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1 Einleitung

In den frühen 2000er Jahren begann in Forschungszusammenhängen, die sich mit dem Thema Behinderung befassen, etwa der Heil- und Sonderpädagogik und den Disability Studies, die zunächst verhalten verlaufende Rezeption des Topos der Intersektionalität. Inzwischen aber ist er in ihren Diskursen gut etabliert. Dies gilt insbesondere für die Forschungsbereiche, die sich schwerpunktmäßig mit Inklusion und Teilhabe befassen. In diesem Kontext wird Intersektionalität fast durchgängig mit einem Begriffsbündel in Verbindung gebracht, das gegenwärtig ein Zentrum erziehungswissenschaftlicher Diskurse bildet: ‚Vielfalt‘, ‚Heterogenität‘, ‚Differenz‘, ‚Diversität‘ und ‚Alterität‘. Wie so häufig muss auch mit Blick auf diesen Diskurs konstatiert werden, dass die Vielstimmigkeit der sich dieser Bezeichnungen bedienende Rede nicht zu einer Klärung und terminologischen Konturierung der Begriffe beiträgt. Auch wenn gelegentlich ein solcher Anschein entstehen mag, handelt es sich keineswegs um synonyme Begriffe. Jenseits aller Unterschiede lässt sich jedoch der gemeinsame Nenner ausmachen, dass diese Termini vor allem im Diskurs der inklusiven Pädagogik fast durchgehend positiv konnotiert sind, als Chance gesehen und mit dem normativen Desiderat der uneingeschränkten Teilhabe ausnahmslos aller Schüler*innen an den Regelangeboten verknüpft werden. Zugleich wird die ihnen zugeschriebene pädagogische Bedeutsamkeit mit dem Anspruch verknüpft, ihre gesellschaftliche Selektionsrelevanz nicht zu reproduzieren (vgl. Emmerich & Hormel, 2016, S. 571). Hierdurch wird die Realität sozialer Ungleichheitslagen zwar anerkannt, zugleich aber auch in den Hintergrund gerückt. Hier nun setzt der Rückgriff auf die Intersektionalitätsforschung in erziehungswissenschaftlichen und inklusionspädagogischen Kontexten an: Das in diesen Feldern schon seit den 1990er Jahren virulente Problem sozialer Ungleichheitslagen wird in einen anderen Horizont gerückt. Einerseits wird die Frage nach Ursachen, Wirkzusammenhängen und Folgen sozialer Ungleichheit neu gestellt, andererseits wird das Interesse auf das Zusammenspiel verschiedener Differenzkategorien und deren Zusammenspiel und die daraus resultierenden Effekte gerichtet (vgl. Walgenbach, 2016, S. 212). Die bislang vorherrschende Tendenz, verschiedene Differenzkategorien eher additiv zu behandeln, wird unter Rückgriff auf den Topos der Intersektionalität nun zugunsten einer Fokussierung des Zusammenwirkens und der Verflechtung verschiedener sozialer Differenzkategorien aufgegeben. Dabei wird mit der intersektionalen Perspektive die Aussicht auf eine Verfeinerung und Ausdifferenzierung von Analyseoptiken, die sich mit Prozessen benachteiligender sozialer Differenzierung und deren gesellschaftlicher Produktion befassen, verknüpft.

Nachfolgend sollen die Kerngedanken der Intersektionalitätsforschung sowie einige offene Fragen skizziert werden. Im Hinblick auf deren Relevanz für die Teilhabeforschung wird sich als besonderes Problem zeigen, dass das Verhältnis von Inklusion und Teilhabe – und entsprechend das von Inklusions- und Teilhabeforschung – sowohl im Hinblick auf mögliche Schnittstellen als auch auf Unterschiede bis heute weder begrifflich noch theoretisch und konzeptionell geklärt ist. Das macht es außerordentlich schwer, die spezifische Bedeutung des Topos der Intersektionalität für die Teilhabeforschung herauszuarbeiten. Insofern wird es in den nachfolgenden Überlegungen weniger darum gehen, rückschauend eine Bilanz zu intersektionalen Perspektiven in der Teilhabeforschung ziehen, sondern deren Potenzial herauszuarbeiten.

2 Intersektionalitätsforschung als Ungleichheitsforschung

Soziale Ungleichheitsverhältnisse werden in den Sozialwissenschaften schon lange thematisiert und erforscht. Allerdings waren klassische soziologische Fragestellungen ebenso wie später etablierte Forschungszusammenhänge, etwa die Gender-, Post-Colonial-, Queer- oder Disability-Studies, zumeist auf eine Hauptdifferenz, etwa, das Geschlecht, die Hautfarbe, die soziale Herkunft oder die sexuelle Präferenz, fokussiert und tendierten dazu, diese unabhängig voneinander zu untersuchen und zu konzeptualisieren. Auch wenn es durchaus bekannt war, dass es multipel auftretende und miteinander in Wechselwirkung stehende Ungleichheitsverhältnisse gibt, wurde diese Einsicht erst unter dem 1989 von Kimberlé Crenshaw geprägten Begriff der Intersektionalität (vgl. Crenshaw, 1991) zu einem systematischen und sozialtheoretisch anspruchsvollen Forschungsprogramm entwickelt. Ganz allgemein formuliert besteht das Spezifische der Intersektionalitätsforschung darin, soziale Ungleichheitsverhältnisse einerseits im Plural zu denken, diese andererseits aber auch als miteinander verschränkt zu konzipieren. Demnach können „historisch gewordene Diskriminierungsformen, Machtverhältnisse, Subjektpositionen sowie soziale Ungleichheiten […] nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden“ (Walgenbach, 2016, S. 212). Vielmehr gilt es, sie in ihren „Interdependenzen oder Überkreuzungen (intersections)“ (ebd.) zu untersuchen. Dabei lautet die zentrale Annahme, dass Menschen anhand von gesellschaftlich-strukturell verankerten mehrdimensionalen Diversifikationsprozessen einen sozialen Status und einen ‚Platz‘ in der Gesellschaft zugewiesen bekommen. Entlang solcher struktureller Differenzlinien werden bildungsbezogene, sozioökonomische, rechtliche und andere Möglichkeitsräume eröffnet oder verschlossen, Ressourcen zugewiesen oder abgesprochen und Identitäten zugeschrieben. Die Prozesse der Positionierung von Subjekten in einem gesellschaftlichen Gefüge und die hiermit gekoppelte Produktion von Ungleichheit folgen aber nicht der Logik eines einzigen, im gegebenen sozialen und gesellschaftsstrukturellen Kontext relevanten und machtförmigen, Differenzkriteriums. Vielmehr können verschiedene Differenzkriterien, die jeweils zu spezifischen Benachteiligungen führen, zusammenwirken und im Ergebnis zu Mehrfachbenachteiligungen und -diskriminierungen führen. Dabei ist entscheidend, dass sich die verschiedenen kategorial verstandenen Differenzmerkmale zu einer mehrdimensionalen Ungleichheitslage verknüpfen. Darüber hinaus sind, wie Walgenbach (2016) hervorhebt, diese Differenzmerkmale nicht als unabhängig voneinander zu konzeptionieren. Vielmehr kommt es darauf an, die Interdependenz der Kategorien und ihre in sich heterogene Struktur zu analysieren (ebd., S. 214). Genau dies ist das zentrale Thema der Intersektionalitätsforschung.

Seit ihren Anfängen wurde die Intersektionalitätsforschung in unterschiedlichen fachlichen Zusammenhängen rezipiert und weiterentwickelt (z. B. in der Geschlechterforschung, in der soziologischen Ungleichheitsforschung oder der Politischen Theorie), sodass sich unterschiedliche konzeptionelle Zugänge und Akzentuierungen herausgebildet haben. Neben der bereits genannten grundlegenden Charakterisierung gibt es dennoch, folgen wir Jürgen Budde (2013), eine Reihe weiterer Aspekte, die die verschiedenen Strömungen miteinander verbinden. Das ist zum einen die Kontextualität der Kategorien. Budde betont, dass die Intersektionalitätsforschung mit einem relationalen Denken einhergeht, das es erforderlich macht, die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Kategorien kontextuell zu bestimmen, also in Bezug auf die jeweils gegebene historische und gesellschaftliche Situation sowie die diskursive Einbettung der Kategorien. Budde bezeichnet diesen „Blick auf flexible und hybride Konstellationen […] als ‚relationale Kontextualität‘“ (ebd., S. 246 f.). Durch eine solche relationale Kontextualität kann die Theoriebildung einer Präformierung der erforschten sozialen Wirklichkeit durch den ihr zugrunde gelegten Begriffs- und Kategorienapparat vorbeugen.

Des Weiteren zielen die Analysen von Ungleichheitslagen nicht einfach darauf ab, „Positionierungsprozesse entlang der Überschneidung sozialer Kategorien […] zu dokumentieren“ (ebd., S. 247); vielmehr geht es zugleich auch um „die Sichtbarmachung der darin eingelassenen Machtverhältnisse“ (ebd.). Insofern ist Intersektionalitätsforschung grundsätzlich Macht- und Herrschaftsanalytik (vgl. Meyer, 2017). In diesem Sinn schreibt Walgenbach: „Das Forschungsfeld bzw. der gemeinsame Gegenstand von Intersektionalität sind […] Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse, die soziale Strukturen, Praktiken und Identitäten produzieren“ (ebd. 2012, S. 2). Im Zentrum des Interesses der Intersektionalitätsforschung stehen daher vor allem solche Ungleichheiten, die auf Macht- und Verteilungskämpfe zurückgehen und durch Legitimationsdiskurse gestützt werden (vgl. Budde, 2013, S. 23 f.). Schließlich besteht Budde zufolge Einigkeit darüber, dass die in der Intersektionalitätsforschung herangezogenen Kategorien soziale Konstrukte sind und keine beobachterunabhängigen ontologischen Realitäten bezeichnen. Als Verweise auf spezifische historisch gewachsene gesellschaftliche Verhältnisse sind sie als „Effekte historischer Diskurse“ (Meyer, 2017, S. 94) zu begreifen.

In einer zusammenfassenden Passage bündelt Becker-Schmidt die Grundannahmen der Intersektionalitätsforschung wie folgt: Diese geht davon aus, dass sich die Charakteristika jeder sozialen Ungleichheitslage „aus den spezifischen sozialhistorischen Kontexten herleiten lassen, in denen sie entstanden ist. Zu diesem Kontext gehören die gesellschaftlichen Konflikte, die zu Formen der Über- und Unterordnung geführt haben“ (Becker-Schmidt, 2007, S. 60). Hierarchische Verhältnisse zwischen den Geschlechtern, Klassen und gesellschaftlichen Mehr- und Minderheiten, in denen immer Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck kommen, bilden einen die Geschichte durchziehenden roten Faden. Gleichwohl folgt die Herausbildung solcher Herrschaftsverhältnisse keinem einfachen Schema. Vielmehr zeigen sich, so Becker-Schmidt, „differente Entwicklungsstränge, Verwerfungen und Ungleichzeitigkeiten. Die Diskriminierungskriterien, die charakteristisch für die einzelnen Ungleichheitslagen sind, unterliegen keiner einheitlichen Logik“ (ebd.). Insofern untersucht die Intersektionalitätsforschung nicht einfach nur die Auswirkungen der Intersektion verschiedener Differenzkategorien auf das Individuum. Vielmehr will sie herausarbeiten, „wie sich Rassismus, Sexismus, Nationalismus, Heteronormativität, Kapitalismus und andere Herrschaftsformen in Theorie und Praxis ergänzen und verstärken können und wie sie strukturell zusammenhängen“ (Meyer, 2017, S. 14). Dem liegt, wie Meyer ausführt, die Überlegung zugrunde, dass Rassismus, Sexismus, Nationalismus usw. in der gesellschaftlichen Praxis niemals in Reinform existieren. Vielmehr sind sie als Machtformen miteinander verstrickt und produzieren „ein gesellschaftliches Gewebe, das spezifische Muster von Diskriminierungs- und Marginalisierungseffekten aufweist, die sich historisch, geographisch und kulturell auf je eigene Weise herausbilden“ (ebd., S. 84).

Insofern die Intersektionalitätsforschung Machtanalytik ist, interessiert sie sich nicht nur für Prozesse der Hervorbringung und Verfestigung von diskriminierenden Ungleichheitslagen, sondern versucht auch, die oftmals gleichzeitig stattfindende Unsichtbarmachung von Diskriminierung aufzudecken (vgl. ebd., S. 74 f.). Zumindest diese Spielart der Intersektionalitätsforschung hat eine gesellschaftskritische und emanzipatorische Stoßrichtung. In diesem Sinn spricht Meyer (2017) von der „Entstehung der Intersektionalitätstheorien aus dem Geist der Kritik“ (ebd., S. 21). Verschiedenen Theorien der Intersektionalität entwickeln einerseits ein begriffliches und theoretisches Instrumentarium, das die „blinden Flecken“ gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen und deren Einbettung in gesellschaftliche Diskurse und Praktiken aufdeckt; andererseits wollen sie „gesellschaftliche Machtverhältnisse in emanzipatorischer Absicht überwinden“ (ebd., S. 13).

3 Ungeklärte Fragen

Die im vorangehenden Abschnitt skizzierten Gedanken umreißen das weitgehend konsensuelle gedankliche Grundgerüst der Intersektionalitätsforschung. Gleichwohl gibt es auch eine Reihe von Differenzen und ungeklärten Fragen. So besteht auch nach drei Jahrzehnten keine Einigkeit über die Anzahl und Bedeutung der zu berücksichtigenden Kategorien. Im Zentrum der Intersektionalitätsforschung stehen seit ihren Anfängen die drei Kategorien ‚race‘, ‚class‘, ‚gender‘. Jenseits dieser Kernkategorien gibt es aber sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, ob, und wenn ja, welche weiteren Kategorien zu berücksichtigen sind. Im Rahmen ihrer Studie zu erziehungswissenschaftlich relevanten Differenzlinien haben Lutz und Wenning (2001) einen sehr weitgehenden Vorschlag gemacht, der auch in der Intersektionalitätsforschung aufgegriffen wurde (vgl. Meyer, 2017, S. 136). Sie unterscheiden dreizehn verschiedene, bipolar und hierarchisch aufgebaute Heterogenitätsdimensionen, ohne diese Liste als abgeschlossen zu betrachten. Sie umfasst unter anderem die sexuelle Orientierung, die ethnische Zugehörigkeit, die Gesundheit und der sozioökonomische Status. Die Anzahl und Auswahl der Differenzkategorien haben erhebliche Auswirkungen darauf, welche Gruppen überhaupt als in einer Ungleichheitslage befindlich wahrgenommen werden. Ansätze, die sich auf wenige Kategorien beschränken, sehen sich daher dem Vorwurf ausgesetzt, spezifische Ausformungen von Ungleichheit auszublenden und damit „eine eindimensionale oder verzerrte Perspektive auf die Welt durchzusetzen, die in der Analyse von Intersektionalität gerade überwunden werden soll“ (Meyer, 2017, S. 127; vgl. Budde, 2013, S. 249). Offene und potenziell unendlich erweiterbare Listen stehen anderseits vor dem Problem, eine gewisse Beliebigkeit zu erzeugen, sich durch ein Übermaß an Komplexität forschungsmethodische Probleme einzuhandeln und unter Umständen auch durch problematische Gleichsetzungen qualitative Differenzen zwischen unterschiedlichen Ungleichheitslagen unangemessen einzuebnen.

Andererseits ist zu bedenken: Da die Differenzkategorien als historisch kontingente Konstrukte angesehen werden (vgl. Weinbach, 2014), ist die Entscheidung über die Aufnahme von Kategorien ebenfalls kontingent. Dies zeigt sich u. a. darin, dass die gesellschaftliche Situiertheit der Forscher*innen und ihre persönlich bedingten Relevanzen Einfluss darauf haben, welche Differenzkategorien für relevant gehalten werden. Diese Vorentscheidungen aber ziehen weitreichende theorie- und forschungsstrategische Grundsatzentscheidungen nach sich. Dies ist nicht als grundsätzliches Problem zu verstehen, durch das diese Art von Forschung delegitimiert wird, muss aber reflexiv eingeholt werden.

Ein weiterer strittiger Punkt betrifft die Frage, ob Intersektionalität eine Theorie ist, eine heuristische Metapher, eine Analyseperspektive oder, wie Walgenbach vorschlägt, ein Paradigma (vgl. Meyer, 2017, S. 122 ff.; vgl. Walgenbach, 2016, S. 212 ff.).

Darüber hinaus ist noch nicht konsensuell geklärt, auf welcher Analyseebene bzw. auf welchen Analyseebenen die Intersektionalitätsforschung anzusetzen hat. Degele und Winker (2009) haben hierzu einen vielbeachteten Ansatz entwickelt, der es erlauben soll, drei Ebenen zu berücksichtigen (vgl. Walgenbach, 2014, S. 77 ff.):

  • eine Makro- und Mesoebene, auf der gesellschaftliche Strukturen einschließlich Organisationen und Institutionen untersucht werden,

  • eine Mikroebene, auf der die Prozesse der Identitätsbildung zentral sind,

  • eine quer dazu liegende Repräsentationsebene, die Symbolisierungsprozesse und -praxen fokussiert.

Auch dieser Vorschlag ist nicht unwidersprochen geblieben. So kritisiert Budde, dass er die jeweils wirkenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse einerseits addiert, andererseits aber in einer Doppelbewegung „das Abweichende als Abweichendes in seiner Differenz thematisiert und herausgestellt wird, während die im gleichen Prozess als Norm gesetzte Gruppe de-thematisiert wird“ (ebd., 2013, S. 251).

Schließlich besteht noch Klärungsbedarf in Hinblick auf die Berücksichtigung der sozialtheoretisch durchaus relevanten subjektiven Perspektive. So kann die Ausblendung der Perspektive der Subjekte zu „stereotypisierenden Konstruktionen spezifischer Gruppen“ führen, „die in Anbetracht spezifischer Differenzkonfigurationen in ihren Lebenslagen und Lebensweisen als homogen gedacht werden“ (Thielen, 2011, o. S.). Die Berücksichtigung der subjektiven Perspektive ist der Einsicht geschuldet, dass die theoriebasierte Feststellung objektiver Ungleichheitslagen nichts darüber aussagen kann, wie die betroffenen Menschen ihre soziale Situation erleben und deuten. Allerdings hat die Hinzunahme der subjektiven Perspektive die theoretisch und forschungsmethodisch gravierende Konsequenz, die – ohnehin schwierige und problembeladene – Attribuierung von Ungleichheitslagen und deren Erklärung erheblich zu erschweren.

4 Intersektionalität und das Problem der Kategorien

Im vorangehenden Abschnitt hat sich gezeigt, dass das Problem der Kategorien im Zentrum der Intersektionalitätsforschung steht. In Anschluss an Meyer (2017) besteht ein zentrales Merkmal der Intersektionalitätsforschung in der kategorialen Rahmung sowohl ihres Analysegegenstandes als auch ihres eigenen analytischen Instrumentariums (vgl. ebd., S. 94). Indem sie die empirische Vielfalt nach bestimmten Aspekten vereinheitlichend bündeln, sind Kategorien grundsätzlich abstrahierend und verallgemeinernd. Hieraus resultiert auch ihre zumindest latente Macht- und Gewaltförmigkeit. Zugleich aber greift die macht- und gewaltkritische Beurteilung von sozialen Differenzkategorien zu kurz, weil sie häufig auch soziale Identitäten markieren. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, deren Funktionen und Effekte sorgfältig zu reflektieren.

Ein seit den Anfängen der Intersektionalitätsforschung diskutiertes Problem betrifft die Frage, wie die unterschiedlichen Kategorien zueinander in Beziehung zu setzen sind: Ist von einer vorgängigen Unterscheidbarkeit einzelner Kategorien auszugehen, die sich dann überkreuzen, in Wechselwirkung miteinander treten und sich neu konfigurieren? Oder treten die kategorialen Differenzierungen nicht immer schon gemeinsam und miteinander verwoben auf, weil Menschen stets zugleich vergeschlechtlicht sind, einen sozio-kulturellen Status zugewiesen bekommen und einen spezifischen sozioökonomischen Hintergrund haben?

Im Ausgang solcher und weiterer Fragen unterscheidet McCall (2005) in ihrem bekannten Aufsatz idealtypisch drei verschiedene Positionen zum Umgang mit Kategorien, nämlich interkategoriale, intrakategoriale und antikategoriale Ansätze. Interkategoriale Ansätze sind empirisch ausgerichtet und untersuchen die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Differenzkategorien und arbeiten konkrete intersektionale Ungleichheitsstrukturen heraus. Intrakategoriale fokussieren Differenzen innerhalb einer Kategorie. Sie erhöhen die Binnenkomplexität kategorialer Entitäten und wirken so den vereinheitlichenden und homogenisierenden Effekten von Kategorien entgegen. Antikategoriale Ansätze schließlich begreifen Kategorien als herrschaftsförmige, normalisierend und reifizierend wirkende Konstrukte und zielen darauf ab, diese zu dekonstruieren und zu verflüssigen.

Vor dem Hintergrund dieser Systematisierung soll kurz auf ein grundsätzliches Problem hingewiesen werden. Nach Winker und Degele können sich die Kategorien „wechselseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern“ (Winker & Degele, 2009, S. 10). Von wechselseitiger Verstärkung oder Abschwächung zu reden bedeutet, dass die Kategorien selbst gleichsam unangetastet bleiben. Anders verhält es sich, wenn sich die Kategorien aufgrund ihrer Intersektionen verändern. Ein in der Literatur immer wieder auftauchendes – und auch in diesem Beitrag bereits mehrfach verwendetes – Bild für diese Veränderung ist das der „Verflüssigung“. Dabei ist jedoch nicht immer klar, ob die Kategorien trotz der Verflüssigung ihre Spezifität behalten (was allerdings nicht mit dem Bild der Verflüssigung vereinbar ist) oder ob sich ihr semantischer und begrifflicher Gehalt verändert. Diese Lesart hat den Vorzug, dass statisch konzipierte Differenzkategorien aufgeweicht oder dekonstruiert werden und die Annahme unterlaufen, ihnen lägen fixe Entitäten zugrunde. Darüber hinaus beugt diese Lesart der Gefahr vor, homogene Kollektive entlang einer Differenzkategorie zu konstruieren. Andererseits muss konstatiert werden: Da solche verflüssigenden Prozesse der Wechselwirkung zu einer „intersektionalen Anreicherung“ der einzelnen Kategorien führen, hat dies die Folge, dass sie mehr und anderes bedeuten als vorher. Anders gesagt: Die Verflüssigung der Kategorien kann nicht nur zu der erwünschten „Dekonstruktion“ von Kategorien führen, sondern zugleich auch – als quasi paradoxem Effekt – zu einem Verlust an analytischer Klarheit. Hieran anschließend käme es aufgrund der möglichen Konstellationen von Wechselwirkung zwischen einzelnen Kategorien (die beispielsweise induktiv aus einem spezifischen Forschungskontext zu gewinnen wären) zu einer drastischen Zunahme von neuen Kategorien, die die Aufgabe hätten, die jeweiligen Konstellationen und Wechselwirkungen terminologisch abzubilden. Sofern also die Analyse nicht nur klare und distinkte Begriffe voraussetzt, sondern auch zu begrifflich abgrenzbaren Befunden kommen soll, dürfte sich die Intersektionalitätsforschung nicht mit einer bloßen Verflüssigung zufriedengeben, sondern müsste auf eine quantitative Ausdifferenzierung sowie kontextabhängige qualitative Spezifizierung des Systems von Differenzkategorien hinarbeiten. Der Preis für diese Ausdifferenzierung und Spezifizierung wäre allerdings eine forschungsmethodisch extrem schwer handhabbare Komplexitätssteigerung.

Die Strategie der Verflüssigung und Auflösung von Kategorien birgt noch ein weiteres, bereits weiter oben benanntes Problem: die Infragestellung auch solcher Kategorien, die für die unter sie subsumierten Personen entweder identitätsstiftend sind oder als politisch notwendig betrachtet werden, um auf die Diskriminierung bestimmter Gruppen hinzuweisen und auf den Abbau entsprechender Ungleichheitslagen hinzuwirken. Pointiert formuliert: Selbst, wenn man ihre radikale Kritik an kontingenten Kategorien teilt, bergen insbesondere antikategoriale Ansätze die Gefahr, ihre analytische Schärfe und damit ihr Kritikpotenzial einzubüßen. Denn die Verständigung über veränderungsbedürftige Diskriminierungen und soziale Ungleichheitslagen kommt nicht ohne ein möglichst präzises Begriffsinstrumentarium aus, und zwar unabhängig davon, ob diese vorab festgelegt oder induktiv herausgearbeitet werden. Das bedeutet aber, dass auch antikategoriale Ansätze letztlich nicht ohne Kategorien auskommen.

5 Behinderung und Intersektionalität

Bisher spielt die Analysekategorie „Behinderung“ bzw. dis/ability in den Arbeiten zur Intersektionalität aus der Soziologie oder den gender studies bestenfalls eine untergeordnete Rolle (vgl. Naples et al., 2019). Demgegenüber ist die Intersektionalität in den Disability Studies ein gut etablierter Topos (vgl. Goodley, 2014, S. 35–49). Bereits vor der Etablierung der Intersektionalitätsforschung unter diesem Begriff hat es jedoch schon verschiedene Versuche gegeben, auf das Problem von Mehrfachbenachteiligungen und -diskriminierungen im Kontext von Behinderung aufmerksam zu machen (vgl. Ewinkel et al., 1985). Tatsächlich gibt es eine Reihe von Befunden, die eine intersektionale Perspektive im Kontext von Behinderung plausibel machen.

  1. 1.

    Es gibt eine auffällige Ungleichverteilung des Geschlechts von Kindern und Jugendlichen, die eine Förderschule besuchen. Im Schuljahr 2019/20 waren es 212.013 Jungen und 113.205 Mädchen (Statista, 2021). Besonders ausgeprägt ist die Ungleichverteilung in Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung (2013: 31.704 Jungen, 5.510 Mädchen: vgl. BMAS, 2013). Dabei ist jedoch zu beachten, dass eine einseitige Fokussierung auf das Geschlecht in diesem Zusammenhang ausblendet, dass bei Kindern und Jugendlichen, die diesem Förderschwerpunkt zugewiesen werden, eine Kumulation beeinträchtigender Lebensbedingungen vorliegt (vgl. Prengel, 2008). So zeigen beispielsweise Studien zu Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen, dass nicht Jungen im Allgemeinen in signifikant höherem Maße betroffen sind, sondern Jungen, die einen alleinerziehenden Elternteil mit niedriger beruflicher Qualifikation haben und deren Familie als ‚arm‘ eingestuft werden (vgl. Nagy, 2019, S. 42).

  2. 2.

    Obwohl Mädchen bzw. junge Frauen mit Behinderungen durchschnittlich bessere Bildungsabschlüsse erreichen als Jungen bzw. junge Männer mit Behinderung, werden sie nach der Schulzeit in höherem Maße benachteiligt als männliche Vergleichsgruppen. Das zeigt beispielsweise die Beteiligung an der Erwerbsarbeit. Lag die diesbezügliche Quote bei Menschen ohne Beeinträchtigungen (dies ist der Begriff, der im Bericht verwendet wird) im Jahr 2017 bei 81 %, lag sie bei Menschen mit Beeinträchtigungen bei 53 % (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2021, S. 226). Von den Männern mit Beeinträchtigungen waren 56 % erwerbstbeteiligt, von den Frauen hingegen nur 50 % (vgl. ebd., S. 228). Umgekehrt liegt der Anteil von Nichterwerbspersonen bei den Männern mit Beeinträchtigung bei 40 % (Männer ohne Beeinträchtigungen: 11 %), bei Frauen mit Beeinträchtigungen hingegen bei 47 % (Frauen ohne Beeinträchtigungen: 20 %). Wie der Bericht konstatiert, weisen Frauen mit Beeinträchtigungen „auch in weiteren Bereichen Nachteile auf, beispielsweise befinden sie sich häufiger in atypischen Beschäftigungsverhältnissen“ (ebd., S. 304). Insgesamt gelingt es Frauen mit Beeinträchtigungen seltener, „ihren Lebensunterhalt überwiegend aus dem eigenen Einkommen zu bestreiten“ (ebd.).

  3. 3.

    In der Sonderpädagogik ist der Zusammenhang von sozialer Herkunft (‚class‘), Bildungs(miss-)erfolgen und Beeinträchtigungen des Lernens schon ebenso lange bekannt, wie der daraus abgeleitete Befund, die Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen sei eine ‚Schule für Arme‘ (vgl. van Essen, 2013; Ellinger & Kleinhenz, 2021). Die empirische Bildungsforschung konnte auch zeigen, dass der Anteil insbesondere von männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Lernen und emotional-soziale Entwicklung auffällig hoch ist. Zumindest unter pädagogischen Praktiker*innen ist seit vielen Jahren bekannt, dass Kinder mit einer Behinderung aus Familien mit Migrationshintergrund häufig durch mehrfache und miteinander in Wechselwirkung stehende Problemlagen belastet sind (vgl. Westphal & Wansing, 2019).

Dies sind nur drei Beispiele für intersektionale Mehrfachbenachteiligungen im Kontext von Behinderung– es ließen sich zahlreiche andere hinzufügen. Ungeachtet dessen wird die Mehrdimensionalität der Entstehung von benachteiligenden bzw. behindernden Ungleichheitslagen bislang in vielen soziologischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Studien kaum berücksichtigt. Zu den ersten Versuchen, die Differenzkategorie Behinderung ausdrücklich in intersektionaler Perspektive zu untersuchen, gehören einige Veröffentlichungen von Ulrike Schildmann zum Verhältnis von Behinderung und Geschlecht bzw. Behinderung, Geschlecht und Alter (vgl. Schildmann, 2006, 2011; Schildmann & Schramme, 2017). Diese Studien machen ersichtlich, dass Menschen mit Behinderungen weder geschlechts- noch alterslos sind, unterschiedliche soziale Herkünfte und Bildungsgeschichten haben, in unterschiedlichem Maß über finanzielle Ressourcen für die Bewältigung und Gestaltung ihres Lebens verfügen und sich in ihren Lebenswelten mit sehr unterschiedlichen Barrieren konfrontiert sehen. Anhand dieser und weiterer intersektionaler Studien lässt sich zeigen, dass die Intersektionalitätsforschung im Kontext von Behinderung eine doppelte Chance bietet: Zum einen können bisher weitgehend isoliert wahrgenommene und bearbeitete Probleme theoretisch und forschungsmethodisch neu gerahmt werden; zum anderen eröffnet sie, je nach Lesart, die Möglichkeit, die Kategorie ‚Behinderung‘ selbst einer Kritik zu unterziehen und sie von ihrem individualisierenden und essenzialisierenden Ballast zu befreien. Gleichwohl steht der Diskurs über die Frage, ob Behinderung eine relevante und eigenständige Kategorie für die Intersektionalitätsforschung darstellt, noch am Anfang (vgl. Baldin, 2014; Wansing, 2014).

Zum Status der Kategorie ‚Behinderung‘ in der Intersektionalitätsforschung ist anzumerken, dass ein relationales Verständnis von Behinderung unabdingbare Voraussetzung für ihre Anschlussfähigkeit ist. Demnach ist Behinderung keine Bezeichnung für spezifische Störungen oder Beeinträchtigungen des Individuums, sondern ein von spezifischen historischen und gesellschaftlichen Strukturen, Wissensregimes und sozialen Praktiken abhängiger Sachverhalt (vgl. Dederich, 2009). Erst im Rahmen eines relationalen Behinderungsbegriffs wird ersichtlich, „dass Behinderung ohne den Einbezug von Ungleichheitsdimensionen wie Migration, soziales Milieu oder Geschlecht nicht adäquat erfasst werden kann“ (Walgenbach, 2016, S. 214).

Nun gibt es trotz der Anschlussfähigkeit des Behinderungsdiskurses an die Intersektionalitätsforschung auch eine Reihe von Problemen und ungeklärten Fragen, die nachfolgend kurz skizziert werden sollen:

  1. 1.

    Zunächst ist zu konstatieren, dass die Kategorie ‚Behinderung‘ nicht ohne weiteres der klassischen Trias ‚race‘, ‚class‘ und ‚gender‘ hinzugefügt werden kann, weil sie quer zu diesen liegt. So lässt sich anhand des Versuchs von Lutz und Wenning (2001), verschiedene Differenzlinien zu systematisieren, zeigen, dass Behinderung sowohl als körperbezogene Differenz (z. B. Geschlecht und Gesundheit) kategorisiert als auch, wie oben gezeigt, den ökonomischen (z. B. Armut) Differenzkategorien zugeordnet werden kann (vgl. Lindmeier, 2013, S. 120). Und so verwundert es nicht, dass divergierende Auffassungen darüber bestehen, „welche Differenzkategorien und -linien sich mit Behinderung ‚dynamisch überkreuzen‘“ (ebd.). Eine andere theoretische Option ist, die Kategorie ‚Behinderung‘ (gemeinsam mit der Kategorie ‚Alter‘) einer übergeordneten Kategorie ‚Körper‘ zuzuschlagen. In diese Richtung tendiert Anne Waldschmidt (2010). Sie zeigt, dass „die Differenzierungskategorie (Nicht-)Behinderung“ (ebd., S. 38) eine wichtige Dimension der Kategorie Körper darstellt. Diesen fasst sie als „das entscheidende Machtfeld […], auf dem die Kämpfe um soziale Teilhabe ausgetragen werden“ (ebd.). Gegen diese Position spricht allerdings folgende Überlegung: Der Begriff ‚Behinderung‘ ist eine abstrakte Generalisierung, die im Hinblick auf die Einschränkung von Teilhabe höchst verschiedenartige Phänomene zusammenfasst, etwa Störungen aus dem Autismusspektrum, sozial-emotionale Entwicklungsauffälligkeiten, kognitive Beeinträchtigungen, Beeinträchtigungen des Sehens und Hörens, Sprachstörungen oder Zerebralparesen. Einerseits nivelliert die Zusammenfassung dieser Vielfalt in der zwangsläufig homogenisierenden Kategorie ‚Behinderung‘ relevante intrakategoriale Differenzen, die jedoch zwingend berücksichtigt werden müssen. Andererseits zeigen diese intrakategorialen Differenzen, dass eine einfache Subsumierung von Behinderung unter die Kategorie ‚Körper‘ höchst problematisch ist: Nicht alle Beeinträchtigungen, die im Sinne des sozialen Modells zu Behinderungen werden können, sind einzig oder primär körperlicher Art. Wird die Kategorie „Körper“ in eine Reihe mit ‚class‘, ‚race‘ und ‚gender‘ gestellt, wird ein Registerwechsel vorgenommen, der zu begriffslogischen Inkonsistenzen führt, weil der Körper eher eine Querschnittskategorie ist (vgl. Schildmann, 2017, S. 193).

  2. 2.

    Eine weitere Herausforderung für die Intersektionalitätsforschung im Kontext von Behinderung sind interkategoriale Differenzen. Das zeigt Schildmann (2011) am Beispiel der Kategorien Geschlecht, Alter und Behinderung auf. Dabei macht sie deutlich, dass die Untersuchung von Wechselwirkungsprozessen mit anderen Differenzkategorien die jeweiligen Spezifika der Differenzkategorien berücksichtigen muss. So teilt die traditionell binär gedachte Kategorie Geschlecht die Gesellschaft in zwei etwa gleich große Gruppen ein. Demgegenüber wird die Kategorie Alter in mindestens drei, manchmal auch mehr Gruppen aufgeteilt, die in sich differenziert sein können, was aber wiederum von der jeweiligen Gesellschaft und Kultur abhängt. In Bezug auf die Kategorie Behinderung führt der 3. Teilhabebericht (2021) für das Jahr 2017 7,8 Mio. Menschen mit einer sozialrechtlich anerkannten Schwerbehinderung (Grad der Behinderung ab 50) auf. Hinzu kommen etwa 2,75 Mio. Menschen mit einer anerkannten Behinderung (Grad der Behinderung unter 50) sowie 2,53 Mio. chronisch kranke Menschen ohne anerkannte Behinderung. Das sind in der Summe über 13 Mio. Menschen bzw. etwa 15 % der Bevölkerung (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2021, S. 25 f.).

Diese Schwierigkeiten machen intersektionale Untersuchungen im Kontext von Behinderung nicht obsolet. Sie zeigen aber, dass solche Untersuchungen begrifflich und theoretisch sorgfältig fundiert und fortlaufend kritisch reflektiert werden müssen. Auch im Kontext der Intersektionalitätsforschung besteht die Gefahr, Behinderung als homogene und monolithische Kategorie zu verwenden und dadurch der Verdinglichung wieder in die Hände zu spielen.

6 Intersektionalität und Teilhabe

Wie eingangs bereits erwähnt wurde, ist bis heute das Verhältnis von Inklusion und Teilhabe weder begrifflich noch theoretisch geklärt. Dies zeigt sich deutlich im 3. Teilhabebericht der Bundesregierung (2021), in dem beide Begriffe mehr oder weniger synonym verwendet werden. Sofern es einen klar benennbaren Unterschied gibt, ist dieser in erster Linie an den beforschten Institutionen bzw. gesellschaftlichen Subsystemen festzumachen. Demnach fokussiert die Inklusionsforschung das Bildungssystem, während die Teilhabeforschung eher auf Themen wie Gesundheit, Ausbildung, Erwerbsarbeit, materielle Lebenssituation, alltägliche Lebensführung, Freizeit, Kultur usw. bezogen ist. Allerdings ist diese Differenzierung ihrerseits eher behelfsmäßig und nicht konsistent; beispielsweise gibt es in der Sozialen Arbeit Schriften, die sich an der Idee der Inklusion orientieren (vgl. Balz et al., 2012). Da ein Differenzierungsversuch den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, soll nachfolgend auf Literatur aus beiden Kontexten zurückgegriffen werden. Weil aber die Bezüge zur Intersektionalität in der Inklusionsforschung (vgl. Budde et al., 2020; Schildmann & Schramme, 2020) bereits deutlich konturierter herausgearbeitet wurden als in der Teilhabeforschung, wird nachfolgend hauptsächlich auf erstere Bezug genommen.

Auch wenn es vereinzelt Einzelstudien und Sammelbände gibt, die sich theoretisch oder empirisch mit spezifischen Problemstellungen befassen, die intersektional gerahmt werden (z. B. De Terra, 2018; Westphal & Wansing, 2019), muss insgesamt festgestellt werden, dass es bis heute in beiden Kontexten zwar ein grundsätzliches Verständnis für die Relevanz intersektionaler Forschung gibt, empirische Studien jedoch eher die Ausnahme bilden.

Eine bereits erwähnte Schnittstelle ist die in den 1990er Jahren einsetzende Thematisierung von Heterogenität, Differenz, Vielfalt usw. in inklusionspädagogischen Kontexten (vgl. Emmerich & Hormel, 2016). Affinitäten zwischen Inklusionsforschung bzw. inklusiver Pädagogik und Intersektionalität zeigen sich vor allem dort, wo Inklusionsforscher*innen eine de- bzw. antikategoriale Position einnehmen, d. h. kategorial verfasste, institutionell-organisatorische und disziplinäre Differenzsetzungen wegen ihrer diskriminierenden und benachteiligenden Effekte ablehnen. Darüber hinaus besteht eine normative, zugleich ethisch und politisch rekonstruierbare Affinität zwischen Teilen der Intersektionalitäts- und der Inklusionsforschung. In beiden Forschungszusammenhängen wird über die Analyse und Rekonstruktion von Ungleichheitslagen und daraus resultierender Benachteiligungssachverhalte hinausgehend das Ziel verfolgt, jegliche diskriminierende soziale Strukturen – und damit Rassismus, Sexismus, Ableismus, Homophobie usw., zu überwinden (vgl. Meyer 2017; Bittlingmayer & Sahrai, 2016). Letztlich geht es jeweils in normativer Hinsicht darum, sozial-strukturell bedingte Ausschlüsse zu vermeiden, Barrieren aller Art abzubauen und allen Menschen den Zugang zu den regulären gesellschaftlichen Institutionen sowie die Teilhabe an ihren wichtigen Gütern und Errungenschaften zu ermöglichen. Diese Kongruenz existiert jedoch nur, sofern die inklusive Pädagogik sich nicht darauf beschränkt, für eine Wertschätzung und Anerkennung von Heterogenität, Differenz und Vielfalt zu plädieren, sondern bereit ist, sich mit Prozessen der gesellschaftlichen Herstellung von Ungleichheit zu befassen und gleichzeitig zu reflektieren, inwieweit und auf welche Weise die Pädagogik selbst in diese Prozesse verwickelt ist.

Neben der soeben skizzierten Affinität gibt es aber auch einen gewichtigen Unterschied zumindest zwischen der antikategorial ausgerichteten Inklusionsforschung bzw. inklusiven Pädagogik und der Intersektionalitätsforschung. Sofern sich die Inklusionsforschung kritisch mit Prozessen der gesellschaftlichen Herstellung ungerechtfertigter und Benachteiligungen erzeugender Ungleichheiten befasst, bleibt sie zwingend darauf angewiesen, genau jene Kategorien zu verwenden, die sie eigentlich ablehnt. Denn die Analyse und Kritik von Ungleichheitslagen, Marginalisierungsprozessen und Benachteiligungen sowie die Ableitung sowohl pädagogischer als auch politischer Schlussfolgerungen ist zwingend auf Kategorien angewiesen, anhand derer akzentuiert werden kann, welche Gruppen aufgrund welcher ihnen zugeschriebener Merkmale durch wen und mit welchen Folgen benachteiligend und diskriminierend behandelt werden und eine inferiore Position zugewiesen bekommen. Bis heute ist es nicht gelungen, einen überzeugenden Vorschlag für den Umgang mit diesem Dilemma, geschweige denn für dessen Auflösung vorzulegen (vgl. Dederich, 2015).

Hier sei die Bemerkung angefügt, dass sich die Situation in den Disability Studies anders darstellt. Trotz aller Kritik an der Kategorie ‚Behinderung‘ gibt es zahlreiche Stimmen, die aus unterschiedlichen Gründen dafür plädieren, die Kategorie nicht fallen zu lassen (vgl. Goodley, 2014, S. 167 f.). Vielmehr geht es seit den Anfängen der Disability Studies darum, die Kategorie zu entindividualisieren und zu entpathologisieren und sie stattdessen konsequent relational, d. h. als historisch kontingente, gesellschaftliche und politische Kategorie zu begreifen, die unter Umständen auch eine identitätsbezogene Relevanz hat. Im Gegensatz zur antikategorialen Inklusionspädagogik verfügen die Intersektionalitätsforschung und die Disability Studies über die Möglichkeit, das Dilemma der Verwendung von Kategorien zwar nicht aufzuheben, aber theoretisch und reflexiv zu berücksichtigen, indem eine spannungsreiche doppelte Perspektive eingenommen wird: Dort, wo es notwendig ist, werden Kategorien verwendet; zugleich werden diese kategorienkritisch reflektiert. Dies bedingt einen nicht abschließbaren Prozess des Oszillierens zwischen der Verwendung komplexitätsreduzierender und begriffliche Eindeutigkeit schaffender kategorialer Bezeichnungen (die für deskriptive oder analytische Zwecke unverzichtbar sind) und einer entweder komplexitätssteigernden Verflüssigung oder dekonstruktiven Kritik der Kategorien.

Budde und Hummrich (2014) nennen einen solchen Zugang „reflexive Inklusion“, die als interdisziplinäre Aufgabe aller mit der Inklusion befassten Disziplinen und Professionen konzipiert wird und einer doppelten Optik folgt: sie zielt „sowohl auf das Wahrnehmen und Ernstnehmen von Differenzen und die Sichtbarmachung von darin eingeschriebener Benachteiligung, als auch auf den Verzicht auf Festschreibung und Verlängerung impliziter Normen durch deren Dekonstruktion“ (ebd., o.S.). Die Etablierung eines solchen Blicks auf die Inklusion würde aber eine Reihe von Veränderungen erforderlich machen. Erstens müsste daraufhin gewirkt werden, „dass überall dort keine Unterschiede gemacht werden und Ungleichheitskategorien dekonstruiert werden, wo dies möglich ist, damit der universalistische Geltungsanspruch von Schule und Bildung umgesetzt wird. Da dies ein Anspruch ist, der pädagogisches Handeln an seine Grenzen bringt, bedarf es zweitens der systematischen Fallarbeit, in welcher die exkludierenden Aspekte von Schule und Unterricht, bzw. von pädagogischem Handeln insgesamt, reflexiv zugänglich werden. Drittens ist ein spezifisches Wissen um pädagogische Diagnostik und die Bedeutungen von sozialen Ungleichheitskategorien wie Behinderungen, Gender, Ethnizität, Milieu usw. notwendig“ (ebd.).

Für diesen Prozess ist ein hohes Maß an machtkritischer Reflexivität erforderlich. Es muss im Bewusstsein der Forschenden bleiben, dass die Begriffe, die zur Untersuchung sozialer Wirklichkeiten herangezogen werden, keine ‚ontologischen‘ Entitäten bezeichnen, sondern an die Erfahrungswirklichkeit angelegte Kategorien sind, die trotz ihres ‚Konstruktionscharakters‘ zu einer bestimmten Zeit und innerhalb eines bestimmten Kontextes eine gewisse Geltung beanspruchen können, ohne deshalb außerhalb der Kritik zu stehen. Reflexivität bedeutet den Fokus darauf zu legen, wie Unterscheidungen hervorgebracht werden und welche machtförmigen epistemischen und sozialen Effekte sie produzieren.

7 Schlussbemerkung

Die Intersektionalitätsforschung hat trotz aller Anschlussprobleme (vgl. Budde, 2013) auch für die Inklusions- und Teilhabeforschung ein großes Potenzial, das allerdings bisher bestenfalls ansatzweise ausgeschöpft worden ist. Sie eröffnet beispielsweise die Möglichkeit, Untersuchungen im Schnittfeld von interkultureller Forschung, Gender Studies, der Rehabilitation bei chronischen Krankheiten und der Armutsforschung im Hinblick auf das Auftreten spezifischer prekärer Lebenslagen und reduzierter Teilhabechancen, die zu einem Leben am Rand der Gesellschaft zwingen, zu analysieren. Dabei stärkt die Intersektionalitätsforschung nicht nur das Bewusstsein für die Komplexität, Vielgestaltigkeit und Kontingenz von Differenz, sondern hat auch das Potenzial, im Rahmen einer machtkritischen Fundierung Diskriminierungsverhältnisse, in die die Teilhabeforschung ebenso verstrickt ist wie das System der Hilfen, aufzudecken und einen Beitrag zu deren Abbau zu leisten. Sie kann sich als weiterführender methodischer und theoretischer Zugang erweisen, ungerechtfertigte Ungleichheitsverhältnisse analytisch zu durchdringen und im Raum des Politischen gruppenspezifische Probleme, etwa die ungerechte Verteilung von Ressourcen oder Partizipationschancen, zu identifizieren. Eine solche analytische Klarheit ist, pädagogisch gesehen, Voraussetzung dafür, individuell passgenaue Unterstützungsangebote zu entwickeln und entsprechende Ressourcen bereitzustellen bzw. sich für deren Bereitstellung einzusetzen. Im Raum des Politischen kann die Intersektionalitätsforschung vertiefende Erkenntnisse über gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen gewinnen und diese für eine Politik der Antidiskriminierung fruchtbar machen.