Zusammenfassung
Brian Massumi hat den Affektbegriff in die von der postmodernen Theorie inspirierten Kultur- und Sozialwissenschaften maßgeblich eingeführt und populär gemacht hat. Er schreibt aber über Affekte, nicht Emotionen. Aus seiner Sicht wäre es deshalb erklärungsbedürftig, seine Arbeit als ein Hauptwerk der Emotionssoziologe einzuführen. Emotionen sind für ihn nur an wenigen Stellen seiner Arbeiten relevant und dienen ihm als zentrale Abgrenzungsfolie, um den eigenen Affektbegriff zu entwickeln. Das ausgewählte Buch ist ein theoretischer Steinbruch, es ist mit Ideen überfrachtet. Ich konzentriere mich im Folgenden darauf, seinen Affektbegriff verständlich zu machen und dessen Beziehung und Verhältnis zum Emotionsbegriff aufzuzeigen. Auf diese Weise erhält der Affektbegriff von Massumi einen Platz in der Emotionssoziologie.
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Notes
- 1.
Massumi entwickelt seine Theorie im Verlauf seiner Arbeiten weiter, dabei relativiert er die genannten Effekte von Affekten. Siehe hierzu auch die folgenden Ausführungen.
- 2.
Ich möchte nur eins der Experimente herausstellen, welches für Massumi exemplarisch ist und dessen Schlussfolgerungen so ähnlich auch in den anderen Experimenten zu finden sind. Im Medienexperiment von Sturm wurde neun Jahre alten Versuchsteilnehmer*innen drei verschiedene Versionen eines Films mit einem Mann und seinem Schneemann gezeigt. Der Mann baut im Film einen Schneemann auf seiner Dachterrasse, wo er in der Abendsonne zu schmelzen beginnt. Nachdem er sich das Schmelzen eine Zeitlang angesehen hat, bringt er den Schneemann auf einen Berg, auf dem kalte Temperaturen herrschen. Hier hört der Schneemann auf zu schmelzen. Daraufhin verabschiedet sich der Mann und verlässt den Schneemann. Sturm variiert den Film, erstens indem eine Stimme aus dem Off sachlich die Handlung wiedergibt und zweitens wird die gleiche Stimme aus dem Off durch Wörter ergänzt, die die emotionale Grundhaltung der Szenen wiederspiegeln. Nachdem die Versuchsteilnehmer*innen eine der Versionen gesehen haben, werden sie gefragt, woran sie sich erinnern können und wie angenehm sie den Film empfanden. Auffällig war für die Forscher*innen und ist für Massumi, dass die Kinder diejenigen Szenen am angenehmsten fanden, die sie gleichzeitig als traurigste einordneten; die größte körperliche Erregung ging von der sachlichen Version aus und nicht von dem Film mit der emotionalen Stimme; die sachliche Version wurde gleichzeitig als unangenehmste eingeordnet und an diese konnten sich die Kinder auch am schlechtesten erinnern. Am angenehmsten wurde der ursprüngliche und wortlose Film empfunden, am besten erinnerten sich die Kinder an den Film mit der emotionalen Begleitstimme und den größten Effekt auf ihrer Haut hatte die ursprüngliche Version. Für Massumi sind die Kinder im Experiment »physiologically split« (Massumi 2002: 24), weil die Sachlichkeit ihr Herz schneller schlagen lässt, ihre Atmung intensiviert und der Widerstand ihrer Haut fallen lässt. Daraus schließt Massumi auf eine »autonomic reaction« (ebd.) der Haut. Massumi zeigt anhand dieses Experiments, dass Sturm entgegen ihrer eigenen Intention weniger kognitive Prozesse, sondern intensive oder affektive untersucht hat. Affekte führen zu den beschriebenen Wirkungen und erhalten von Massumi eine Autonomie und Produktivität, weil sie eigenständig die Effekte in den Kindern auslösen, die nicht logisch hergeleitet werden können. Massumi kommt zu dem Schluss der »primacy of the affective in image perception« (ebd.). Dieses Primat zeigt sich im »gap between content and effect« (ebd.). Die körperlichen Effekte der Bilder sind nicht direkt logisch und zwingend verbunden mit dem Inhalt der Bilder, der diese in einen bedeutungsvollen und intersubjektiven Zusammenhang bringt. Die inhaltliche Bedeutung der Bilder fixiert und beschränkt vielmehr ihre affektive Intensität. Anhand dieses Experiments plausibilisiert Massumi die Unterscheidung zwischen einer Dimension der Qualifikation und einer der Intensität. Diese Unterscheidung ist eine ontologische: Die Qualität und Qualifikation wird von Massumi mit der Aktualität von Emotionen und die Intensität mit dem Virtuellen und Affekten verbunden. Beide Dimensionen sind verkörpert, wobei der Intensität eine besondere Bedeutung zukommt: »Intensity is embodied in purely automatic reactions most directly manifested in the skin […]. […] Intensity is […] a nonconscious, never-to-be-conscious automatic remainder. It is outside expectation and adaptation, as disconnected from meaningful sequencing, from narration, as it is from vital function.« (ebd.: 25).
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Peters, C.H. (2022). Brian Massumi: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation. In: Senge, K., Schützeichel, R., Zink, V. (eds) Schlüsselwerke der Emotionssoziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37869-1_41
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