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Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis

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Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung

Zusammenfassung

Armut ist eine relative, in den jeweiligen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontext eingebettete Größe. Im abendländischen Kulturkreis, dessen Einheit im Christentum wurzelte, war Armut allgegenwärtig und eine ständige Bedrohung. Armut trat in der Geschichte des Abendlandes unterschiedlich in Erscheinung. Dies zeigt sich terminologisch darin, dass die Begriffe pauper und paupertas (arm, Armut) verschiedene Bedeutungen gewannen: Stand seit dem 6. Jahrhundert zunächst die fehlende Teilhabe an der gesellschaftlichen Macht im Vordergrund, so bildete seit der Jahrtausendwende die ökonomische Not den Kern dessen, was durch den Begriff Armut bezeichnet wurde. „Arm“ konnte sich in der mittelalterlichen Gesellschaft sowohl auf fehlende Ressourcen für ein angemessenes ständisches Leben beziehen als auch auf Gruppen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst sichern konnten. Freiwillige und unfreiwillige Armut wurden unterschieden. In der abendländischen Geschichte der Armut lassen sich Wendepunkte grob markieren: Bis ca. 1100 dominierte ein in der Feudalordnung verankertes Verständnis von Armut im Sinne der Abhängigkeit der „Armen“ von den potentes. Mit dem Wiedererstehen der Stadtkultur und dem Vordringen der Geldwirtschaft in Mittel- und Westeuropa seit dem 11. Jahrhundert entstand die neue Armut der Lohnarbeiter. Zugleich radikalisierten die Armutsbewegungen die Orientierung am armen Leben Jesu. Nach der Schwarzen Pest (1348) setzte eine zunehmende Marginalisierung der „unwürdigen“ Armen ein. Die Unterstützung der „wirklichen“ Armen war im Abendland unbestritten; die „unwürdigen“ hingegen wurden seit dem späten Mittelalter immer stärker kriminalisiert und einer repressiven Sozialdisziplinierung unterworfen, bis um 1800 die gesellschaftliche „Nützlichkeit“ der Armen entdeckt wurde. In den gesellschaftlichen Entwicklungen traten Deutungsmuster zutage, die von dem Armen als Objekt der Caritas und Bruder Christi über die moralische Disqualifizierung des Armen bis hin zu dessen Dämonisierung reichten. Dem breiten Spektrum von sozialen Haltungen entsprach eine große Bandbreite von Bewältigungsstrategien der Armen – von der Selbsthilfe über Migration, Kriminalität und Vagabundentum bis hin zu Revolten. Während bei den Zeitgenossen religiöse und moralische Erklärungen der Armut dominierten, hat die historische Forschung das Spannungsverhältnis von Bevölkerungswachstum und Nahrungsspielraum als maßgeblich für die Massenarmut im vorindustriellen Europa herausgearbeitet und Krisen „alten Typs“ (Missernten etc.) für die kurzfristigen Verschärfungen der Lebensbedingungen namhaft gemacht.

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Notes

  1. 1.

    In Kapitel IX der Regula non bullata heißt es: „Alle Brüder sollen bestrebt sein, der Demut und Armut unseres Herrn Jesus Christus zu folgen“. Und sie sollen beherzigen, dass wir von der ganzen Welt nichts anderes nötig haben als, wie der Apostel sagt, Nahrung und Kleidung; [das soll uns genügen]. Und sie müssen sich freuen, wenn sie sich unter unbedeutenden und verachteten Leuten aufhalten, unter Armen und Schwachen, Kranken und Aussätzigen und Bettlern am Wege. (zit. n. Schäfer und Maaser 2020, S. 368).

  2. 2.

    Dies gilt z. B. für Brants „Narrenschiff“ (1494), Bebels „Triumphus Veneris“ (1501), das „Liber vagatorum“ (1510) und Murners „Narrenbeschwörung“ (1512).

  3. 3.

    Besonders schwer waren die Hungerkrisen in den Jahren 1527–34, 1570–74, 1594–97, 1624–25, 1659–62, 1691–93, 1696–99, 1708–12, 1739–41, 1770–74, 1800–1001, 1816–17, 1830–31, 1846–47; vgl. Rheinheimer (2000), S. 22.

  4. 4.

    Die württembergische Gemeinde/Filder bezahlte z. B. noch 1854 „einer Zahl armer und auch sittlich heruntergekommener Familien“ auf Gemeindekosten die Überfahrt nach Amerika. Die Kosten für die Schiffspassage waren immer noch niedriger als ein jahrelanger Unterhalt. Zit. n. Widmer (2004), S. 135.

  5. 5.

    „Iustitia exhibit alteri quod est eius, liberalitas autem exhibit id quod est suum“.

  6. 6.

    Luther hat das Liber vagatorum unter dem Titel „Von der falschen Bettler buberey“ 1528 neu herausgegeben und mit einer Vorrede versehen, damit man möglichst überall begreife, „wie der teuffel so gewaltig ynn der welt regiere“. Luther beklagt, dass die Opfer des Bettelunwesens in erster Linie die „rechten armen“ seien, denen durch Almosen für die „verlauffenen, verzweiffelten buben“ die nötige Unterstützung entzogen werde (WA XXVI, 639).

  7. 7.

    Das Ausmaß der Not im Deutschland des Vormärz wird durch folgende Angaben deutlich: In Preußen zählten 1846 45 Prozent der Männer über 14 Jahren zu den abhängigen Handarbeitern, von denen die Mehrheit arm und ungesichert lebte; 10–15 Prozent waren „proletaroide Grenzexistenzen“. 50–60 Prozent der preußischen Bevölkerung lebten knapp, ja dürftig, in Krisenzeiten elend und gefährdet. In Solingen und Pforzheim waren zwei Drittel der ungelernten Tagelöhner, aber auch der gelernten Arbeiter und Handwerker arbeitslos. In Berlin zahlten nur noch 5 Prozent Steuern. Die Zahl der Armen, die für ihren Unterhalt nicht mehr aufkommen konnten, wuchs in den 1840er-Jahren in Hamburg auf 10–12 Prozent, in Köln auf 25 Prozent und in bayerischen Städten auf bis zu 33 Prozent. Nur für etwa 80 Prozent des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials (ca. 45 Prozent der Bevölkerung) waren Stellen vorhanden (vgl. Nipperdey 1985, S. 221).

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Schäfer, G. (2023). Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis. In: Huster, EU., Boeckh, J. (eds) Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37808-0_3-1

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