelder des Handelns mit Menschen thematisieren (wie z. B. das von Hilfe und Kontrolle) und auch Schnitt- und Bruchstellen der Leistungserbringung auf der Meso- und Mikro-Ebene thematisieren (z. B. durch Technologie- und Legitimationsdefizit, Koordinations- und Kooperationsprobleme usw.). In jedem Fall sind partizipationstheoretische Bezüge bedeutsam, nicht nur, weil sie die Frage der aktiven Beteiligung und Mitbestimmung im politischen Sinn thematisieren. Partizipation gilt mittlerweile als Schlüsselkonzept, wo es um Bildungsprozesse, aber auch um Fragen der Bewältigung von Belastungen, Krankheit, Behinderung oder sozialer Benachteiligung geht (vgl. hierzu u. a. Seckinger, 2006 zur Bedeutung in psychosozialen Feldern oder Rosenbrock & Hartung, 2012 zu Partizipation und Gesundheit). Dies hängt damit zusammen, dass die Bedingungen aufseiten des Einzelnen, Interessen entfalten zu können, durch Partizipation positiv beeinflusst werden können: das Erleben von Selbstwirksamkeit und der Aufbau des Kontrollgefühls als Möglichkeit, sich als auf seine Umwelt einflussnehmend wahrnehmen zu können. Beides nimmt wiederum auf die Motivation Einfluss. Motivation kann zusammenbrechen, sich in anhaltende Frustration oder Fatalismus wenden, ebenso wie sie Motor für Entwicklung sein kann und diese Zusammenhänge sind für die Frage der Möglichkeiten sinnhafter Lebensgestaltung zentral.

Ausblick: Hinweise auf das Mehrebenen-Untersuchungsdesign des IMPAK-Forschungsprojekts.

Eine Annäherung an Lebenslagen im skizzierten Sinn unternimmt das IMPAK-Forschungsprojekt (Beck & Franz, 2019). Das Projekt hat zum Ziel, sich den Handlungsspielräumen von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen in Wohnangeboten zu nähern, Stufen und Formen der Inklusion und Partizipation werden entsprechend als Bedingungen der Lebenslage thematisiert. Das Projekt soll aber auch Aufschlüsse über Chancen und Grenzen der methodischen Vorgehensweisen zur Untersuchung von Lebenslagen erbringen, hat in diesem Sinn also exemplarischen Charakter. Mit einem Mixed-Methods-Design und unter Einbezug sowohl struktur- als auch handlungstheoretischer Begründungszusammenhänge werden

  1. a)

    Bedingungen der Leistungssteuerung der Makro-Ebene (politische und rechtliche Steuerung auf Bundes- und Länderebene),

  2. b)

    der Leistungserbringung auf der Meso-Ebene (Wohnangebote) und

  3. c)

    der Mikro-Ebene der Leistungserfüllung (Interaktion im Alltag des Wohnsettings)

untersucht und zueinander in Beziehung gesetzt. Zentral ist das Verhältnis von und die Beziehungen zwischen der Problemnormierung (Ansprüche) und Leistungsgestaltung auf der rechtlichen Ebene und der Ebene der Leistungserbringung, also der Problembearbeitung und Umsetzung der Leistungen bis hinab auf die Interaktionsebene im Alltag der Wohnsettings in ihrer Wirkung auf die Lebenslagen, wobei insbesondere Schnitt- und Bruchstellen im Umsetzungsprozess in den Blick genommen werden. Neben der breiten Erhebung struktureller und sozialer Aspekte geht es vor allem um die Frage, wo und wie es zu Handlungsspielräumen kommt und wie sich hier letztlich das Verhältnis von Wahlmöglichkeiten und Restriktionen gestaltet. Dabei kann angenommen werden, dass der Personenkreis, um den es geht, in besonders hohem Maß Einschränkungen der eigenen Lebensgestaltung erfährt. Welche Spielräume Leistungserbringer und Mitarbeiter*innen haben, um personorientierte Leistungen für eine individualisierte Lebensführung umzusetzen und welche Bedingungen und Restriktionen hierauf einwirken, was als Bedarf auf der Ebene der Einrichtungen angesehen wird, wie sich der individuelle Unterstützungsbedarf tatsächlich im Alltag zeigt, wie er erfüllt wird und ob und wie daneben eine individuelle Lebensführung sichtbar und unterstützt wird, diesen Fragen kommt eine besonders hohe Bedeutung zu. Das Projekt bleibt dabei nicht bei den ‚äußeren‘ Bedingungen der Makro- und Meso-Ebene stehen, sondern nimmt auch die Mikro-Ebene anhand eines methodischen Wechsels hin zu qualitativen Verfahren und einer lebensweltlichen Basierung in den Blick, aber anhand einer strikt auf Interaktion gerichteten Perspektive, um den Anschluss an das Lebenslagen-Konzept zu gewährleisten.

Die jeweiligen Rahmenbedingungen auf der Makro-Ebene können so, je nach ihrer Ausgestaltung, als eher förderliche oder eher hinderliche Kontextfaktoren für eine personorientierte Leistungserbringung betrachtet werden. Die Leistungsanbieter wiederum steuern über die Organisation der Strukturen und Prozesse in erster Linie ihre Angebote und den Arbeitsalltag der Mitarbeiter*innen, also deren Handlungssicherheit und -fähigkeit, vor dem Hintergrund ihrer je unterschiedlichen infrastrukturellen, sozialräumlichen und organisationskulturellen Bedingungen. Die Handlungsmöglichkeiten der Mitarbeiter*innen wiederum entstehen erst im Rahmen des konkreten Settings eines Wohnangebotes; sie handeln in Abhängigkeit von den Kontextfaktoren, aber auch von ihrer subjektiven Deutung der Anforderungen, der Arbeitsbedingungen und der Situation der Adressat*innen in unterschiedlicher, aber nicht zufälliger Weise. Ihre Leistungserbringung im Alltag hängt von den meso- und mikrostrukturellen Organisationsbedingungen ebenso ab, wie sie Ausdruck sozial und kulturell geformter Auffassungen über die Arbeit mit Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen ist, die sich z. B. in Leitlinien, Konzepten, aber auch in konkreten Praktiken und Strukturen finden. Das Handeln von Mitarbeiter*innen in Wohnangeboten ist zudem im Alltag untrennbar verschränkt mit der Lebensführung der Adressaten und Adressatinnen. In diesem organisatorisch überformten Alltag entstehen die tatsächlichen Handlungsspielräume für die individuelle Lebensführung, in einem je spezifischen Verhältnis von Wahlmöglichkeiten und Restriktionen und die Spielräume wirken auch je in spezifischer Weise aufeinander ein. So stellen z. B. die bundeslandspezifischen Auslegungen der Kriterien für die Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen von vornherein ein strukturelles Exklusionsrisiko für bestimmte Adressat*innen dar. Auf der anderen Seite kann eine bestehende Option für den Besuch einer WfbM von einzelnen Adressat*innen nicht genutzt werden, weil beispielsweise der zeitliche Bedarf für Pflege, Therapie, Regeneration sehr hoch ist und eine stundenweise Beschäftigung strukturell nicht ermöglicht werden kann. Zu fragen bleibt dann aber: bestehen andere Optionen für eine als sinnvoll erlebte Tätigkeit, für das Lernen und Erfahrungszuwachs, aber auch für Einkommen, Rentenansprüche, soziale Kontakte und Kooperation?

Die Untersuchung von Handlungsspielräumen einschließlich des subjektiven Umgangs damit, erfordert komplexe Designs, in denen vor allem hinsichtlich der Beziehung zwischen den Ebenen ‚Übersetzungsleistungen‘ erforderlich sind, was die je unterschiedlichen Phänomene betrifft (wie ‚Leistungsanspruch‘ – ‚Assistenzbedarf‘ – ‚individuelle Bedürfnisse‘), um den inneren Zusammenhang und weitestgehend direkt oder indirekt wirkende Einflüsse zu klären. Ebenfalls muss in der abschließenden Gesamtschau eine Re-Interpretation der Phänomene mit Blick auf die Handlungsspielräume erfolgen. Nur so lassen sich auch die je unterschiedlichen Perspektiven der Theorie-Ansätze und der beteiligten Wissenschaftler*innen annähernd vereinen. Es spricht nichts dagegen, den Fokus von Mehrebenen-Untersuchungsdesigns zu begrenzen, sowohl hinsichtlich der Fragestellung als auch hinsichtlich der betrachteten Ebenen, solange die grundsätzliche Ausrichtung auf Teilhabe im Sinne von Lebenschancen, die Mehrdimensionalität und Kontextabhängigkeit berücksichtigt werden. Alle Blickwinkel bleiben aber unvollständig ohne kritische Reflexion der normativen Implikationen, der gesellschaftlichen Verhältnisse und auch der Alltagsbezüge. Sich diesen Wechselspielen unterschiedlicher Faktoren und den Spannungsfeldern zwischen ihnen unter dem Fokus von Teilhabe als Ergebnis der Erhöhung von Handlungsspielräumen anzunähern, kann eine besondere Qualität von Teilhabeforschung ausmachen.